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"Reparatur muss schnell gehen" Der Ukraine drohen Wochen ohne Wasser und Strom

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Ein Feuerwehrmann im Oblast Charkiw löscht den Brand nach einem Luftangriff der russischen Armee auf Infrastruktur.

Ein Feuerwehrmann im Oblast Charkiw löscht den Brand nach einem Luftangriff der russischen Armee auf Infrastruktur.

(Foto: IMAGO/ABACAPRESS)

Schon viel früher als zu Beginn des Krieges hat Russland in diesem Jahr das ukrainische Stromnetz ins Visier genommen. Experten befürchten, dass diesmal auch die Infrastruktur für Atomkraftwerke angegriffen werden könnte.

Es ist Ende März, die Ukraine hat den Winter 2024 gerade überstanden, da beginnt die russische Armee bereits mit einer zweiten, großangelegten Angriffswelle gegen die kritische Energieinfrastruktur im Land. Massive Stromausfälle fordern die Bevölkerung nicht erst mit Beginn des nächsten Winters heraus, sondern bereits bei den heißen Temperaturen des Sommers.

Die Bewohner der Hauptstadt Kiew etwa leben in einem Modus, in dem auf sieben Stunden ohne Strom zwei Stunden mit Strom folgen. Zuletzt, bei kühleren Temperaturen im Frühherbst, können ukrainische Haushalte erstmals ohne Ausfälle leben. Doch nun beginnt im seit 2022 andauernden Kampf gegen die russische Invasion langsam zum dritten Mal die Heizsaison. Sorgen wachsen vor dem kommenden Winter, der höchstwahrscheinlich schwierig wird.

Russland will die Bevölkerung erschöpfen

"Das Tempo, in dem wir beschädigte Energieobjekte repariert haben, war zuletzt deutlich schneller als man es beispielsweise im August voraussagen konnte", betont zwar Oleksandr Chartschenko, Direktor des Zentrums für Energiestudien in Kiew. "Wenn wir davon ausgehen, dass die Temperaturen durchschnittlich bei rund null Grad bis zu minus fünf Grad liegen und weitere Angriffe ausbleiben, könnte es sein, dass die Ausfälle minimal sein werden", sagte er dem ukrainischen Radio NV.

Nur: Russland setzt im langen Zermürbungskrieg gegen die Ukraine ganz prominent auf die Erschöpfung der Bevölkerung. Dass man plötzlich auf den Beschuss der Energieinfrastruktur verzichtet, ist unwahrscheinlich bis ausgeschlossen. Vielmehr ist zu befürchten, was ranghohe ukrainische Offizielle bereits andeuten: Russland könnte die mit ukrainischen Atomkraftwerken verbundenen Objekte ins Visier nehmen.

Vor rund einem Monat warnte Andrij Sybiha, der neue ukrainische Außenminister, bereits vor dieser Gefahr. Bei seiner US-Reise Ende September betonte sie auch Präsident Wolodymyr Selenskyj. Unter Bezugnahme auf Geheimdienstinformationen berichtete er, Russland bestelle für die Durchführung solcher Angriffe chinesische Satellitenbilder.

Dabei dürfte es dem Kreml darum gehen, Atomkraftwerke selbst zu zerstören, was allerdings nach Meinung ukrainischer Experten kaum geht. Die Fachleute sind sich einig: Die AKWs sind sicher gebaut worden. Russland könnte aber gezielt Umspannwerke und Transformatoren der Atomkraftwerke angreifen, damit der Strom beim Endkunden nicht ankommt. Auch müssten die Kraftwerke selbst dann zeitweise stillgelegt werden. Diese Taktik setzte Russland vereinzelt bereits bei der Beschusswelle im ersten Winter des Krieges ein.

Der Schaden für Stromerzeugung wird groß sein

Der Sinn dahinter ist klar. Obwohl das größte ukrainische Atomkraftwerk, das AKW Saporischschja, seit Kriegsausbruch unter russischer Besatzung ist und die Ukraine nicht mehr mit Strom versorgt, produzieren die anderen drei Atomkraftwerke immerhin den Großteil der ukrainischen Elektrizität. Bei den Angriffen ab Ende März 2024 konzentrierte sich Russland dagegen darauf, mit teuersten Raketen in seinem Arsenal gezielt und nachhaltig Gas-, Kohle- und Wasserkraftwerke zu zerstören.

Obwohl Experten wie Chartschenko von überraschend erfolgreichen Reparaturen sprechen, ist davon auszugehen, dass der Schaden für die nichtnukleare Stromerzeugung groß ist. "Außerdem muss man verstehen, dass diese Reparatur nicht besonders zuverlässig ist", sagt er. "Das Tempo ist extrem schnell, es muss sehr viel gearbeitet werden - und gerade bei Kohlekraftwerken ist die Ausrüstung sehr alt." Es gehe nicht nur darum, dass sie beschädigt ist: "Das Problem ist auch, dass seit ihrer Entstehung 50 Jahre vergangen sind."

Im Klartext heißt dies: Die Ukraine wird im Winter vor allem auf die Atomenergie angewiesen sein. Während die Angriffe auf die Infrastruktur der Atomkraftwerke im Winter 2022/2023 nur punktuell erfolgten und mit Stromausfällen von maximal 72 Stunden zu keinem apokalyptischen Blackout führten, könnte es diesmal anders aussehen.

"Sollten die Angriffe erfolgreich sein, wird es für uns sehr schwer sein", lautet Chartschenkos Einschätzung. "Selbst wenn nur eines der drei Kernkraftwerke vom Netz abgeschaltet werden muss, bedeutet es, dass wir zwei bis vier Wochen mindestens 16 Stunden am Tag keinen Strom haben werden." Dafür müssen aber die Angriffe explizit gegen Transformatoren und Umspannwerke der AKWs deutlich größer angelegt werden als Ende 2022.

Der Ukraine drohen Wochen ohne Wasser und Strom

"Weil drei Atomkraftwerke rund 70 Prozent des ukrainischen Stroms produzieren, wird sich selbst ein zeitlich begrenzter Ausfall eines Kernkraftwerks kritisch auf die Arbeit des gesamten Energiesystems auswirken", betont auch Swjatoslaw Pawljuk, Direktor des Verbandes der energieeffizienten Städte der Ukraine.

Pawljuk geht davon aus, dass das Defizit im ukrainischen Stromsystem bei mindestens 4,5 Gigawatt liegen wird. Wie groß der Einfluss dieses Defizits auf private Haushalte sein wird, hänge stark von den Temperaturen ab. Klar ist: Lange Wochen ohne oder fast ohne Strom, Heizung und Leitungswasser sind für die Ukrainer eine realistische Bedrohung.

Inwieweit sich dies auf die Stimmung im Land auswirkt, ist eine offene Frage. Bei der ersten Beschusswelle im Winter 2022/2023 haben die Angriffe eher das Gegenteil von dem bewirkt, was Russland vermutlich erreichen wollte. Sie sorgten für ein stärkeres Gefühl des Zusammenhalts. Eine bedeutende Fluchtwelle blieb ebenfalls aus.

Allerdings befanden sich die Ukrainer damals nach der Befreiung der Region Charkiw und der Stadt Cherson im patriotischen Aufschwung, während Russland diesmal seit einem Jahr langsam aber sicher in der Region Donezk vorankommt. Den Ukrainern ist bewusst, was auf sie im Winter möglicherweise zukommt - und sie sind etwa mit Generatoren, Kerzen und Powerbanks längst gut versorgt.

Quelle: ntv.de

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