Im nordrussischen Murmansk, unweit der Grenze zu Finnland, ist der Krieg weit entfernt. Doch am 27. März brachte Wladimir Putin ihn, zumindest verbal, auch dorthin. Russland habe an allen Fronten die Initiative, sagte der russische Präsident bei der Einweihung eines Atom-U-Bootes. Erst kürzlich habe er gesagt, dass die Ukraine bald einknicken werde, zitierte Putin sich selbst. "Aber es gibt Anlass zu glauben, dass wir sie auch erledigen werden."
Doch fast 2.000 Kilometer weiter südlich, wo der Krieg tatsächlich geführt wird, ist die Lage eine andere. Ein Überblick über die verschiedenen Kampfgebiete: An der Grenze zwischen der russischen Region Kursk und dem ukrainischen Sumy sind keine Anzeichen eines russischen Großangriffs erkennbar, der nach dem ukrainischen Abzug aus Kursk befürchtet worden war. Etwas weiter südöstlich können russische Soldaten einen kleinen ukrainischen Vorstoß in die benachbarte Region Belgorod schon seit fast zwei Wochen nicht zurückschlagen.
Noch weiter östlich, in Charkiw, erreichen russische Truppen bei den Angriffen in Richtung der Stadt Kupjansk kaum Gebietsgewinne. Die schon einmal von Russland besetzte und dann von der Ukraine zurückeroberte Stadt befürchtet ihren (erneuten) Fall schon seit mehr als einem Jahr, gekommen ist es dazu nicht. Zwar konnte Russland in den vergangenen Wochen an mehreren Stellen den Oskil-Fluss überqueren, allerdings nur mit kleinen Infanterie-Einheiten. Südlich davon halten die ukrainischen Stellungen am Ostrand der ebenfalls seit fast einem Jahr umkämpften Stadt Tschassiw Jar weiter stand. Noch weiter südlich, in Torezk, von Russland im Februar als erobert gemeldet, hat die Ukraine Boden wiedergutmachen können.
Den Schwerpunkt der Kämpfe bildet weiterhin der Frontabschnitt Pokrowsk. Die strategisch wichtige Stadt, an einer für die ukrainische Logistik bedeutsamen Straße gelegen, hätte nach Einschätzungen aus vergangenem Herbst der Ukraine zum Jahreswechsel verloren gehen können. Das prognostizierten ukrainische, aber auch ausländische Beobachter wie der estnische Geheimdienst. Stattdessen konnte die Ukraine eine Einkreisung der Stadt verhindern, Russland auf Distanz halten und kleinere Rückgewinne erzielen. Der Angriff einer größeren Kolonne von Panzerfahrzeugen – inzwischen auch seitens der russischen Armee eine Seltenheit – in Andrijiwka südlich von Pokrowsk endete in ihrer Zerstörung.
Der Überblick zeigt: In der Summe kommt die russische Armee zwar voran, doch der Vormarsch verlangsamt sich schon seit geraumer Zeit. 725 Quadratkilometer ukrainischen Gebiets eroberte sie im vergangenen November, knapp 400 im Dezember, 320 im Januar. Weniger als 200 im Februar. Der Wert für März: 133 Quadratkilometer, so wenig wie zuletzt im vergangenen Juni. Die zweite russische Donbass-Offensive, begonnen im Oktober 2023 mit dem Sturm auf Awdijiwka, verläuft sich. Ihr Ziel, die Region Donezk vollständig zu erobern, erreichte sie nicht.
Zwar lassen sich Erfolg und Misserfolg nicht allein in Zahlen ausdrücken. Doch auch qualitative Einschätzungen unabhängiger Beobachter geben der Ukraine Anlass für vorsichtigen Optimismus. "Die Situation hat sich im Vergleich zum Herbst 2024 verbessert", schrieb vor zwei Wochen der Militärwissenschaftler Michael Kofman nach einer Forschungsreise in die Ukraine. Es sei zwar "verfrüht", die Front für stabilisiert zu halten – den russischen Vormarsch also für endgültig beendet –, doch die Ukraine habe ihr taktisches Vorgehen verbessern können.
So seien Drohnen eine Hilfe, um den Personalmangel in den ukrainischen Reihen auszugleichen, 60 Prozent der russischen Verluste gingen auf ihr Konto. Russische Angriffseinheiten erreichten nur selten die ukrainischen Stellungen, die sie erobern sollten, während viel Material dabei verloren gehe. Die Ukraine wiederum habe eine Reihe von Problemen gelöst: Die Rüstungsproduktion habe zugenommen, der Munitionsmangel lasse nach, neue Ausbildungsprogramme zeigten Wirkung.
Das zeitweise auch innerhalb des Landes kritisierte Führungschaos im Militär sei durch erfolgreiche Neubesetzungen gelöst worden. Auch habe die Führung in Kyjiw die umstrittene Praxis der Neugründung von unerfahrenen Brigaden, während kämpfenden Verbänden Soldaten fehlen, beendet. "Die Ukraine hat immer noch eine Chance, die Front zu stabilisieren, wenn positive Trends erhalten bleiben (und) Personalprobleme und das Truppenmanagement adressiert werden", schreibt Kofman. Kein Anlass zu Triumphgefühlen – doch auch nicht zu Warnungen vor einem angeblich bevorstehenden Kollaps der Front, wie sie im vergangenen Herbst sogar von ukrainischen Generälen kamen.
Ist der Rückgang bei den russischen Eroberungen womöglich nicht der Unfähigkeit oder Erschöpfung der Angreifer geschuldet, sondern eine Ruhe vor dem Sturm, in der eine neue Offensive vorbereitet wird? Das Präsidentenbüro in Kyjiw gibt sich vorsichtig: Russland wolle sein Kontingent in der Ukraine in diesem Jahr um 150.000 weitere Soldaten – also um etwa ein Viertel – steigern, warnte unlängst Oberst Pawlo Palissa, der für das Militär zuständige Stellvertreter von Wolodymyr Selenskyjs Büroleiter Andrij Jermak. Die Nachrichtenagentur AP berichtete am vergangenen Wochenende unter Berufung auf ukrainische und westliche Quellen ebenfalls, Russland plane vermutlich eine neue Offensive. Auch der Militärexperte Kofman geht von neuen Angriffen im Frühling und Sommer aus.
Doch die Statistiken der vergangenen Monate widersprechen der These, dass Russland weniger erobere, weil es weniger angreife. Rechnet man das eroberte Gebiet gegen die von der Ukraine gemeldeten Zahlen russischer Bodenangriffe auf, scheint vielmehr das Gegenteil der Fall zu sein: Fast 4.800 Angriffen im November stehen knapp 3.800 Angriffe im März gegenüber, nur ein leichter Rückgang. Für einen eroberten Quadratkilometer waren vor fünf Monaten demnach im Schnitt 6,6 Attacken nötig; im März: 35,5. Was diese Zahlen stützt: Acht russische Soldaten wurden im November im Schnitt pro eroberten Quadratkilometer getötet, 36 im März. Russlands Angriffe werden somit nicht weniger, sie verlieren aber an Schlagkraft – während der Preis, den das russische Militär für Gebietsgewinne zahlt, sich erhöht.
Die Politik von US-Präsident Donald Trump, von der Ukraine harte Zugeständnisse für ein Kriegsende zu verlangen, erweckte in den vergangenen Monaten den Anschein, das Land stehe kurz vor dem Zusammenbruch und sei den Entscheidern in Washington und Moskau wehrlos ausgeliefert. Ein Irrtum, schrieb vergangene Woche der ukrainische Analyst Serhij Kusan in einem Gastbeitrag für den Atlantic Council. In den Gesprächen über eine Waffenruhe sei die "zunehmende militärische Stärke" des Landes ein "unterschätzter Faktor".
Auch Kusan hob dabei vor allem den wachsenden Rüstungssektor in der Ukraine hervor: Habe sein Umfang vor dem Krieg einer Milliarde Dollar Umsatz betragen, seien es nun 35 Milliarden. Diskussionen über die Ausgestaltung eines Waffenstillstandes müssten "den Umstand berücksichtigen, dass die Ukraine inzwischen eine größere militärische Macht aus eigenem Recht ist". Doch auch er warnte vor einem Übermaß an Optimismus: Ohne westliche Unterstützung könne die Ukraine nicht erwarten, Russlands "erdrückenden Vorsprung bei Truppenstärke, Feuerkraft, Industriekapazitäten und Finanzierung" einzuholen. Der Unterton: Die beachtlichen Erfolge der Ukraine bedeuten für Russland keine Katastrophe.
Und darin liegt womöglich der Schlüssel zu Putins demonstrativer Siegesgewissheit. Denn solange ein wenige Tage andauernder Hilfsstopp der USA bei Waffen und Geheimdienstdaten ausreicht, um die ukrainischen Erfolge zu bedrohen, bleibt das Land erpressbar – durch einen US-Präsidenten, mit dem Putin umzugehen weiß. Erstmals seit Kriegsbeginn hält sich in diesen Tagen mit Kirill Dmitrijew ein hochrangiger Gesandter des russischen Staatschefs in Washington auf, um dort mit US-Vertretern über einen Abbau von Sanktionen und weitere Gefälligkeiten zu reden.
Der Beginn der neuen US-russischen Zusammenarbeit gleicht somit das absehbare Ende von Russlands 18 Monate anhaltender Donbass-Offensive aus. "Erledigt", wie Putin sich ausdrückt, wird die Ukraine dadurch nicht. Doch dasselbe gilt auch für seine Ambitionen, den Krieg zu gewinnen – wie auch für die wachsende ukrainische Fähigkeit, die Niederlage zu verhindern.
1136 Tage seit Beginn der russischen Invasion
Die Zitate: Ein Ex-General hofft auf Einsicht
Ben Hodges, ehemaliger Generalleutnant der US-Armee und seinerzeit Oberkommandierender der US-Streitkräfte in Europa, ist seit Langem als Unterstützer der Ukraine bekannt. Schon wenige Monate nach Kriegsbeginn hatte er sich für eine Ausweitung der Waffenlieferungen an das Land ausgesprochen, später für die Aufhebung von Einsatzbeschränkungen bei Langstreckenwaffen: Der Sieg des Landes gegen Russland müsse das Ziel sein, nicht einfach nur eine Einhegung des Konflikts. Die zögerliche Politik des Ex-Präsidenten Joe Biden kritisierte Hodges entsprechend deutlich.
Noch härtere Worte findet der Ex-Militär inzwischen für den aktuellen Präsidenten und seine Sympathien für Russland. Mitarbeitern Donald Trumps, die beim russischen Staatschef einen Willen zum Frieden erkannt haben wollen, sprach er zuletzt auf X das Verständnis für den Konflikt ab:
Russland hat kein Interesse an einem Abkommen, in dem die Ukraine als lebendiger, souveräner Staat überlebt. Die Ukrainer wissen es, die Europäer wissen es, die meisten Amerikaner wissen es. Ich wünschte, das Trump-Team wüsste es.
Anzeichen dafür, dass sich Hodges' Wunsch erfüllt, sind derzeit nicht erkennbar. So sagte Trumps Sprecherin Karoline Leavitt zur Haltung des US-Präsidenten gegenüber Russland und der Ukraine:
Er ist über die Anführer beider Seiten des Krieges frustriert.
Eine derartige Gleichsetzung von Angreifer und Angegriffenem findet sich in Trumps tatsächlichem Handeln bislang allerdings nicht. Der US-Präsident versucht nach wie vor, den Krieg hauptsächlich über Druck auf die Ukraine zu beenden. Das jüngste Beispiel: In Trumps globalem Zollpaket wird der Ukraine der Mindestzollsatz von zehn Prozent auferlegt. Russland und seinem Verbündeten Belarus: null Prozent.
Waffenlieferungen und Militärhilfen: Starlink-Terminals und große Hilfspakete
- Die Niederlande haben angekündigt, die Entwicklung und Produktion von Drohnen in der Ukraine mit 500 Millionen Euro zu unterstützen. Bei der Herstellung von Drohnen ist die ukrainische Industrie weitgehend unabhängig von westlichem Material, nicht aber von der Finanzierung durch die Unterstützerländer.
- Schweden hat der Ukraine sein bisher größtes Paket an Militärhilfe im Wert von 1,5 Milliarden Euro zugesagt. Mehr als die Hälfte der Summe solle zusätzliche Bestellungen von Waffen für die kommenden zwei Jahre finanzieren, kündigte das Verteidigungsministerium in Stockholm an. Zudem wolle Schweden unmittelbar Waffen im Wert von mehr als 80 Millionen Euro in die Ukraine liefern. Dabei gehe es unter anderem um Munition, Maschinengewehre und Wartungsgerät für Militärflugplätze.
- Dänemark unterstützt die ukrainische Armee mit weiteren knapp 900 Millionen Euro. Dem dänischen Verteidigungsministerium zufolge soll damit unter anderem die Lieferung von Artillerie- und Flugabwehrsystemen bis ins Jahr 2027 hinein finanziert werden. Ein großer Teil der Summe sei zudem für die Ausweitung der ukrainischen Rüstungsproduktion bestimmt.
- Nach Angaben des ukrainischen Digitalministers Mychailo Fedorow hat Polen der Ukraine weitere 5.000 Terminals für das Satellitennetzwerk Starlink bereitgestellt. Insgesamt seien inzwischen mehr als 50.000 solcher Terminals in der Ukraine im Einsatz, fast 30.000 von ihnen habe Polen gespendet.
Unterm Radar: 10.000 Bomben und die erste drohnenfreie Nacht
Die 91. Nacht dieses Jahres – von Montag auf Dienstag dieser Woche – war zugleich die erste, in der Russland die Ukraine nicht mit Drohnen attackierte. Derartige Pausen sind rar: Zuletzt war das im Dezember der Fall, mutmaßlich wegen dichten Nebels, davor im Oktober – womöglich aufgrund eines ukrainischen Angriffs auf ein Drohnenlager mehrere Tage zuvor. Sicher ist das jedoch nicht. Die Pause in der Nacht auf Dienstag fand seitens ukrainischer Behörden bislang keine plausible Erklärung.
Vor allem täuscht sie darüber hinweg, wie sehr sich die russischen Luftangriffe in den vergangenen Monaten intensiviert haben, den Gesprächen über eine Waffenruhe bei Angriffen auf zivile Ziele zum Trotz. Denn mit 4.196 Kamikaze-Drohnen setzte Russland im März erneut so viele Drohnen ein wie in keinem Monat zuvor. Noch im Januar waren es nach ukrainischen Angaben gut 2.500 gewesen.
Auch bei Angriffen mit Lenkbomben kann von einer Pause keine Rede sein. Das ukrainische Verteidigungsministerium spricht von 4.800 Bomben, die im März abgeworfen worden seien – fast die Hälfte der mehr als 10.000 Bomben, die Russland seit Jahresbeginn eingesetzt habe. Russland wiederum meldet zunehmende ukrainische Drohnenangriffe und legt der Ukraine Attacken auf Energieobjekte zur Last.
Der Ostcast - : Sie sagen Frieden, aber sie meinen Kapitulation
Der Ausblick: Ramstein ohne USA?
Am kommenden Freitag findet das zweite Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe im sogenannten Ramstein-Format unter neuer, britischer Führung statt. Nach Dutzenden Treffen unter Leitung der USA hat Großbritannien diese Rolle übernommen. Wie die britische Nato-Vertretung ankündigte, wird die Konferenz mit Deutschland im Nato-Hauptquartier in Brüssel ausgerichtet.
Einem bislang unbestätigten Bericht des US-Portals Defense News zufolge könnten die USA dem Treffen nicht nur nicht mehr vorsitzen, sondern dort sogar gänzlich fehlen: US-Verteidigungsminister Pete Hegseth werde an der Konferenz nicht teilnehmen. Auch plane er nicht, hochrangige Vertreter zu entsenden.
Am Tag vor der Konferenz findet laut britischen Angaben ein Treffen in engerem Zirkel statt: Zusammen mit Frankreich wolle Großbritannien eine weitere Gesprächsrunde unter Vertretern von Staaten führen, die offen für einen Einsatz von Friedenstruppen nach Kriegsende in der Ukraine sind. Konkrete Pläne hat diese sogenannte Koalition der Willigen nicht präsentiert.
Über den Tellerrand: US-Abhängigkeit und russisches Fernsehen
- Guns speak louder than words: Nicht nur bei der Abwehr von ballistischen Raketen bleibt die Ukraine auf absehbare Zeit abhängig von US-Lieferungen. Das exilrussische Portal The Insider hat eine Übersicht der US-Hilfen erstellt.
- Good Americans and bloodthirsty Europeans: Mit dem Regierungswechsel in den USA tauscht Russlands Staatsfernsehen die Feindbilder aus und schießt sich auf Europa ein. Das ukrainische Portal Texty.org analysiert den neuen Fokus der Propagandasender.
Die vergangene Folge des Wochenrückblicks finden Sie hier.
Verfolgen Sie alle aktuellen Entwicklungen im russischen Krieg gegen die Ukraine in unserem Liveblog.