ZEIT ONLINE: Nimmt denn die WHO solche Vorhersagen ernst?

Niehus: Die WHO arbeitet ständig mit Vorhersagen, wir schicken jeden unserer Artikel immer auch direkt an die WHO. Wir Forscherinnen und Forscher arbeiten sozusagen alle an kleinen Puzzleteilen, die WHO in Genf oder das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) in Stockholm fügen dann alles zusammen und ziehen daraus Schlüsse, was genau getan werden soll.

ZEIT ONLINE: Schon seit Jahrzehnten arbeiten Forscherinnen und Forscher daran, Seuchenausbrüche zu simulieren – so gab es Studien dazu, wie Geldscheine Keime verbreiten oder wie Grippeepidemien verlaufen. Was hat sich auf diesem Forschungsgebiet in den vergangenen Jahren getan?

Niehus: Sehr viel. Wir haben heute schnellere Computer und können damit kompliziertere Modelle berechnen. Außerdem haben wir viel aus vorherigen Epidemien gelernt, diese Erkenntnisse fließen in unsere Modelle mit ein. Vor allem kommen wir aber heute viel leichter an Informationen. Unsere globalisierte Welt ist gleichzeitig Fluch und Segen: Durch sie können sich Krankheitserreger überhaupt erst so schnell ausbreiten, aber sie erlaubt uns auch, viel schneller darauf zu reagieren. Neue Daten über das neue Coronavirus werden innerhalb von Sekunden im Internet veröffentlicht. Außerdem gibt es freie Datenportale, auf denen alles über das Virus gesammelt und dargestellt wird. Und es gibt ein Preprint-System, bei dem Forscher ihre Arbeit viel schneller veröffentlichen können.

ZEIT ONLINE: Wie genau funktioniert dieses System?

Niehus: Vom Verfassen bis zur Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Arbeit dauerte es früher mehrere Monate, manchmal sogar Jahre: Ein Forscher schickte sein fertiges Manuskript an den Redakteur einer Fachzeitschrift, mehrere Experten kritisierten es, dann konnte der Forscher es überarbeiten. Heute geht das alles viel schneller: Über Portale wie BioRxiv oder medRxiv können wir unsere Manuskripte als Preprints, sozusagen als ungeprüfte Vorabdrucke, sofort der Öffentlichkeit zugängig machen. Parallel schicken wir sie trotzdem an eine Fachzeitschrift, so haben wir weiter die rigide Kontrolle durch Peer Review, also durch andere Expertinnen und Experten. Aber gleichzeitig sind die Studien von Tag eins an zugänglich. Bei einem dringenden Thema wie dem Coronavirus gibt es außerdem bei vielen Zeitschriften ein Fast-Track-Peer-Review – das verspricht, das traditionelle Verfahren besonders schnell durchzuführen. Es ist ein Kompromiss zwischen Qualität und Geschwindigkeit.

ZEIT ONLINE: Auch Ihre aktuelle Studie ist zum Zeitpunkt dieses Interviews noch nicht von anderen Expertinnen und Experten beurteilt worden. Ist es nicht problematisch, wenn Inhalte ungeprüft veröffentlicht werden?

Niehus: Genau, unsere aktuellsten Studien über das Coronavirus stecken gerade mitten im Peer-Review-Verfahren; die Version, die online zu finden ist, ist noch nicht beurteilt. Dadurch ist es natürlich einfacher, Manuskripte zu veröffentlichen, und deswegen muss man mit solchen Veröffentlichungen besonders kritisch umgehen. Gerade zum Coronavirus gibt es im Internet auch viel Desinformation. Man sollte deshalb bei jedem Artikel darauf achten, ob er peer reviewed ist, und, falls nicht, auch auf die öffentlichen Kommentare schauen.

ZEIT ONLINE: Ist es möglich, heute eine Seuche schon vor ihrem Ausbruch vorherzusagen?

Niehus: Einige Forscher behaupten das: Sie wollen "Disease X" erforschen, die unbekannte nächste Krankheit. Es gibt auch Labore, in denen Viren oder Bakterien mutiert werden, nur damit man dann eine Therapie dagegen entwickeln kann. Wenn man sich aber anschaut, wie kompliziert es schon allein ist, für das neue Coronavirus die nächste Woche vorherzusagen, dann wird klar, wie schwer es ist, irgendetwas über "Disease X" zu sagen.

Mehr zum Ausbruch des neuen Coronavirus lesen Sie hier.