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«Marsch der Rückkehr»: Wie die Hamas eine junge Aktivistenbewegung in Gaza zerstörte | NZZ
Eine palästinensische Demonstrantin versucht sich an der Grenze zu Israel mit einem Plasticsack gegen Tränengas zu schützen. (Bild: Reuters/Mohammed Salem)

Eine palästinensische Demonstrantin versucht sich an der Grenze zu Israel mit einem Plasticsack gegen Tränengas zu schützen. (Bild: Reuters/Mohammed Salem)

«Marsch der Rückkehr»: Wie die Hamas eine junge Aktivistenbewegung in Gaza zerstörte

Hinter dem «Marsch der Rückkehr» stecken junge Palästinenser, die die etablierte Politik kritisieren. Doch die Hamas hat die Bewegung längst annektiert. Das hat sie zerstört.

Ulrich Schmid, Beit Hanun
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Mohammed Abu Amasha wollte einmal sehen, was «diese Jungen» da so tun. Deshalb begab sich der 33-jährige Mittelschullehrer am 8. Juni ins Abu-Safia-Camp nahe der Stadt Beit Hanun, in dem sich viele Teilnehmer am «Marsch der Rückkehr» aufhalten. Er redete mit den Demonstranten, ass etwas, und dann, als er herabspazierte zum Sandwall rund 300 Meter vom Grenzzaun entfernt, durchfuhr plötzlich ein unfassbarer Schmerz seinen Körper, und er fiel in den Staub. Die Kugel eines israelischen Scharfschützen hatte sein linkes Bein getroffen. Nun liegt er im Indonesischen Spital in Jabaliya und hofft, dass er sein Bein behalten kann.

«Geht nicht zum Zaun»

Mohammed Abu Amasha hofft, dass er sein Bein behalten kann (Bild: Ulrich Schmid)

Mohammed Abu Amasha hofft, dass er sein Bein behalten kann (Bild: Ulrich Schmid)

Es wird viel von Hoffnung und Barmherzigkeit gesprochen an diesem schwülen Morgen in Jabaliya, und mehr als einmal, Inschallah, wird Gottes Beistand erfleht. Aber es sieht nicht gut aus für Mohammed. An sich hatten die Ärzte ihm das Bein sofort unter dem Knie amputieren wollen. Doch dann wurden etwas intaktes Gewebe und etwas Blutzirkulation festgestellt, und so ist der Unterschenkel noch da, eingeschraubt in ein Gefüge von Stangen und Schrauben. Man wartet ab. Aber allzu lange wird man nicht warten können. Sehr viel Gewebe sei zerstört, sagt der Arzt, es bestehe die Gefahr einer Infektion. Er blickt ernst und meidet die Blicke Mohammeds und seines Bruders Ayman, der ihn heute besuchen kam. Es ist, als würden dem kleinen Raum plötzlich Luft und Licht entzogen.

Mohammed hat Schmerzmittel erhalten. Er spricht schleppend, aber er will reden und antworten. Nein, er trug keine Waffe. Er trug gar nichts, er stellt für niemanden eine Bedrohung dar, am allerwenigsten für die israelischen Sniper in ihren Hochsitzen mit den schmalen Schiessscharten. Er ist kein Aktivist, er hatte an keinem Marsch teilgenommen. Er wollte einfach sehen, was diese Kids, von denen man so viel hörte und las, so taten. Mohammed Abu Amasha ist ein sanfter Mann. Er ist verheiratet, hat eine vierjährige Tochter, die Familie unterstützt ihn. Das ist bitter nötig, denn bereits erhält er keinen Lohn mehr, und an Dinge wie Invalidenrente denkt man nicht in Gaza. Was würde er den Jungen in den Camps nahe der Grenze sagen? «Geht nicht in die Nähe des Zauns. Die Israeli sind Monster. Sie schiessen auf alles.»

Gazastreifen

Sonderbare «Gewaltlosigkeit»

Der Arzt hat sich nicht zu dem Geschoss geäussert, das Mohammeds Bein zerschmetterte. Aber in ganz Gaza wird immer wieder behauptet, die Israeli verwendeten explodierende Munition oder gar Dumdumgeschosse, die sich beim Aufprall aufspalten und fürchterliche Verletzungen bewirken. Die israelische Armee stellt dazu kategorisch fest, man verwende ausschliesslich Waffen und Munition, die das internationale Kriegsgesetz erlaube. Dumdumgeschosse sind in den Haager Konventionen verboten worden. Vorwürfe, die Israeli verwendeten solche Geschosse, tauchen seit Jahren regelmässig auf. Schlüssig belegt worden sind sie nie, auch der Korrespondent hat in Gaza nichts Derartiges zu Gesicht bekommen. Erklären lassen sich die horrenden Verletzungen durch die spezielle Hochgeschwindigkeitsmunition der Scharfschützen.

Wandmalerei in Gaza-Stadt. (Bild: Ulrich Schmid)

Wandmalerei in Gaza-Stadt. (Bild: Ulrich Schmid)

Im Abu-Safia-Camp, in dem sich Mohammed Abu Amasha umsehen wollte, treffen wir den harten Kern des «Marsches der Rückkehr», junge, oft noch halbwüchsige Aktivisten, die seit Wochen hier zelten, im Angesicht des Grenzzauns, der israelischen Soldaten und der Hochsitze mit ihren Snipern. Einer von ihnen ist Nur Abu Jazer, 20 Jahre alt. Er klaut den Israeli nächtens den Stacheldraht vom Grenzzaun weg. Abu Islam, 22, ist verantwortlich für die Drachen und die heliumgefüllten Kondom-Ballons, an die Brennmaterialien gebunden werden in der Hoffnung, die Felder der jüdischen Bauern von Sderot in Brand zu setzen. Mahmud al-Taramsi überquert regelmässig die Grenze, «um die Israeli zu ärgern». Es liegt ein Hauch von Paramilitärischem in der Luft, in den sich ab und zu eine wilde, eruptive, sehr juvenile Fröhlichkeit mischt. Fast alle der Jungs gehen zur Schule, momentan haben sie Sommerferien. Das nützen sie, um hier zu campieren. Manchmal gehen sie nach Hause, um zu duschen. Auch die Fussball-WM wird verfolgt. Am Freitag, dem Tag der Demos, kommen die Eltern mit warmen Töpfen.

Der Kampf ums Image

Ist das nun Ernst oder Spiel, «gewaltfreie Friedensdemo» oder militärischer Angriff? Kommt wohl auf den Blickwinkel an. «Dies hier ist ein komplett friedlicher Protest», sagt Abu Awad. Hier werde doch immer nur auf der einen Seite gestorben, nicht? Doch die Rhetorik, die er dann bemüht, ist nicht die des Friedens. Abu Awad ist Chef einer der vier «Einheiten» im Camp Abu Safia, er besitzt Erfahrung und Autorität. Vor vier Jahren, im Sommerkrieg 2014, schoss ihm eine israelische Kampfdrohne das rechte Bein weg, er geht an Krücken, mit denen er manchmal drohend fuchtelt, wenn die Jungs übermütig werden. Warum tut er das hier, warum riskiert er sein Leben? «Weil das unser Land ist. Weil ich zurückwill in meine Heimat. Weil die Hamas und die Fatah alles kaputtgemacht haben, alles.» Pausenlos greifen seine Einheiten an. Sie werfen Steine, Molotowcocktails: So viel geben sie zu. Sie hoffen auf internationale Aufmerksamkeit. «Man muss etwas tun. Und man muss etwas riskieren. Für die Freiheit muss man etwas riskieren.»

Abu Awad hat sein Bein im Sommerkrieg 2014 verloren. (Bild: Ulrich Schmid)

Abu Awad hat sein Bein im Sommerkrieg 2014 verloren. (Bild: Ulrich Schmid)

Sie haben einiges riskiert, die jungen Männer an der Grenze. 132 Menschen sind bisher ums Leben gekommen, knapp 15 000 wurden verletzt, viele schwer. 15 Kinder sind tot und eine Frau. 54 Menschen mussten Glieder amputiert werden. Alle Toten sind Palästinenser. Die israelischen Scharfschützen schiessen tief nach Gaza hinein, und manchmal treffen sie Menschen, die gewiss keine Bombe bei sich tragen. Yasir Murtaja war ein Foto- und Videojournalist, ein 30 Jahre alter Familienvater, auf seiner Schutzweste stand deutlich lesbar «Press». Dennoch schoss ihm ein Scharfschütze in den Unterleib, Murtaja starb, die israelische Armee «klärt ab». Razan al-Najjar arbeitete als Sanitäterin, auch sie wurde erschossen, die israelische Armee sagt, das habe man «nicht beabsichtigt». Der Tod ist allgegenwärtig, und dass die Jungen im Camp angesichts der Vorgänge der letzten Wochen nicht einfach nur passiv und friedlich bleiben können, ist verständlich. Kampf war die Lebenseinstellung hier, jahrzehntelang. Sich nicht zu wehren, war Feigheit, und deshalb klappt das wohl noch nicht so ganz mit der neuen Gewaltlosigkeit.

Der Journalist Yasir Murtaja wurde von der Kugel eines israelischen Scharfschützen tödlich getroffen. (Bild: Ibraheem Abu Mustafa / Reuters)

Der Journalist Yasir Murtaja wurde von der Kugel eines israelischen Scharfschützen tödlich getroffen. (Bild: Ibraheem Abu Mustafa / Reuters)

Unterwanderte Bewegung

Und doch war die Gewaltlosigkeit die Idee, mit der alles begann. Wir sind bei Salah Abdal Ati, einem jungen Rechtsanwalt, der zu den Gründungsmitgliedern des «Marsches der Rückkehr» gehört. Gewaltfreiheit ist sein Mantra, man spürt, dass es ihn umtreibt, und man glaubt ihm, wenn er sagt, dass er die Gewaltanwendung «Einzelner», die es halt doch immer wieder gebe, bedaure. Dies ist der «Marsch der Rückkehr» nach Abdal Ati: friedlich, gewaltlos, offen für alle Gutmeinenden. Ein Sammelbecken für alle, gegründet von unabhängigen Jungen in Gaza, eine Volksbewegung zur Erinnerung an die Vertreibung, aber auch zur Beendigung dessen, was er als «Gesetz des Dschungels in Gaza» bezeichnet. Doch dann kommt, ganz nebenbei, diese unfassbare Volte. Leidenschaftlich verdammt Abdal Ati alle politischen Parteien, allen voran die Hamas und die Fatah, deren Politik den Bewohnern Gazas «nichts, aber auch gar nichts» gebracht habe. Sie seien schuld am Elend hier. Und dann sagt Abdal Ati, im 27-köpfigen Gründungskomitee des «Marsches» sässen «natürlich» auch die Vertreter der Parteien, also auch der Hamas und der Fatah. Es kommt einem vor, als hätten Lech Walesa oder Vaclav Havel zur Gründungsversammlung der Solidarnosc und der Charta 77 die Kommunisten eingeladen. Warum die Leute mit einbeziehen, die man bekämpfen will? Abdal Ati blickt etwas betreten. «Na ja. Man muss.»

Von der Gewaltlosigkeit, die Salah Abdal Ati vorschwebt, hält die Hamas nichts. (Bild: Ulrich Schmid)

Von der Gewaltlosigkeit, die Salah Abdal Ati vorschwebt, hält die Hamas nichts. (Bild: Ulrich Schmid)

Man muss, natürlich. Gaza ist nicht der Ostblock der Siebziger. Die Hamas ist unerbittlich, sie lässt keine Organisation entstehen, die ihr gefährlich werden könnte. Viele Gesprächspartner in Gaza sagen, die Hamas habe die Bewegung ganz einfach gekapert und damit auch der Gewaltlosigkeit ein Ende bereitet. Ahmed Yussef, einst ein Berater des Hamas-Chefs Haniya, spricht von der «Trittbrettfahrerei» der Hamas, die gespürt habe, dass diese fundamental neue Taktik der Jungen die Menschen fasziniere. In Wirklichkeit sei der «Marsch» eine Ohrfeige für die Hamas gewesen, eine Ohrfeige ins Gesicht aller etablierten Parteien. Das hat etwas. Am Zaun draussen, im Abu-Safia-Camp, lachen die Jungen, wenn man sie fragt, ob sie zur Hamas gehörten. «Die Hamas hat hier nichts verloren. Die soll bleiben, wo sie ist!» Und doch hat die Hamas den «Marsch der Rückkehr» penetriert.

«Zu viele Tote»

Warum sind die Demonstrationen nach dem Blutvergiessen Mitte Mai, am Tag der Verlegung der amerikanischen Botschaft, plötzlich so dramatisch abgeebbt? Man hätte gerade in Gaza einige Verschwörungstheorien zu diesem Thema erwartet. Aber die meisten Menschen sagen verblüffend offen, es sei die überaus harte Reaktion der Israeli gewesen, die sie zur Bescheidung zwang. Salah Abdal Ati, der Rechtsberater der Marschierer, sagt es kristallklar: «Wir hatten zu viele Tote und Schwerverletzte. Wir hatten grosse Angst. So konnte es nicht weitergehen.» Abdal Ati tröstet sich mit dem Hinweis, Israels internationale Reputation habe schwersten Schaden erlitten. Aber im Grund muss er zugeben, dass primär die offene Militanz der Hamas-Leute in den Reihen der Marschierer dafür verantwortlich ist, dass die Aktion so dramatisch an Schwung verloren hat. Natürlich haben auch Leute, welche die Hamas und die Fatah verabscheuen, Steine und Molotowcocktails geworfen. Doch die Hamas hat zugegeben, dass viele der Getöteten «ihre Leute» waren.

Er nennt sich nur «Pirat» oder «Mujahed». Im Camp Abu Safia will er bleiben, bis er wieder «in der Heimat anlegen» kann. Im Hintergrund die Grenze und ein Hochsitz für israelische Scharfschützen (Bild: Ulrich Schmid)

Er nennt sich nur «Pirat» oder «Mujahed». Im Camp Abu Safia will er bleiben, bis er wieder «in der Heimat anlegen» kann. Im Hintergrund die Grenze und ein Hochsitz für israelische Scharfschützen (Bild: Ulrich Schmid)

Das passt ins Bild. Die israelische Armee hat überzeugend klargemacht, dass es auf der andern Seite sehr wohl Militanz gab, gefährliche. Ein «Staff Sergeant L.» erzählt, dass seine Einheit bei Nahal Oz am 14. Juni mit Gewehren und Handgranaten angegriffen worden sei. Die «Terroristen der Hamas» hätten etwa 5000 Menschen «zusammengetrieben» und aus ihrer Mitte heraus geschossen. Für die Armee sei es extrem schwer gewesen, die Schützen auszumachen. Zum Einsatz gekommen seien auch brennende Reifen, Feuerdrachen und Steine. Später habe man Messer und Granaten gefunden. Wie Oberstleutnant Jonathan Conricus, Sprecher der israelischen Armee, im Gespräch mit der NZZ betont, wird niemand von Scharfschützen beschossen, der nicht klar als Bedrohung identifiziert ist. Kein Sniper schiesse, ohne den Befehl dazu von seinem Kommandanten erhalten zu haben. Die Fälle von Mohammed Abu Amasha, von Razan al-Najjar und Yasir Murtaja erklärt Conricus mit Querschlägern oder glatten Durchschüssen. Die Hochgeschwindigkeitsmunition der Sniper wird der höheren Treffgenauigkeit wegen eingesetzt, das ist ihr Vorteil. Der Nachteil ist, dass Kugeln öfter nicht steckenbleiben, sondern abprallen und andere treffen können, auch Unschuldige.

Ein Sieg der Unerbittlichkeit

Das Gesamtbild ist also weit komplexer, als es viele in der Region wahrhaben wollen. Die, die glauben, hier werde eine vollkommen friedliche Bewegung von einer brutalen Militärmaschinerie niedergemäht, täuschen sich: Die Hamas ist dabei, es wird Gewalt angewendet. Die, die glauben, der «Marsch» sei von Anfang an eine Kopfgeburt der Hamas gewesen, täuschen sich ebenso: Hier waren tatsächlich Idealisten am Werk, und gerade weil ihre Ideen den überkommenen Militarismus der Hamas infrage stellten, wurde die Bewegung vereinnahmt. Natürlich wird das die Vereinfacher nicht stören. «Man muss verstehen, dass es in Gaza keine unschuldigen Menschen gibt. Jeder ist mit der Hamas verbunden. Die werden alle von der Hamas bezahlt», sagte der israelische Verteidigungsminister Lieberman. Doch in einem gewissen Sinn können sich die Israeli bestätigt sehen. «Geht nicht zum Zaun», würde Mohammed Abu Amasha den Aktivisten raten. «Zu viele Tote», hatte Salah Abdal Ati gesagt: Die israelische Taktik ist aufgegangen.

Doch auch die Hardliner der Hamas sehen sich bestätigt. Mitte Mai haben sie ihre Taktik umgestellt. Zuvor hatte die Hamas nie Raketen nach Israel geschossen. Das war stets das Werk rivalisierender Gruppen wie des Islamischen Jihad, der Volksfront oder der «Unterstützer Jerusalems», Ansar Bait al-Makdis. Nun koordiniert sich die Hamas mit allen diesen Gruppen, und regelmässig fliegen Raketen gegen Israel. Das sei nur logisch, sagt uns ein Hamas-Mann, der keinen Wert auf Bekanntheit legt. Das sei die «Rache» für den blutigen Tag der Rückkehr Mitte Mai. Und so endet alles im tristen Refrain der Hoffnungslosigkeit. Die Scharfmacher beherrschen die Szene, sie «haben recht bekommen». Und die Jungen, die den Teufelskreis durchbrechen wollten – sie spielen in dieser Tragödie überhaupt keine Rolle mehr.

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