Lob des Schattens

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Lob des Schattens – Entwurf einer japanischen Ästhetik (jap. 陰翳いんえいれいさん, In’ei Raisan) ist ein langer Essay von Tanizaki Jun’ichirō. Er wurde 1933 in der Zeitschrift Keizai Ōrai (経済けいざい往来おうらい) veröffentlicht.

Der lange Essay (随筆ずいひつ, zuihitsu) besteht aus 16 Abschnitten. An der Überschrift[1] lässt sich meist der inhaltliche Schwerpunkt des Abschnittes ablesen. Die Unterschrift Entwurf einer japanischen Ästhetik in der deutschen Fassung ist insofern irreführend, als es sich nicht um eine systematische Abhandlung zur Ästhetik handelt, wie sie in Deutschland von Baumgarten als philosophische Teildisziplin begründet wurde. Es handelt sich vielmehr um ein erzählerisches Werk, in dem Tanizaki seine ästhetizistische Vorstellung von Schönheit an Einzelbeispielen exemplifiziert. Der Essay ist literaturgeschichtlich bedeutsam, weil er die zentrale Position des japanischen Ästhetizismus, als eine von mehreren antinaturalistischen Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerspiegelt.

Yatadera, Kyōto,
Papierlaternen und Beleuchtung
Shōren-in, Kyōto,
Shōji und Raumwirkung
Nō-Theater
Abschnitt 1 – Architektonische Liebhaberei (普請ふしん道楽どうらく)
Tanizaki schildert anhand vorgegebener eigener Erfahrungen und denen eines Freundes mit dem Hausbau Fragen der Inneneinrichtung eines japanischen Hauses. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die Teile des Hauses, die das Wechselspiel von Licht und Dunkelheit in einem Wohnhaus bedingen: die Beleuchtung, die Beheizung und Shōji.
Abschnitt 2 – Die Tempel in Kyōto und Nara (京都きょうと奈良なら寺院じいん)
Dieser Abschnitt beschreibt die Toiletteneinrichtung der Tempel in Kyōto und Nara kontrastiv zum japanischen Teehaus und westlicher Keramik.[2]
Abschnitt 3 – Leuchtkörper in Form von Papierlaternen (行燈あんどんしき電燈でんとう)
Im Vergleich moderner westlicher Beleuchtung (elektrischer Lampen) mit traditionellen Papierlaternen, wie auch Füllfederhalter und Pinsel wirft Tanizaki die Frage nach einer eigenständigen japanischen Entwicklung in Wissenschaft, Denken und Literatur auf. Eine erste Kritik der allzu schnellen Übernahme westlicher Errungenschaften klingt an.
Abschnitt 4 – Fantasie eines Schriftstellers (小説しょうせつ空想くうそう)
Die im vorangegangenen Kapitel aufgeworfene Frage wird zu einer Kritik an der unkritischen Übernahme entlehnter Errungenschaften, die nicht auf die japanischen Bedürfnisse zugeschnitten sind, vertieft. Tanizaki plädiert für eine eigenständige japanische Entwicklung mit der die Japaner eine ihrem „Wesen entsprechende Richtung“ hätten einhalten und eine fast 1000-jährige Tradition hätten fortsetzen können.
Abschnitt 5 – Papier (かみ)
Anhand verschiedener Beispiele, wie dem Unterschied zwischen der Weiße des japanischen Hōsho-Papiers und der des westlichen Papiers, betrachtet Tanizaki die Unterschiede in Glanz, Lichtwirkung und Farbton japanischer Gebrauchsgegenstände. Der „Handglanz“ (nare, das Abgegriffensein) wird als Merkmal des guten Geschmacks eingeführt. Der Gebrauch der Dinge führt stets auch zu einer Art der Verschmutzung. Der Ausspruch Ryokuus wird erweitert und ergänzt: Guter Geschmack ist eine kalte Sache und eine unsaubere dazu.
Abschnitt 6 – Restaurant Waranji-ya (わらんじや)
Tanizaki schildert den Besuch des Restaurants Waranji-ya und sein Vergnügen an der Kerzenbeleuchtung und dem daraus resultierenden Dämmerlicht. In diesem Dämmerlicht komme die Schönheit des hölzernen und als Lackarbeit ausgeführten Essgeschirrs erst zur Geltung. Im Unterschied hierzu wirkten Keramikgeschirr, aber auch goldverzierte Lackarbeiten vulgär, wenn sie von elektrischem Licht beleuchtet, der Dunkelheit entzogen würden.
Abschnitt 7 – Hölzerne Suppenschalen (ものわん)[3]
Dieser Abschnitt erweitert die vorangegangene Betrachtung, der Bedeutsamkeit der Dunkelheit, auf die japanische Küche. „Beim Nachdenken über all diese Dinge kommt man zu der Einsicht, dass unsere Küche gewöhnlich den Schatten zum Grundton macht und mit der Dunkelheit in unauflöslicher Verbindung steht.“[4]
Abschnitt 8 – Architektonisches (建築けんちくのこと)
Ein weiteres Mal kontrastiert Tanizaki die europäische mit der japanischen Bauweise, lichtdurchflutete gotische Kathedrale mit dämmrigem Tempelbau. Die Schönheit des Schattens wird mit dem Zweck und der Funktion der Bauwerke begründet. Einfachheit sei dem Zweck dabei am dienlichsten. Japanische Gebäude folgten dem Prinzip der Abschirmung des Sonnenlichts, europäische hingegen dem Schutz vor der Witterung.
Abschnitt 9 – Japanischer Wohnraum (日本にっぽん座敷ざしき)
Die Magie des Schattens verleihe einem japanischen Wohnraum erst einen geheimnisvollen ästhetischen Ausdruck. Besonders deutlich werde dies an der Tokonoma (Wandnische).
Abschnitt 10 – Das Licht des Goldes in der Dunkelheit (くらがりのなかにある金色きんいろひかり)
Der Zweck Gold für Wandschirme zu verwenden oder Goldfäden in Nō-Kostüme einzuarbeiten sei nicht nur ein dekorativer, in einer ursprünglich dunklen Umgebung, dem Haus oder Nō-Theater, werde so ein erhellender Akzent gesetzt, der zugleich einen praktischen Nutzen besitzt. Tanizaki bezieht sich bewusst auf die Frauendarsteller (Onnagata) des Nō-Theaters und betont Unterschiede in der Helligkeit und Färbung der Haut.
Abschnitt 11 – Die Dunkelheit der -Bühne (のう舞台ぶたいくら)
Im Vergleich mit dem Kabuki und dem Bunraku-Puppentheater gehöre dem traditionsreicheren Nō-Theater aufgrund der Dunkelheit die größere Schönheit.
Abschnitt 12 – Die Frauen damals (むかしおんな)
Dieser Abschnitt befasst sich mit der Schönheit der Frauen. Die traditionelle Art sich zu kleiden, ließe nur den Blick auf die Hände, Füße und das Gesicht zu. Die Kleidung (Kimono) sei darauf ausgelegt den restlichen Körper, bis hin zum Schwärzen der Zähne, in Dunkelheit zu hüllen.
Abschnitt 13 – Das Schöne in der Dunkelheit (くらがりのなかよし)
Das Schöne in der Dunkelheit und im Schatten zu suchen, wird mit dem Wesen und der Eigenart der Ostasiaten begründet. Um der Hässlichkeit zu entgehen, bevorzuge man daher für Gebrauchsgegenstände „umwölkte“ Farben.
Abschnitt 14 – Die Welt des Schattens (陰翳いんえい世界せかい)
Das natürliche Gesetz der Dunkelheit im Kontrast zum Weiß der Haut sei unabdingbar für die ideale Schönheit der Frauen. Im Zusammenspiel der Dunkelheit, Verruchtheit der Vergnügungsviertel und der weißen Schminke der Geishas klingt der Zusammenhang zwischen dem Schönen und dem Hässlichen an.
Abschnitt 15 – Die Nacht in Tōkyō und Osaka (東京とうきょう大阪おおさかよる)
Am Beispiel der Mondschau zeigt Tanizaki, dass eine moderne und helle Stadtbeleuchtung den ästhetischen Anspruch an die Dunkelheit zunichtemache.
Abschnitt 16 – Die Klagen der Älteren (年寄としよりの愚痴ぐち)
Resümierend klingt in diesem Abschnitt die Umbruchsituation an, in der Japan sich historisch seit der Meiji-Restauration befindet. Japan habe einen Kurs entlang der Leitlinien westlicher Kultur eingeschlagen. Dieser Nachteil könne vielleicht auf dem Gebiet der Kunst und Literatur kompensiert werden. Hierzu müsse die halbvergessene Welt des Schattens wieder Einzug halten in die Literatur.

Literaturgeschichtliche Einordnung

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Mit der Öffnung des Landes zu Beginn der Meiji-Zeit begann Japan in ungeheuer rasanter Weise alles Neue aus der westlichen Welt zu adaptieren. Neben den technischen Errungenschaften wurden auch die Denkweise und literarische Strömungen aus Europa aufgenommen. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklung führte zu einer unüberschaubaren Vielfalt philosophischer, literarischer und politischer Strömungen.

Hinzu kamen einschneidende politische Ereignisse: 1904/05 der Russisch-Japanische Krieg, die Kolonialisierung Koreas 1910, der Erste Weltkrieg und das große Erdbeben von 1923.

Bereits 1910 hatten sich die wichtigsten westlichen Literaturtendenzen durchgesetzt.[5] Allen voran hielt der Naturalismus japanischer Provenienz (自然しぜん主義しゅぎ, shizen shugi) Einzug in das literarische Leben. Beeinflusst vom französischen, russischen und skandinavischen Naturalismus lag das Gewicht des japanischen Naturalismus auf der Suche nach der Wahrheit und der Erkenntnis vom Wesen des Menschen.[6] Wahr ist nur, was selbst erlebt ist. Gesellschaftlich angebunden ist der Naturalismus durch sein sozialkritisches Bewusstsein und den Kampf gegen alle Konvention, die die Entfaltung der „modernen“ Persönlichkeit hindert. Ausdruck dieser Strömung in der Prosa ist die Ich-Erzählung.

Dem Naturalismus entgegengesetzt, entwickelten sich zwischen 1910 und 1930 verschiedene literarische Strömungen, die unter dem Sammelbegriff Antinaturalismus zusammengefasst werden. Diesen Strömungen gemeinsam ist, dass sie die Reform der schönen Literatur in den Mittelpunkt ihres Interesses stellten. Eine dieser literarischen Gegenbewegungen war der Ästhetizismus (耽美たんび主義しゅぎ, tambi shugi), als deren Hauptvertreter Tanizaki und sein Lehrmeister Nagai Kafū zählen. Der Ästhetizismus ist gekennzeichnet durch das Prinzip des L’art pour l’art, die Schaffung und den Genuss von Schönheit.[7]

Der getreuen und selbstquälerischen Darstellung des Alltags setzte der Ästhetizismus das absolut Schöne und die japanische Tradition der Heian- und Edo-Zeit entgegen. Ausdruck der Schönheit ist die Gestalt der Frau, die Erotik und die höfische Kultur.[8] Die Darstellung des Erotischen muss insbesondere auch als Ausdruck des Protestes gegen die Verwestlichung aufgefasst werden. In diesem literaturgeschichtlichen Zusammenhang kann Tanizakis Essay Lob des Schattens als programmatisch für den japanischen Ästhetizismus gesehen werden.

Tanizakis literarisches Werk ist geprägt von der Darstellung menschlicher Leidenschaften im Spannungsfeld zwischen östlicher und westlicher Kultur.[9] Schaarschmidt folgend ist Tanizaki um die Sicherung des Wesentlichen am japanisch Traditionellen bemüht. Die Synthese des Japanischen mit der Moderne gelingt ihm in seinem Alterswerk Die Schwestern Makioka (細雪ささめゆき, Sasameyuki). Insofern ist er zu recht als „Bannerträger des Ästhetizismus“[10] bezeichnet worden.

Erwähnte Personen

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  • Natsume Sōseki, Abschnitt 1, S. 10; Abschnitt 7, S. 29.
  • Saitō Ryokuu (1867–1904), Schriftsteller und Kritiker, Abschnitt 2, S. 11.
  • Buddha und Konfuzius, Abschnitt 4, S. 18
  • Kongō Iwao (1887–1951), Nō-Spieler, Abschnitt 10, S. 44.
  • Yang Guifei, klassische Schönheit Chinas, Rolle Kongō Iwaos im Nō Stück Der Kaiser, Abschnitt 10, S. 44.
  • Baikō Onoe (1870–1934), Kabuki-Spieler und Onnagata, Abschnitt 11, S. 49.
  • Takebayashi Musōan (1880–1962), Schriftsteller und Übersetzer Abschnitt 15, S. 62.
  • Albert Einstein, Abschnitt 15, S. 63.
  • Onoe-Schrein in Kakogawa, Abschnitt 7, S. 29
  • Chion-in und Hoganji, Abschnitt 8, S. 32
  • Haus Sumiya in Shimabara (Kyōto), Abschnitt 12, S. 51.
  • Nihonbashi in Chūō, Tōkyō, Abschnitt 12, S. 51
  • Chūgū-ji, ehemaliges Frauenkloster neben dem Horyūji-Tempelkomplex, Abschnitt 12, S. 52.
  • Gion (Kyōto), Abschnitt 14, S. 59.
  • Ishiyama-Tempel (Biwa-See), Abschnitt 15, S. 63.
  • Küste von Suma bei Kōbe, Abschnitt 15, S. 64.
  • Hiei-, Nyoi-, Kurodani-Bergzüge um Kyōto, Abschnitt 16, S. 66.

Einzelnachweise

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  1. Die Fassung auf Aozora Bunko enthält keine Überschriften.
  2. Zum Thema der stillen Örtchen besonders in der Kantō-Ebene (S. 10f. in der Direktübersetzung von Eduard Klopfenstein) gibt es eine andere, im Detail leicht abweichende, Übersetzung aus dem Chinesischen von Wolf Baus im Essay „Übers Lesen auf dem Klo“ von Zhou Zuoren, in: Hefte für Ostasiatische Literatur Nr. 11 (Juni 1991), S. 16–21, hier: S. 18f.
  3. Anmerkung: Tanizaki verwendet im Text das Kanji わん anstelle des Kanji わん. Die beiden Schriftzeichen unterscheiden sich im Hen-Radikal: () (ki, Baum) anstelle von (いし) (ishi, Stein). Es ist damit eine Holzschale im Unterschied zu einer Keramikschale gemeint.
  4. Lob des Schattens., S. 31.
  5. Siegfried Schaarschmidt: Aufschluss Versuche. Wege der modernen japanischen Literatur. Hrsg. Otto Putz, München 1998, ISBN 3-89129-435-2, S. 11.
  6. Horst Hammitzsch: Japan Handbuch. Stuttgart 1990, ISBN 3-515-05753-6, S. 897–898.
  7. Horst Hammitzsch: Japan Handbuch. 1990, S. 929.
  8. Horst Hammitzsch: Japan Handbuch. 1990, S. 937.
  9. Siegfried Schaarschmidt: Aufschluss Versuche. 1998, S. 13.
  10. Eduard Klopfenstein im Nachwort zu Lob des Schattens. S. 82.