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Maxeiner und Miersch: Standpunkte. Neuer Dünkel
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Wortmarke Maxeiner und Miersch

Standpunkte

Neuer Dünkel

Hintergrund:
Die gebildeten Schichten grenzen sich wieder stärker nach unten ab.

 

Rückkehr der Klassengesellschaft

von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Erschienen am 06.10.2006 in DIE WELT

Ein sympathischer Charakterzug Deutschlands ist seine vertikale Durchlässigkeit. Im In- und Ausland erzählen wir stets voller Stolz, dass es bei uns Bauernsöhne zum Präsidenten bringen konnten, Töchter von Dorfpfarrern und Söhne von Putzfrauen zum Kanzler, Fabrikarbeiter, Fliesenleger, Taxifahrer und Bäcker zum Minister. Eine relativ offene Oberschicht unterscheiden unser Land wohltuend von Frankreich, wo man normalerweise in der ENA (École nationale d'administration) gewesen sein muss, um in den Elite-Klüngel aufgenommen zu werden. Selbst in den Vereinigten Staaten, die ja demonstrativ egalitäre Umgangsformen pflegen, blieben Karrieren wie die von Bill Clinton die Ausnahme. Hierzulande dagegen waren sogar Konzerne durchlässig. Es kam gar nicht so selten vor, dass es begabte Köpfe von der Werkbank bis in die Vorstandetage schafften.

Fragt sich nur, ob das noch lange so geht. Während die Bekenntnisse zur Gleichheit aus den Parteien immer lauter und schriller tönen, wird der gesellschaftliche Trend zur Abschottung nach unten unübersehbar. Immer mehr Bürger verschaffen sich mit Geld Privilegien, während die egalitären Institutionen Schritt für Schritt schäbiger aussehen. Wer es sich leisten kann, geht zur privaten Renten- und Krankenversicherung, schickt seine Kinder in Privatschulen und in ebensolche Kindergärten oder fördert sie zumindest mit teurem Nachhilfeunterricht. Die öffentlichen Institutionen, die ja eigentlich für alle da sein sollen, werden zu Verwahranstalten für die Armen und deren Kinder. Unter dem Primat der Gleichheit ist die Gesellschaft stetig ungleicher geworden.

Die Kultur ist inzwischen ebenso strikt sozial segregiert wie die Wohnviertel. Einst war Fernsehen ein kulturell verbindendes Element. Heute ist die Trennung der Programme für Unter- und Mittelschichtler so absolut, dass die eine Gruppe oftmals keinen Schimmer hat, was die andere dort geboten kriegt. Ungerechterweise darf die Zielgruppe des "Unterschichtfernsehens" via Gebühren "arte" mitfinanzieren.

Die sozialdemokratische Gleichheitspolitik der siebziger Jahre war zunächst ein Erfolg. Führte dann aber in ihrer konsequenten Anwendung auf immer mehr Bereiche zur Erosion des Leistungsgedankens. Ausgerechnet die Generation, die davon am stärksten profitierte, treibt nun die Entegalisierung der Gesellschaft voran. Die Gewinner der Bildungs-, Kultur- und Gleichstellungsoffensiven wollen sich nach unten abgrenzen. Dünkel ist wieder erlaubt. Die, die es geschafft haben, vergessen, dass ihr postmaterielles Universum über einem weiterhin materiellen schwebt, in der sich nach wie vor die Wirklichkeit großer Teile der Bevölkerung abspielt. Kopfschüttelnd bestaunen sie die "Prolls" in den Freakshows der Privatsender und sorgen dafür, dass ihr Nachwuchs nicht mit Unterschichtkindern in Berührung kommt.

Die Tür zur Bildung wird wieder verschlossen. Einkommen der Eltern und Schulabschluss korrelieren hierzulande stärker als in den USA, die gern als Beispiel sozialer Kälte herangezogen werden. Die Unbefangenheit mit der das arrivierte Kleinbürgertum von "Prolls", "Loosern" oder "White Trash" spricht, steht im auffälligen Gegensatz zur sozialdemokratisch geprägten Kultur des vergangenen Vierteljahrhunderts, wo diese Bevölkerungsschichten teils idealisiert, teils mit institutioneller Fürsorge gehätschelt wurden.

Auch wenn sich mancher durch eifrige Dünkelpflege besser fühlen mag. Aus eigener Erfahrung können wir nur empfehlen, gelegentlich Kontakt zur Welt jenseits von Oper, gepflegtem Weißwein und Designermöbeln aufzunehmen. Das ist erstens besser für den Zusammenhalt unseres Landes. Und zweitens geht es in Eckkneipen meist viel lustiger zu als auf den Festivitäten des Bildungsbürgertums, wo Event-Agenturen für gehobene Langeweile sorgen.