Einführung der Herausgeber

Einführung der Herausgeber

 gutta cavat lapidem durum

 

Für die von Inârah publizierten Sammelbände haben wir der Einfachheit hal­ber vom fünften Band an einen neuen Reihentitel gewählt:

„Die Entstehung einer Weltreligion.

Von der koranischen Bewegung zum Frühislam“.

Im ersten Band mit diesem Titel wurde ein großer Teil der während eines inter­nationalen Sym­posions im März 2010 an der Europäischen Akademie Otzen­hausen vorge­tragenen Referate wiedergeben. Der jetzige sechste Band erscheint un­ter dem Titel „Die Entstehung einer Weltreligion II“ und publi­ziert weitere – noch nicht alle – Tagungs- sowie auch neue Beiträge .

Unsere Absichten für diese literarischen Tätigkeiten  – wie auch für un­se­re Symposien – sind ausschließlich wissenschaftlicher Art. Es geht darum, die Anfänge der heutigen Weltreligion Islam anhand von Quellen, die jeder­mann überprüfen kann, zu erarbeiten und zu analysieren, einfach um zu wissen, wie es damals tatsächlich war. Hierbei kommt dem Koran ein be­son­derer Schwerpunkt zu, weil aus den Kreisen seiner Produzenten und An­hänger schließlich, um das Jahr 800, der Islam als eigenständige Religion hervorgegangen ist.

Unsere bisherige Beschränkung auf die ersten drei oder vier Jahr­hunderte islamischer Zeitrechnung muss allerdings ein wenig aufgelockert werden, weil die intensive Beschäftigung mit den Quellen immer deutlicher zeigt, dass viele Eigentümlichkeiten des Islam erst in viel späterer Zeit ihre Gestalt gefunden haben und erst seit Saladin von einem sunnitischen Islam, wie wir ihn heute kennen, die Rede sein kann.

Bei der Untersuchung der jeweils zeitgenössischen Quellen – Koran, Mün­zen, Inschriften, archäologische Zeugnisse, Literatur, Sprachgeschichte – zeigt sich immer deutlicher, dass die „reale“ Geschichte anders verlaufen ist, als dies die islamischen Legenden späterer Zeiten darstellen. Bei ihnen handelt es sich um retrospektive Konstruktionen einer „heiligen Ge­schichte“ (historia sacra), die wie alle solchen Geschichten einer Über­prü­fung mit den kritischen Methoden der Geschichtswissenschaft nicht stand­halten. In der Geschichte ist alles – oder sehr vieles – ganz anders verlaufen, als bisher angenommen und in „fachwissenschaftlicher“ Literatur und per Internet verbreitet wird. Ebenso wird immer deutlicher, dass es bisher nur eine ungenügende Beschäftigung mit dem Koran gibt, von dem noch nicht einmal eine textkritische Edition vorliegt, von einer wissenschaftlichen Exe­gese ganz zu schweigen.

Unsere Bemühungen fügen sich ein in die kritischen Denktraditionen seit der europäischen Aufklärung – daher auch der Name unseres Instituts „Inârah“ (arabisch in etwa [auch] „Aufklärung“). Seit der Aufklärung be­gnügt sich die Wissenschaft nicht mehr mit dem Nacherzählen, Erklären und Vertiefen ererbter und meist sehr alter Traditionen, sondern befragt sie auf das hin, was „damals“ wirklich geschehen ist, soweit sich das noch eruieren lässt.

Untersucht werden seitdem die Vergangenheiten aller möglichen ge­schicht­lichen Phänomene, also auch der Religionen, die ja für die Orien­tierung vieler Menschen eine große Rolle spielen. Untersuchungen dieser Art sind am weitesten gediehen für Judentum und Christentum, werden aber seit Begründung der wissenschaftlichen Disziplin der Religions­geschichte auf alle Religionen ausgedehnt. In den meisten Fällen, etwa bei Nachforschungen zum Hinduismus, Buddhismus oder zu den chinesischen Re­ligionen, gibt es dabei keinerlei größere Schwierigkeiten; die Aus­ein­ander­setzungen verlaufen auf der wissenschaftlichen Ebene.

Bei den monotheistischen Religionen verhält es sich anders, was wohl seinen Grund darin hat, dass in ihnen Bezüge auf die Geschichte oder Ge­schichten oft eine konstitutive Funktion für sie haben. Ob es Zarathustra, Laotse oder Buddha wirklich gegeben hat, tangiert die jeweiligen Religionen, in denen sie eine Rolle spiel(t)en, in ihren theoretischen Konzepten nur am Rande; Abraham, Mose, Jesus oder Mohammed aber kommt in den zuge­hörigen Religionen eine – wenn auch noch einmal unterschiedliche – wich­tigere oder gar entscheidende Rolle zu. Dies mag die immer wieder in aller Heftigkeit aufflammenden Diskussionen und Polemiken z.B. um historische Studien zur Bibel- und Christentumsgeschichte erklären. Weil diese Ausein­andersetzungen aber schon seit der Aufklärungszeit gewissermaßen üblich sind, gibt es eine Art von Gewöhnung an sie, so dass sie mehr oder weniger unbehindert weitergeführt werden können. Zudem gibt es hier eine große Zahl wissenschaftlich ausgebildeter und auch literarisch tätiger Theologen, so dass sich dem Beobachter ein buntes Spektrum von Entwürfen, Dis­kussionen und – natürlich auch – Polemiken bietet.

Die Situation in islamicis ist gänzlich anders. Der Islam selbst hat mit der Etablierung des heutigen Sunnismus – in der Schia verlief die Entwicklung ein wenig anders, aber grundsätzlich vergleichbar –, mit der Ausbildung des Dogmas von der Unerschaffenheit und Unvergleichlichkeit des göttlich geoffenbarten Koran, mit der Durchsetzung eines rigiden Richtersystems  und der Herrschaft der Scharia spätestens seit dem 12. Jahrhundert, von nachzüglerischen und bald beendeten Ausnahmen in Spanien und Persien abgesehen, eine Art Erstarrung erlebt, die bis heute nicht überwunden ist. Seitdem finden sich im Islam keine innovatorischen Ansätze und Entwick­lungen mehr, von der Medizin bis zu Physik und Mathematik, auch nicht in Theologie, Philosophie und Mystik. Und die gegenwärtigen Verhältnisse in sogn. islamischen Ländern lassen dort keine tief greifenden Forschungs­diskussionen aufkommen, die die jahrhundelang verinnerlichten Überzeu­gungen in Frage stellen könnten; wagemutige Einzelne, die ihre Stimme erheben, müssen mit schlimmen Sanktionen rechnen.

Erstaunlicher Weise aber bietet auch die westliche Islamwissenschaft ein trauriges Bild. Obwohl sie meist von Nicht-Muslimen betrieben wird, hat sie bisher die Standards der hiesigen Geschichtswissenschaften und Philologien nicht zur Kenntnis genommen. Und obwohl sie im 19. und frühen 20. Jahr­hundert verheißungsvoll begonnen und wissenschaftlich wichtige Publika­tionen hervorgebracht hat, die auch heute noch zu Rate gezogen werden müssten, wurde diese Tradition nicht fortgesetzt. Seit dieser Anfangszeit hat sie selbst sich auf political correctness und wissenschaftliche Naivität reduziert. Bis vor kurzem wurde die wissenschaftliche Diskussion zudem allzu oft unter dem Aspekt des „Dialogs“ der Religionen gesehen, als ob es hier darum ginge, Kompromisse des „respektvollen“ täglichen Zusam­men­lebens zu finden. Neuerdings ist aus dem „Dialog“ dann – politisch korrekt und etymologisch völlig falsch[1] – ein „Trialog“ (unter Einschluss des Juden­tums) geworden. Abgesehen davon, dass damit die vielen Agnostiker, Athe­is­ten, Buddhisten usw. immer noch ausgeschlossen bleiben, ist der Denk­­­ansatz völlig verfehlt. Hier geht es nicht darum, ein freundschaftliches Mit­einander zu begründen, sondern die wissenschaftliche Wahrheit zu fin­den. Und was Diskussionen zwischen verschiedenen Glaubensrichtungen an­geht, so gehört schon eine gehörige Portion Optimismus dazu anzunehmen, dass es hier zu „Glaubenskompromissen“ kommen wird, nur weil Jesus auch im Koran erwähnt wird oder „alle Religionen ja schließlich im Grunde nur dasselbe“ wollen. Um es mit den Worten Peter Ustinows zu sagen:

Was die Menschen verbindet, ist nicht der Glaube, sondern der Zweifel.

Und der Zweifel, auch der an der Richtigkeit der eigenen Hypothese, ist die Grundlage guter Wissenschaft. Um Wissenschaftlichkeit im Bereich der Er­for­schung des frühen Islam und des Koran jedoch ist es schlecht bestellt.

Was man auch liest, überall finden sich die gleichen, leicht variierten Thesen, gestützt auf einen textkritisch fraglichen Korantext, der im Jahre 1925 in Kairo publiziert wurde, und auf islamische „Geschichts­über­lie­fe­rungen“, die frühestens im 9. und 10. Jahrhundert niedergeschrieben wur­den und somit historisch gesehen mehr als problematisch sind. Der Koran wird philologisch mit den Mitteln der Arabistik – hier gibt es durchaus auch  differenzierte Arbeiten – untersucht; andere orientalische Sprachen, die im Koran ihre Spuren hinterlassen haben und ohne die er nicht zu verstehen ist, spielen keine Rolle, sondern sind den „Wissenschaftlern“ unbekannt. Die späteren Geschichtenerzählungen – der sogn. Traditionelle Bericht – werden zwar immer, das gehört sich so, allzu legendarischer Aussagen entkleidet. Das, was dann übrig bleibt, wird aber wie eine Schilderung realer Geschichtsabläufe aufgefasst und wiedergegeben. Wenn es z.B. ein heutiger Islamwissenschaftler auch vermeidet, die Himmelfahrt Mohammeds von dem Fels im Felsendom aus als tatsächlich geschehen zu behaupten, so bleibt dann doch übrig, dass der Prophet damals in Jerusalem war; dass auch dies ein theologisch motivierter Topos war, wird nicht berücksichtigt. So kommt es, dass in der Islamwissenschaft keine Theoriebildungen nennens­werter Art entstanden und auch nicht zu erwarten sind.

In der Öffentlichkeit aber gelten ihre Vertreter als Fachleute für den unverstandenen Islam, die immer wieder in strittigen Fragen herangezogen werden, von der Politik, von Verlagen, Presse, Fernsehen und auch von den wissenschaftlichen Institutionen, die Gelder für die Forschung vergeben. So hat sich in der Westlichen Welt eine ungute Situation ergeben: Weder Presse noch sonstige Medien erfüllen ihre Informationspflicht; sie scheuen zudem mögliche Konflikte mit den überall wachsenden muslimischen Min­derheiten sowie den – völlig unberechtigten – Vorwurf, islam- und integra­tions­feindlich zu agieren, wenn sie Thesen referieren, die von den gängigen Meinungen abweichen. Forschungsinstitutionen vergeben Fördermittel aus­schließlich an Antragsteller, die, nach der Beurteilung der befragten Fach­gut­achter, in deren eigenen „wissenschaftlichen“ Mainstream passen. Oder wie soll man die massive Förderung des Projektes Corpus Coranicum und gleichzeitig die Ablehnung von Anträgen zur Erstellung einer textkritischen Bearbeitung des Koran – für eine Buchwissenschaft eine Selbstver­ständlich­keit – durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Gerda-Henkel-Stiftung oder ähnliche Entscheidungen anderer Forschung­sinstitu­tio­nen erklären?

In der Überzeugung, dass die Methoden der kritischen Vernunft trotz aller ideologischen Widerstände universell gültig sind, dass sich über­prüf­bares Faktenwissen auf Dauer nicht bestreiten lässt (contra facta non valet argumentum), versuchen die mit Inârah verbundenen Forscher zu erken­nen, wie, aus welchen Wurzeln und Motiven heraus, wann, mit welchen Konzepten der Islam entstanden ist – zunächst einmal nur um zu wissen und zu verstehen. Im Englischen gibt es dafür den Begriff disinterested seek of knowledge (etwa: Die reine Suche nach Wissen ohne den Gedanken an einen eigenen Vorteil). Wahrscheinlich werden die erarbeiteten Resultate die Religion Islam so wenig tangieren, wie vergleichbare Untersuchungen das Christen­tum allenfalls in Details verändert haben. Religionen sind wie Schlacht­schiffe, deren Kurs Wellengang und Stürme nichts anhaben kön­nen. Aber viel gewonnen wäre schon, wenn in den jeweiligen Binnen­räu­men Dogmatisierungen wenigstens abgeschwächt und kritische Fragen er­tra­gen würden, so dass ein wenig Freiraum für Individuen und Gruppen im Denken und für alternative Lebensformen geschaffen werden könnten. Vor allem könnte die Integration muslimischer Minoritäten in plura­lis­tischen Gesellschaften erleichtert werden.

Es gibt durchaus Anzeichen dafür, dass diese Bemühungen nicht chan­cen­los sind. Es gibt eine wachsende Zahl von Forschern in aller Welt, die den Kontakt zu uns suchen, uns Beiträge aus ihren eigenen Arbeiten zur Verfügung stellen und an unseren Diskussionen teilnehmen – während der Symposien und, mehr noch, telefonisch und per Internet. Weil sich auch Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen in ihren jeweiligen Fach­gebieten mit islamischen Phänomenen befassen (müssen), vor allem aber auch, weil diese Phänomene nicht allein mit den Mitteln der Arabistik ver­stan­den werden können, gehören viele von ihnen anderen wissen­schaft­li­chen Disziplinen an – ein breite interdisziplinäre Forschung ist da­durch in Gang gekommen. Dennoch ist ein Großteil der bei uns mit­wirkenden For­scher dem Bereich der Islamwissenschaft, Arabistik, Semi­tistik und weiterer orientalischer Sprachen zuzurechnen.

Da auch der vorliegende sechste Sammelband schon reichlich voluminös geraten ist, konnten nicht alle eingesandten Beiträge aufgenommen werden. Sie werden, zusammen mit anderen, die noch ausstehen, bald in einem siebten Sammelband publiziert.

Dieser Vielfalt wissenschaftlicher Publikationen von Inârah steht eine seltsame literarische Inaktivität auf Seiten der traditionellen Islam­wissen­schaft gegenüber. Wenn einmal etwas publiziert wird, bleibt alles in den gewohnten Bahnen. Nun könnte man Ähnliches sagen wie vor langer Zeit Martin Luther. Er spottete, dass er wohl so schnell und so viel schreibe, dass seine kontroverstheologischen Gegner immer hinten nachhinken; wenn sie noch dabei seien, seine früheren Schriften zu „widerlegen“, habe er schon wieder neue publiziert. Anders aber als die Gegner Luthers halten es die traditionellen Islamwissenschaftler; sie versuchen erst gar nicht zu wider­legen. Wahrscheinlich, weil die Argumente ausgegangen sind. So bleiben nur polemische Reaktionen, bis hin zu Beschimpfungen („Nicht-Wissen­schaftler“, „Provokateure“) übrig. Gelegentlich aber werden auch grund­legende Thesen von Forschern, die bei Inârah mitarbeiten, aufgegriffen und als eigene – ohne Quellenangabe – ausgegeben.

So zeichnet sich ab, dass auch über den Inârah-Kreis hinaus seine Er­gebnisse aufgegriffen, literarisch bearbeitet und damit auch weiter verbreitet werden.  Zentrale Aussagen haben mittlerweile eine Verbreitung auch im frankophonen arabischen Kulturraum gefunden.

Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Islamwissenschaftlern in aller Welt, die bei ihren Arbeiten zu weiterführenden Thesen und Hypothesen kommen und ihre Erkenntnisse auch publizieren. So ist durchaus zu erwarten, dass die schon länger dauernde Erstarrung sich bald lösen  und freie Forschungstätigkeit auch in der Islamwissenschaft Raum greift. Dann hätten die Aktivitäten von Inârah ihr Ziel erreicht.

 

Die Herausgeber

 


[1]    „Dialog“ kommt vom griechischen „dia-legesthai – sich unterhalten“, wobei die Vorsilbe/ Präposition „dia – durch“ nichts mit dem Zahlwort „dyo – zwei“ zu tun hat. Zudem würde ein „Dreiergespräch“ auch nicht „Trialog“ heißen, da die grie­­chische Vorsilbe, die (außer in Zahlwörtern) „drei“ wiedergibt, i.a. „tri“ lau­tet, z.B. in „trí-gamos – zum dritten Mal verheiratet“. Das intellektuelle Niveau der Bezeichnung entspricht also durchaus dem des Bezeichneten. (Hinweis auf die falsche Etymologie von Max Mangold).