„Auf trockenen Gräsern“ von Nuri Bilge Ceylan läuft im Kino.

Nicht schon wieder ein Junge mit einem Esel, denken sich die Schulkinder in einer Klasse im Osten der Türkei. Der Lehrer hat ein Foto an die Tafel geheftet, eine Vorlage, nach der sie nun etwas zeichnen sollen. Sie würden lieber etwas anderes probieren, etwas, das nicht so direkt aus ihrer Lebensumgebung stammt. Das Meer zum Beispiel „Wie viele haben das Meer schon gesehen?“, will der Lehrer wissen. Einige Hände gehen in die Höhe, es erweist sich aber, dass bei nicht wenigen die Anschauung über das Fernsehen nicht hinausgeht. Ein Mädchen immerhin hat einmal Verwandte in Izmir besucht. Da gab es dann auch tatsächlich das Meer zu sehen. Wie heißt das Meer? Das Ägäische Meer. Ägäis, Atlantik oder Pazifik – es scheint, als wären sie alle unendlich weit weg von dem Dorf, in dem der Film „Auf trockenen Gräsern“ von Nuri Bilge Ceylan spielt. Ein Dorf im Hinterland, in einer Gegend, in der es nur zwei Jahreszeiten gibt: Winter und Sommer. Für grünes Gras ist kaum einmal Zeit, entweder ist es niedergedrückt unter Schneemassen, oder es ist schon verdorrt. Die Geschichte beginnt damit, dass Samet, der Kunstlehrer, nach den Ferien an seinen Dienstort zurückkehrt. Er stapft durch eine verschneite Landschaft, der Wind bläst ihm ins Gesicht. Freiwillig hätte er sich wohl nicht zum Dienst in dieser Gegend gemeldet. Aber das sind nun einmal die Vorschriften. Wer eine schöne Stelle in Istanbul möchte, muss vorher einen Umweg durch die Provinz nehmen. Samet teilt sich eine Wohnung mit seinem Kollegen Kenan, einem einfachen jungen Mann, der als Hirte gearbeitet hat, bevor er die Ausbildung zum Schuldienst absolvierte. Kenan sollte längst verheiratet sein, finden seine Eltern, die wir nie zu sehen bekommen, die aber im Hintergrund immer präsent sind – als Vertreter einer Ordnung, die auf nichts Anderes hinausläuft als auf Fortbestand in traditionellen Bahnen. Samet und Kenan sind keine Intellektuellen, aber sie haben doch einen Beruf, der ihnen ein Minimum an Distanz zum Gewohnten vermittelt. In diesem Minimum, in den Nuancen einer Spannung, in die er das Selbstverständliche versetzt, ist das Kino von Nuri Bilge Ceylan zu Hause. Es war einmal in Anatolien Der 65-Jährige hat im Weltkino einen vergleichbaren Rang, wie ihn Orhan Pamuk in der Weltliteratur hat. Gäbe es einen Nobelpreis für Filme, Ceylan wäre unzweifelhaft ein Kandidat. Sein Gegenstand ist die Türkei insgesamt, das heißt ein Land, das schon aufgrund seiner Geographie eine Herausforderung für einen Erzähler darstellt. „Once Upon a Time in Anatolia“ heißt einer seiner wichtigsten Filme, der Titel deutet an, was Ceylan jeweils im Sinn hat: ein Epos, das seine großen Bögen aus winzigen Details baut. „Auf trockenen Gräsern“ hat auf den ersten Blick manches gemeinsam mit „Das Lehrerzimmer“, dem deutschen Film von İlker Çatak, der es kürzlich bis in die Oscar-Konkurrenz schaffte. In beiden Fällen geht es um einen Vorfall an einer Schule, um Konflikte in einem Kollegium von Lehrkräften, um ein Gesellschaftsbild, das sich aus der Beobachtung eines Orts ergibt. Dass es Ceylan noch um einiges mehr geht, hat auch mit den großen Ungleichzeitigkeiten zu tun, von denen die Türkei geprägt ist: Die jungen Lehrer stehen jeweils mit einem Bein in der Welt des Herkommens und mit dem anderen in einer Zukunft, von der sie selbst manchmal überfordert scheinen. Samet hat in seiner Klasse eine Favoritin. Sie heißt Sevim, sie ist noch ein halbes Kind, trägt aber schon ab und zu Lippenstift. Ihr Umgang mit dem Lehrer ist unbefangen, es gibt auch Berührungen, nichts Schlimmes, aber doch eine kleine Überschreitung. Sevim schwärmt für den Lehrer, der Lehrer ist einsam genug, um die eine oder andere Zweideutigkeit in diesem Verhältnis zuzulassen. Bei ihm steht ohnehin alles unter Vorbehalt: Ich bin doch bald weg hier. Die Versetzung nach Istanbul hat er längst beantragt. So nimmt er auch nicht besonders ernst, was er erlebt, als er Nuray kennenlernt, eine junge Kollegin aus der nächstgrößeren Stadt. Sie hat bei einem terroristischen Anschlag ein Bein verloren, aber das ist nicht der Grund, warum Samet sich nicht weiter für Nuray zu interessieren scheint. Bloß weg aus der Provinz Er bleibt die ganze Zeit ein Mann ohne Eigenschaften, nicht durchschaubar auch für sich selbst, mit einem leichten Hang zur Provokation. Er stellt Nuray auch Kenan vor, für eine Weile unternehmen sie viel zu dritt, dann entsteht doch noch so etwas wie eine romantische Rivalität zwischen den beiden Männern. Währenddessen gibt es an der Schule eine Skandal. Ein Liebesbrief von Sevim wird gefunden, sie erhebt plötzlich Vorwürfe gegen Samet. Ein Disziplinarverfahren steht im Raum. „Auf trockenen Gräsern“ ist in erster Linie ein Dialogdrama. Fast alles äußert sich in gesprochener Sprache, allerdings weiß Ceylan, dass es im Alltag selten darum geht, etwas direkt und unmittelbar zu äußern. Menschen sprechen verschlüsselt miteinander, sie versuchen, Dinge gleichzeitig zu erkennen zu geben und zu verheimlichen, auch vor sich selbst. Sie nehmen Umwege bei ihren Mitteilungen, sie verfehlen einander und finden auf komplizierte Weise zusammen. Ceylan folgt diesen Umwegen mit einer Geduld und einer Präzision, die seinen Filmen manchmal etwas Meditatives, manchmal aber auch etwas Waghalsiges gibt. In „Der wilde Birnbaum“ (2018) ging es um einen jungen Mann namens Sinan, auch er ein Lehrer, er träumt davon, Schriftsteller zu werden. Als er in seiner Heimatstadt einmal einen Bekannten trifft, einen frommen Mann, macht Ceylan daraus eine lange, peripatetische Einstellung: ein Gang, auf dem unentwegt gesprochen wird, während sich mit jeder Hausecke die Umgebung verändert. Deutlicher noch als in „Auf trockenen Gräsern“ wurde eine gesellschaftliche Situation, in der Freiheiten gerade wieder verloren gehen. Einer jungen Frau, die Sinan einst geliebt hatte, blieb nichts anderes übrig, als sich in eine Zweckehe zu fügen. Nach wie vor ist Heirat die einzige Form, gesellschaftlich Boden unter den Füßen zu bekommen. Alles andere ist de facto Dissidenz, nur Istanbul bleibt als noch als Chiffre für eine Unabhängigkeit, die Samet vielleicht anstrebt. Sein schwieriger Charakter könnte auch damit zu tun haben, dass es für diesen Lebensentwurf kaum Rollenmodelle gibt. Ursprünglichkeit jenseits der Metropole Die Filme von Ceylan bieten da auch nichts an. Sie sind viel zu reflektiert, um sich einfach der Urbanität, gar dem Hedonismus zuzuwenden. Gerade in „Auf trockenen Gräsern“ geht es auch deutlich um nationale Mythologie, also um Ursprünglichkeit jenseits der Metropole. Der Ararat, der majestätische Berg an der Grenze zu Armenien, ist wie ein Anhaltspunkt immer wieder im Hintergrund zu sehen. Samet und Kenan haben ein gemeinsames Ritual, sie steigen dann zu einer Gebirgsquelle hinauf, aus der sie besonders reines Wasser bekommen. Die Naturnähe wiegt aber nicht auf, dass das Dorf, in dem sie leben, von der Welt vergessen zu sein scheint. In dieser Abgeschiedenheit haben die mittelmäßigen Kollegen im Lehrkörper ein Regime errichtet, in dem es vor allem um die Kontrolle der ersten Regungen der Pubertät geht. Ein Feuerzeug (für die erste Zigarette?), ein Kosmetikspiegel, das wird alles einkassiert. Ceylan riskiert zum Ende hin einiges, wenn er Samets Blick auf Sevim noch einmal deutlich überhöht. Das Mädchen ist nun nicht weniger als das Bild der Nation – und einer Jugendlichkeit, die der Lehrer bei sich gerade schwinden sieht. Immer wieder hat Ceylan sich selbst in seinen Erzählungen gespiegelt, oft in Person von Fotografen. Samet hält auch die Welt seiner vorübergehenden Verpflichtung mit der Kamera fast, er ist ein objektiver Zeuge, der mit seiner subjektiven Perspektive aber ein zwiespältiger Erzähler bleibt. Man könnte aus dieser Gegend andere, gruppenspezifischere Dinge erzählen, von Kurden oder Aleviten – oder vom Terror, den der Staat im Osten an vielen Orten ausübt. Nuri Bilge Ceylan aber ist an einem Bild der Türkei gelegen, in dem sich das ganze Land in seiner historischen wie geographischen wie institutionellen Erstreckung erkennen könnte. Dieses Bild aber ist gebrochen durch die unklare Rolle, die jemand wie Samet einnimmt. In „Auf trockenen Gräsern“ findet man nicht leicht eine positive Identifikationsfigur, am ehesten noch in Nuray, aber sie steht auch der Tragik am nächsten, als Frau, als Terroropfer. Der Film endet mit einem Besuch an einem lokalen Erinnerungsort. Alte Säulen zeugen von einer Kultur, die untergegangen ist, über die trockenes Gras gewachsen ist. Das Werk von Ceylan kann man schon jetzt sehen wie eine solche Ruinenanlage: Zeugnisse, die aus einer Gegenwart herausragen, die ihre Versprechen nicht wird halten können.