Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 23. Juni 2024
Sturm und Stille sind die beiden Pole im heutigen Evangelium, ebenso die panische Angst und die staunende Ehrfurcht. Was die Jünger in dieser Nacht auf dem See Genesareth erlebt haben, hat sich ihnen unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt. Da ist noch ein weiterer Kontrast in den Eindrücken dieser nächtlichen Überfahrt: die Aufregung der Jünger und der seelenruhige Schlaf Jesu.
Natürlich denke ich beim Lesen dieses Evangeliums an mein eigenes Leben: Habe ich selber vergleichbare Erfahrungen gemacht? Erlebnisse von Panik, die sich in Ruhe auflöst, von Todesgefahr und Rettung aus ihr? Mir kommt dabei eine Nacht in Indien in den Sinn, in der ich wie nie zuvor und nie seither von Todesangst ergriffen wurde. Es war meine erste Begegnung mit diesem riesigen Subkontinent, in Bangalore, tief inmitten einer mir fremden Welt, faszinierend, aber auch unheimlich. Ich bekam plötzlich hohes Fieber, 42 Grad. Alleine in meinem Zimmer, fern meiner vertrauten Welt, das Gefühl: Es ist meine letzte Nacht! Stunden des ausweglosen Gefühls, rettungslos verloren zu sein, verlassen und hilflos. „Meister, kümmert es dich nicht, dass ich zugrunde gehe?“ Gegen Morgen spürte ich etwas Linderung, die Schrecken dieser Nacht ließen nach. Es war, als hätte sich der Sturm gelegt. Die Todesangst war gewichen. Auf abenteuerlichen Wegen konnte ich noch an diesem Tag einen Rückflug nach Wien erreichen. Das Glück, vom Flughafen direkt in ein Wiener Spital gebracht zu werden, ist kaum zu beschreiben. Nach drei Wochen war ich von schwerer Krankheit geheilt. Geblieben ist mir die Erinnerung an den „Sturm“ der Todesangst und die „Stille“ des frühen Morgens, als wieder Vertrauen in mir Raum gewinnen konnte.
Die Erfahrung dieser Nacht macht mir das Evangelium vom plötzlichen Seesturm so anschaulich. Die Jünger Jesu waren (zumindest teilweise) erfahrene Fischer. Sie kannten die plötzlichen Wirbelstürme, die über den See Genesareth fegen. Wenn es ernst wird, hilft alle berufliche Erfahrung nicht. Umso schwerer zu fassen ist die Seelenruhe Jesu, der tief schläft. Mit großer Ruhe, unaufgeregt, gebietet er dem Wind und dem aufgewühlten See: „Schweig, sei still!“ Und „es trat völlige Stille ein“.
Sturm und Stille! Der Panik im Sturm folgt „große Furcht“ vor dieser Stille. Es ist nicht mehr Angst, sondern Ehrfurcht, Staunen, Dankbarkeit. Ich kann mich nicht erinnern, ob und wie ich in der Nacht der Todesangst in Indien gebetet habe. Ich dürfte es wohl versucht haben. Im Licht des heutigen Evangeliums glaube ich sagen zu dürfen, dass Jesus in dieser Nacht bei mir war, so wie er, schlafend hinten im Boot liegend, bei seinen besorgten Jüngern war. Die Ruhe, die gegen Morgen in mich kam, deute ich wie Jesu „Schweig, sei still!“ zu meiner Panik und Todesangst. Ich weiß zwar, dass es oft im Krankheitsverlauf geschieht, dass in der Früh eine gewisse Linderung der Schmerzen eintritt, so wie beim Morgengrauen die Wellen des Meeres sich sänftigen. Eines bleibt aber für mich gültig: In ihrer Panik konnten die Jünger sich an Jesus wenden. Sie weckten ihn. Sie hofften auf ihn, dass er sie retten kann. Zu diesem Vertrauen ermutigt das heutige Evangelium vom Sturm und der Stille am See.