Mal mir keinen Regenbogen – Seite 1

In einer herbstlich-rauen Nacht machen sich sechs Menschen zu Fuß und auf Fahrrädern auf den Weg an den südöstlichen Rand der Stadt Nürnberg. Sie haben sich nicht ganz zwei Wochen auf diesen Moment vorbereitet, haben mittels verschlüsselter Kommunikation Aufgaben verteilt und Treffpunkte vereinbart, haben Experimente mit Farben durchgeführt und ihre Malerwalzen versteckt. In jedem Rucksack fünf Liter Farbe. Sternförmig bewegen sich die Künstlerinnen und Künstler auf die Steintribüne zu.

"Nach meinen Berechnungen hätten wir nach fünf Minuten fertig und nach 15 weg sein müssen", erinnert sich einer, der dabei war. Er möchte hier Arquus genannt werden. "Am Ende hat es locker 40 Minuten gedauert. Es war dunkel, wir hatten Angst, wir haben gefroren, es hat geregnet."

Als Nürnberg am kommenden Morgen, es ist der 28. Oktober, erwacht, ist es um acht farbige Streifen reicher. Die Menschen, die sich später in Redaktionen und Amtsstuben bewegen werden, scrollen mit dem Rest ihres Frühstücksbrötchens im Backenzahn durch Facebook. Um 08.06 Uhr hat der Fotograf Peter Kunz das erste Foto des Regenbogen-Präludiums veröffentlicht. Ein anonymes Künstlerinnenkollektiv hat der Zeppelintribüne, einem der zahlreichen Relikte von Naziarchitektur auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände, das Symbol der Pride-Bewegung verpasst. Das Foto vom Regenbogen über der Führerkanzel wird mannigfach geteilt und stößt ein kontroverses Stadtgespräch an – über Kunst, Intervention und die unliebsamen Bauwerke.

Die Gruppe Regenbogen-Präludium, benannt nach ihrem ersten Werk, hat in dieser Nacht ein mächtiges Zeichen gesetzt. Und zwar nicht nur, weil der Regenbogen auf der Speerschen Monumentalästhetik einen ersehnten Kontrast herstellt. Nicht nur, weil das Symbol der Vielfalt den pilgernden Neonazis eine Selfiekulisse wegnahm – und weil im Zuge dessen darüber gesprochen werden konnte, dass Nazis diesen Ort als Selfiekulisse hernehmen. Nicht nur, weil sich die Gruppe kommunikationsstrategisch klug verhielt und fortan im digitalen Echoraum Lorbeeren erntete. Sondern auch und vor allem, weil die Aktionskünstler sich eines Ortes ermächtigten, der die Stadt seit Jahrzehnten hilflos macht, und dafür einen Zeitpunkt wählten, der dem temporären Werk die maximale Aufmerksamkeit garantierte. Weil sie die Forderung der Stadt nach temporärer Kunst an diesem Ort maßgenau erfüllten und genau damit die indirekte Auftraggeberin gegen sich aufbrachten.

Die Geschichte vom Regenbogen-Präludium ist auch deshalb so erzählenswert, weil an diesem Tag, zu diesem Zeitpunkt, eine große Geschichte endet und mehrere kleine Geschichten beginnen, die etwas über das Kulturleben in deutschen Städten mit großen schöngeistigen Ambitionen aussagen. Der 28. Oktober ist auch der Tag, an dem die Kulturstiftung der Länder via Livestream verkündet, welche deutsche Stadt sich 2025 Kulturhauptstadt Europas nennen darf. Vier Jahre lang haben zuletzt noch vier deutsche Städte um Konzepte gerungen, die die Konkurrenz ausstechen. An diesem Regenbogen-Mittwoch gilt Nürnberg, zumindest in Nürnberg, als aussichtsreiche Kandidatin, insbesondere wegen der Verquickung von unvermeidlich düsterer Vergangenheit und elegant hinbehaupteter Zukunftsfähigkeit. "Past Forward" hieß das Motto der Bewerbung.

Das Liegenschaftsamt erstattet umgehend Anzeige

Der Nürnberger Fotograf Peter Kunz hat das Regenbogen-Präludium dokumentiert. © Peter Kunz

Inzwischen ist auch das schon wieder Vergangenheit. Chemnitz hat gewonnen, Nürnberg hat – wie auch Hildesheim, Magdeburg und Hannover – verloren. Zuletzt berichtete nun die Süddeutsche Zeitung über ein dubioses Beraterwesen rund um Kulturhauptstadtbewerbungsprozesse, es geht um die Verquickung von – oder zumindest um eine zu enge Verbindung zwischen – Jury- und Beratertätigkeiten, es riecht stark nach Günstlingswirtschaft, bei der sich die immer gleichen Planer in wechselnden Positionen das Prädikat zuschanzen. Als eine wesentliche Zeugin der Anklage tritt die Nürnberger Bürgermeisterin und Kulturdezernentin Julia Lehner (CSU) auf. Auch ihr sei jener Mattijs Maussen, der schlussendlich Chemnitz entscheidend beraten hatte, vom späteren Jurymitglied Jiří Suchánek bei einem Besuch der beiden in Nürnberg als bezahlter Berater angetragen worden. "Klare Absicht des Besuches war die Erlangung eines entsprechenden Vertrages."

Das gilt es vielleicht im Hinterkopf zu haben, wenn man sich dem kurz zuvor veröffentlichten Abschlussbericht der Jury widmet, in dem Nürnberg nicht wirklich gut wegkommt. Man wird, einmal misstrauisch, das Gefühl nicht los, dass potenziell alles kritisierenswert ist, wenn man es denn nun kritisieren will, ob die Bewerbung des einen nun zu handgestrickt und provinziell ist oder die der anderen zu glattgebügelt und ortlos. Und dennoch gibt es da einen Punkt, der im Fall Regenbogen zusammenzucken lässt: Denn im Bericht wird unter anderem die unzureichende Ausführung eines partizipativen Ansatzes für die Um- und Neugestaltung des Reichsparteitagsgeländes bemängelt, "the limited elaboration of a participatory approach".

Auch wenn es am Urteil der Jury – aus welchen Gründen auch immer – nichts mehr geändert hätte: Am Tag der Entscheidung bekommt die Stadt Nürnberg also eine hervorragende Chance, zumindest diesen Teil der Ablehnung Lügen zu strafen – und tut sich schwer. 

Zwar schreibt das Bewerbungsbüro um 16.08 Uhr auf Facebook: "Gerade am heutigen Tag (...) ist diese Aktion ein wichtiges Statement, das wir unterstützen." Die Stadtverwaltung an sich lässt sich aber von lobenden Worten aus einem gerade obsolet gewordenen Büro nicht aus der Spur bringen. Das Liegenschaftsamt erstattet umgehend Anzeige gegen unbekannt "aus versicherungstechnischen Gründen und zur Wahrung der städtischen Interessen". Das Hochbauamt lässt die wasserlösliche Farbe umgehend entfernen. Drei Tage später zeugen nur noch noch lilafarbene Flecken vom Regenbogen-Präludium. Und Nürnberg erscheint in der öffentlichen Wahrnehmung als Partnerin, die mit links gratuliert und mit rechts Watschen verteilt.

Julia Lehner, die Kulturbürgermeisterin, stand in dem Moment, als sie den Regenbogen zum ersten Mal sah, noch unter dem Eindruck der gescheiterten Kulturhauptstadtbewerbung, wie sie zwei Wochen später am Telefon erzählt. Sie sei beeindruckt gewesen: "Ein Gebäude, das einen sonst erschlägt, ist plötzlich sympathischer dahergekommen." Zu den Konzepten der Kulturhauptstadt hätte der Regenbogen fantastisch gepasst, findet sie. Allein, sie hätten halt nicht gefragt, die Künstlerinnen, sie hätten sich nicht mit einem Antrag ans Kulturreferat gewandt. "Die Veränderung eines Gebäudes, das unter Denkmalschutz steht", sagt Lehner, "bedarf der Genehmigung. Das sind einfach die Spielregeln."

Tatsächlich fallen weder die Anzeige noch die Säuberung in ihre Verantwortlichkeit. Andere Ämter, andere Abläufe. Sie hat die Gruppe zum Gespräch eingeladen, es ist von einer möglichen "Verstetigung" der Arbeit die Rede. Regenbogen-Sprecher Arquus schließt den Dialog nicht aus, sagt aber auch: "Das funktioniert nur, wenn es auf Augenhöhe stattfindet, und das geht nicht, solange diese Anzeige, die ein Antragsdelikt ist, im Raum steht. Die Stadt könnte die sofort zurücknehmen." Lehner sieht sich diesbezüglich nicht in der Pflicht: "Ich kann kein Recht beugen. Dass nach einer Anzeige auch ein Strafantrag gestellt wird, ist nicht gesagt. Das muss man auseinanderhalten." Solange die juristischen Fragen schwebend sind, könne man mit ihr ja auch anonym in Kontakt treten.

Wenn es nach der Künstlergruppe geht, soll sich am Diskurs aber nicht nur Kunst und Verwaltung, sondern die ganze Stadtgesellschaft beteiligen. Über die Verstetigung des Regenbogens an der Tribüne könnte beispielsweise eine Bürgerbefragung abgehalten werden. Dort ginge es dann eben auch um die Frage, was schwerer wiegt, der Schutz von porösem Naturstein, Muschelkalk, der laut Nürnberger Hochbauamt durch die eindringende Farbe noch größeren Schaden hätte nehmen können (deshalb die rasche Entfernung, Kostenpunkt um die 5.000 Euro). Oder um Ideen, zuvorderst die, dass das Reichsparteitagsgelände zwar gewiss ein bedeutender Denkort, aber als sakrosanktes Denkmal nach deutschen Statuten eventuell eine ziemliche Fehlbesetzung ist.

Ein Steinmetz und CSD-Vorsitzender bringt noch eine Wende

An dieser Stelle erfährt die Geschichte um den Nürnberger Regenbogen allerdings noch eine Wendung. Wenn er an Gott glauben würde, sagt Arquus, würde er Bastian Brauwer eine göttliche Fügung nennen. Brauwer ist Vorsitzender des CSD Nürnberg, aber auch Steinmetzmeister, staatlich geprüfter Restaurator und Steintechniker. Er hat sich kundig gemacht, welche Farbe an der Zeppelintribüne verwendet wurde. Die Antwort: keine Farbe, sondern selbst angerührter Tapetenkleister, der, so Brauwer, mit warmem Wasser und Seife ganz leicht zu entfernen gewesen wäre. In einem offenen Brief erklärt er ausführlich, warum die Begründung der Stadt für die Hochdruckentfernung aus fachlicher Sicht "schlicht falsch" sei. Und schreibt: "Das mir beschriebene und auf Bildern sichtbare, offensichtlich äußerst unprofessionelle Reinigen mittels Hochdruckreiniger zerstört nachhaltig die Gesteinsoberfläche des doch eigentlich denkmalgeschützten Gebäudes und begünstigt damit dessen Verfall."

Die Stadt selbst beschädigt mit ihrer Rettungsaktion das diskutable Denkmal? Das klingt jetzt wirklich nicht kulturhauptstadtwürdig. Nein, sagt wiederum die Stadt, der Druck des Reinigers sei erstens minimal gewesen. Zweitens hätten die Künstler für eine unschädliche Anwendung des Kleisters eine Trennlage verwenden müssen, was offenbar nicht geschah. "Wäre eine Trennlage aufgebracht worden", teilt ein Sprecher der Stadt mit, "wäre die Farbe vermutlich nicht eingedrungen." Drittens dürfe Kunst an den NS-Bauten eben immer nur temporär sein, ein zeitlich nicht fixierter Begriff – dieser Linie folgt die Stadt schon eine Weile. "Jede Generation soll selbst die Chance haben, sich dem Bauwerk in seiner Dimension zu stellen. Dabei geht es nicht um formalen Denkmalschutz, sondern um Reversibilität und Substanzerhalt."

Die aktuelle temporäre Kunst zugunsten der zukünftigen einzuschränken, klingt nun äußerst generationengerecht und nachhaltig, es bringt aber auch eine gewisse Starrheit mit sich, vielleicht sogar einen Stillstand. Nach aktuellen, offiziellen Plänen sollen Zeppelinfeld und -tribüne für rund 85 Millionen Euro saniert werden. Ein multimedialer "Lernort der Geschichte" soll entstehen. Der sieht allerdings nicht viel anders aus als der Status quo, wenn er auch seine Besucherinnen nicht mehr durch eventuell herabfallende Kalkplatten gefährden würde. Doch genau hier wollte die Gruppe ja ansetzen, beim Auftritt des Ortes, der so – unverändert – doch vielleicht vor allem die Botschaft der Nazis vermittelt.

Zugleich geht auch die Geschichte der Kunstaktion weiter. Im Januar will die Nürnberger Akademie der Bildenden Künste sich mit Expertinnen der Sache noch einmal deutend annehmen. "Das Regenbogen-Präludium hätte ein Auftakt sein können, ein Vorspiel – für weitere Kunst am Gelände, für zivilgesellschaftliche Debatten mit starkem Bezug zum Hier und Jetzt", heißt es in der Ankündigung des Symposiums mit dem schönen Titel "Mit Hochdruck ins Postludium". Die Stadt Nürnberg hingegen trete den Rückzug an: "Die rasante Entfernung der künstlerischen Arbeit zeigt eine Furcht vor Diskursen, die sich der Deutungshoheit der städtischen Politik entziehen." Am 16. Dezember veröffentlichte die Regenbogen-Gruppe ein Manifest. Dort regt man an, "in unmittelbarer räumlicher Nähe zur Hitlertribüne" einen "Freiraum für Künstler*innen" zu schaffen, "eine morphologische und fluide Form, die die Begegnung zwischen der Kunst, der politischen Bildung und der Zivilgesellschaft in Nürnberg als einem Ort mit besonderer Verantwortung stärkt und verstetigt". Hört sich erst mal typisch diffus an, müsste es aber gar nicht werden, wenn sich die Stadtgesellschaft wiederum bei den Plänen für ein selbst verwaltetes Künstlerinnenhaus, wie es der Gruppe vorschwebt, einmischt und einbringt. 

An alledem zeigen sich nun verschiedene Dinge: Es zeigt sich zum einen, dass eine Kulturhauptstadtbewerbung noch keine Kulturmetropole schafft – und vielleicht wird die Bedeutung einer solchen Bewerbung ohnehin überschätzt, wenn man sich das Vergabeverfahren genauer anguckt. Es zeigt sich aber auch, dass sie auch ohne den finalen Geld- und Aufmerksamkeitsregen Prozesse in Gang setzen kann, die aus einer Stadt eine Kulturstadt machen, Prozesse des Nachdenkens und Aushandelns.

Es ist natürlich nicht gesagt, dass Nürnberg ohne die vorherige Sensibilisierung für Kunst und Intervention durch die eigene Bewerbung den Regenbogen eher als Schmiererei abgetan hätte – auch in diesem Text sind aber Dinge genannt, die diesen Verdacht ein bisschen nahelegen. Für die Institution Kulturhauptstadt Europas bedeutet das, dass sie eine Verantwortung trägt, durch ein faires und transparentes Verfahren attraktiv für Bewerberstädte zu sein. Ohne die Aussicht auf Erfolg hätte es zumindest den Nürnberger Regenbogen so – mit dieser Aufmerksamkeit – nie gegeben.