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Interview mit Leon de Winter: "Manchmal haben wir nur die Wahl zwischen Desaster und Katastrophe" - DER SPIEGEL
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Interview mit Leon de Winter "Manchmal haben wir nur die Wahl zwischen Desaster und Katastrophe"

"Wie kann man überleben, wenn man sich an Regeln hält, die der Feind nicht akzeptiert", fragt der niederländische Schriftsteller Leon de Winter. In SPIEGEL ONLINE wirft er den Europäern Naivität im Umgang mit islamistischen Terroristen vor und erklärt, dass ihnen mit dem Rechtsstaat nicht beizukommen ist.
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

SPIEGEL ONLINE:

Herr de Winter, Mohammed Bouyeri, der Mörder des Filmemachers Theo van Gogh hat vor Gericht gesagt, er möchte zum Tode verurteilt werden. Inzwischen wurde er zu lebenslanger Haft verurteilt. War das sein letzter Triumph gegen das liberale holländische System?

De Winter: Ja, er wollte etwas haben, das ihm die holländische Justiz und die holländische Gesellschaft nicht geben kann. Ein weiteres Zeichen, dass er sich völlig von der Wirklichkeit losgelöst hat. Bouyeri lebt in einer imaginären, mittelalterlichen Welt. Zu dieser Zeit war das Leben nichts wert, es war nur das Vorspiel zum Tod. Auf der Erde gab es nur Armut, Angst und Krankheiten, das Leben war kurz und beschwerlich, die Leute starben, wenn sie 30 wurden oder wenn sie die Grippe bekamen. Schön wurde es erst danach - im Himmel, bei Gott. Und dieser Junge, der hier in Amsterdam aufgewachsen ist, hat nach den Vorstellungen des Mittelalters gelebt. Wir reden hier nicht über einen Verrückten oder einen totalen Außenseiter, wir reden über einen, der mitten unter uns gelebt hat. All das, was diese Gesellschaft an Freiheiten, an Gelegenheiten bietet, ist ihm egal. Er will nur eines: sterben.

SPIEGEL ONLINE: Sollte man ihm die Gelegenheit dazu geben?

De Winter: Ja, man sollte ihm die Schnürsenkel und den Gürtel in der Zelle lassen, dann kann er Selbstmord begehen.

SPIEGEL ONLINE: Eigentlich gelten Sie ja als ein entschiedener Gegner der Todesstrafe.

De Winter: Ja, aber nur aus einem Grund: Das System ist nicht perfekt. Man kann nie ausschließen, dass ein Unschuldiger verurteilt und hingerichtet wird. Das ist ein unerträglicher Gedanke. Sonst wäre ich nicht grundsätzlich gegen die Todesstrafe. Bei Kindermördern und Serienmördern wäre ich dafür - wenn es eine hundertprozentige Beweissicherheit gäbe. Aber die gibt es nicht, deswegen bin ich dagegen, dass die Todesstrafe angewandt wird. Aber ich bin dafür, dass sie verhängt wird, als Symbol, als Akt der Ächtung durch die Gesellschaft. "Todesstrafe" müsste dann eben tatsächlich "lebenslänglich" bedeuten.

SPIEGEL ONLINE: Wurde der Mörder des Politikers Pim Fortuyn nicht auch zu lebenslanger Haft verurteilt?

De Winter: Nein, er bekam 18 Jahre. Das bedeutet, dass er nach 12 Jahren frei kommt. Das Gericht meinte, die Gefahr, dass er noch einmal jemanden ermordet, sei sehr gering. Er kann ja Pim Fortuyn nicht zum zweiten Mal umbringen. Das Problem liegt in der Struktur des Rechtsstaates. Er kann nicht Gesetze für besondere Fälle erlassen. Ein Mörder ist ein Mörder, und deswegen wird ein Terrorist genauso behandelt wie ein "normaler" Killer, der aus Gier oder Angst handelt, sein eigenes Leben aber retten möchte. Die Gesetze, die wir haben, sind nicht für Leute wie Mohammed Atta oder Mohammed Bouyeri gemacht worden. Solche Fälle konnte man sich früher nicht einmal vorstellen.

SPIEGEL ONLINE: Im Militärischen heißt dieses Dilemma "asymmetrische Kriegsführung". Gibt es auch eine asymmetrische Gesetzgebung?

De Winter: So ist es. Reguläre Armeen können mit dem Terrorismus nicht fertig werden und reguläre Gesetze taugen nicht für die Bekämpfung und Bestrafung der Terroristen. Die machen, was sie wollen, und wenn sie dabei erwischt werden, verlangen sie, dass man sie nach den Regeln behandelt, die sie verachten und die sie nie praktizieren würden, wenn sie das Sagen hätten. Das ist das große Handicap von Demokratien und Rechtsstaaten: Die Terroristen wissen, dass diese sich an die Spielregeln halten, auch im Extremfall. Die Frage, die sich uns stellt, ist daher: Wie kann man überleben, wenn man sich an Regeln hält, die der Feind nicht akzeptiert?

SPIEGEL ONLINE: Die Amerikaner lösen das Problem in Guantanamo auf ihre Weise.

De Winter: Ja. Und dann ist die Empörung der Öffentlichkeit über die Behandlung der Gefangenen größer als die Einsicht, dass die Leute, die dort festgehalten werden, nicht bloß Autos geklaut oder mit Drogen gehandelt haben. Diese Art der "Kriegsführung" ist uns von den Terroristen aufgezwungen worden.

SPIEGEL ONLINE: In Deutschland gibt es einen verurteilten Kindermörder, der sich jetzt an den europäischen Gerichtshof gewandt hat, weil ihm nach seiner Festnahme mit Folter gedroht wurde.

De Winter: Das ist pervers. Genauso wie die Sorgen des Roten Kreuzes oder von Amnesty International über die Haftbedingungen für Saddam Hussein. Wir müssen begreifen, worauf es ankommt: dass wir als Individuen und als Gesellschaft am Leben bleiben. Sonst haben alle anderen Freiheiten keinen Sinn. Ich kann nicht die Pressefreiheit genießen, wenn ich tot bin, ums Leben gekommen bei einem Terroranschlag. Das klingt banal, aber das ist der Kern der Sache. Im Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten den Feind mit aller Macht bekämpft. Es kam dabei zu Grausamkeiten, viele Menschen sind im "friendly fire" umgekommen. Ein großer Teil von Den Haag wurde von den Alliierten zerstört. Aber die Holländer wussten: Es geht nicht anders.

SPIEGEL ONLINE: Soll man also Ihrer Meinung nach das Feuer mit Brandstiftung bekämpfen?

De Winter: Das Leben besteht nicht nur aus der Wahl zwischen Mallorca und Ibiza, Thailand oder Madagaskar. Manchmal hat man nur die Wahl zwischen einem Desaster und einer Katastrophe, und dann muss man sich daran erinnern, dass es die erste und wichtigste Aufgabe des Staates ist, das Leben und die Sicherheit seiner Bürger zu garantieren. Wenn er das nicht kann, schafft er sich selbst ab.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie nicht, dass sich die Stimmung in Europa nach den Anschlägen von London geändert hat?

De Winter: Ich habe da so meine Zweifel. Wenn sie zugeben würden, dass wir es mit einem Problem zu tun haben, das man mit der sozio-ökonomischen Lage der Terroristen nicht erklären kann, dann müssten sie zugeben, dass sie bis jetzt völlig daneben gelegen haben. Es geht nicht nur um Erziehung, Familienverhältnisse oder wirtschaftliche Umstände, es geht um mehr. Und dieses "mehr" wollen die Politiker nicht akzeptieren, weil es gefährlich und unheimlich ist.

SPIEGEL ONLINE: Woraus besteht denn dieses "mehr"?

De Winter: Wir können den Terrorismus nicht mit konventionellen Modellen wie Armut, Unterdrückung oder Mangel an Perspektiven erklären. Sie reichen aus, um die Aggressivität von arbeitslosen Jugendlichen zu analysieren, nicht aber das Verhalten von Terroristen, die bereit sind, eine Kathedrale, den Vatikan oder einen Atomreaktor in die Luft zu jagen. Aber wir tun trotzdem so, als hätten wir es mit benachteiligten, schwer erziehbaren Jugendlichen zu tun, weil wir uns zumindest auf diesem Gebiet gut auskennen. Und deswegen fragen sich jetzt wieder alle, ob in England, in Deutschland oder hier bei uns in Holland: Was haben wir falsch gemacht, dass die so geworden sind? Viele fragen sich: Wer hat diese vier verführt? Wer war es, der sie einer Gehirnwäsche unterzogen hat? Dahinter steckt die Überlegung, dass sie nichts dafür können. Aber diese jungen Männer waren nicht dumm, sie waren nicht ungebildet, sie waren nicht arm. Sie haben eine böse Idee in die Tat umgesetzt, weil sie es wollten.

SPIEGEL ONLINE: Wie soll Europa damit umgehen?

De Winter: In gewissem Sinne hat durch die Anschläge eine europäische Einigung stattgefunden. Man könnte sogar sagen: Die Terroristen schaffen ein vereintes Europa. Denn langsam begreifen die Europäer, dass es eine gemeinsame Gefahr und keine sicheren Zonen gibt. Wir brauchen keine Verfassung, wir haben Terroristen, die grenzüberschreitend agieren. Nationen werden selten aus einem positiven Impuls heraus geboren, meistens steht am Anfang ein Akt der Gewalt.

SPIEGEL ONLINE: Dann würde noch mehr Terror noch mehr europäisches Bewusstsein stiften. Das klingt ein bisschen absurd, finden Sie nicht?

De Winter: Wir alle hoffen und beten, dass nichts Schlimmes passieren wird. Aber wenn es hier wirklich zu einem Anschlag wie auf das World Trade Center in New York käme, würde das die Europäer zusammenrücken lassen. Dafür waren die Anschläge von London noch nicht schlimm genug. Jetzt richten sich alle Augen auf Rom: es ist das Zentrum des Katholizismus, Italien ist mit den USA verbündet, vor allem aber ist es eine liberale Gesellschaft, in der alles erlaubt ist, was die Terroristen hassen: Gutes Leben, individuelle Freiheit, lockere Moral.

SPIEGEL ONLINE: Und uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten?

De Winter: Es sei denn, die Muslime unternehmen selber etwas, um solche Anschläge zu verhindern. Das ist zurzeit meine einzige Hoffnung. Es reicht nicht, dass sie hinterher sagen: "Wir haben damit nichts zu tun, die Terroristen handeln weder in unserem Namen noch im Namen des Islam". Sie müssen begreifen, dass die Terroristen aus ihrer Mitte kommen und dass das, was sie tun, mit dem Islam zu tun hat. Das müssen sie einsehen, um solche radikalen Tendenzen neutralisieren zu können. Wir sind nicht in der Lage, den Terroristen wirksam zu begegnen, wenn die Muslime uns nicht dabei helfen.

SPIEGEL ONLINE: Vor ein paar Jahren hofften wir auf ein "Ende der Geschichte", wie es uns Francis Fukuyama versprochen hatte, jetzt erleben wird, dass die Geschichte eine Wundertüte voll hässlicher Überraschungen ist.

De Winter: Es war ein Traum, ein wunderbarer Traum. Er dauerte vom Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa bis zum Einsturz der Twin Towers. Es waren zwölf herrliche Jahre, die besten des 20. Jahrhunderts. Vielleicht die besten, die Europa je hatte. Das war auch der größte Schock für mich nach dem 11. September: dass diese zeit vorbei war und sie nie zurückkehren würde. Ich kann verstehen, dass viele Menschen weiterträumen und nicht anerkennen wollen, was um sie herum passiert. Oder dass sie nach einfachen Erklärungen suchen, wie: "Wenn die Amerikaner den Irak verlassen, wird alles wieder gut." Oder: "Wenn wir nett zu den Islamisten sind, werden sie uns nichts tun." Ich wünschte, es wäre so. die aufgeklärten Europäer haben keine Vorstellung davon, was die Fanatiker antreibt. es ist die Idee vom herrlichen Leben nach dem Tode. Alles andere sind Ausreden, Vorwände, Rationalisierungen des Irrationalen. Wir haben es mit einem neuen Totalitarismus zu tun. Nein, er ist nicht neu, er ist nur anders. Nach dem linken Faschismus der Sowjets, nach dem rechten Faschismus der Nazis, ist der Islamismus der Faschismus des 21. Jahrhunderts.

Das Interview führte Henryk M. Broder

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