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Charlotte Roches "Schoßgebete": Ratio und Fellatio - DER SPIEGEL
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Charlotte Roche: Vom Girlie zur Bestsellerin

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Charlotte Roches "Schoßgebete" Ratio und Fellatio

Blowjobs und Frauenrechte, Rock'n'Roll-Rausch und Biokost: In ihrem Buch "Schoßgebete" zeichnet Charlotte Roche Lust und Leid einer modernen Selbstoptimiererin nach. Ein funkelnder Sexroman - der noch besser wäre, wenn sie darin nicht ihr eigenes Familientrauma so grob ausgekübelt hätte.

Der Unterschied zwischen einem Mann und einer Frau? Wenn man den neuen Roman von Charlotte Roche gelesen hat, erscheint der einem ganz einfach zu benennen: Während er beim Sex grunzt und wie blöde die Augen verdreht, herrscht bei ihm im Dachstübchen tatsächlich Denkpause. Während sie grunzt und die Augen verdreht, arbeitet der Kopf auf Hochtouren. Da läuft schon mal ein ganzer Roman beim Vögeln ab.

Eben so einer wie Roches am Mittwoch erscheinendes Buch "Schoßgebete", in dem die Ich-Erzählerin als 20-seitige Ouvertüre einen Blowjob beschreibt, der sie zum Grübeln bringt über die vertrackte und ziemlich wackelige Konstruktion ihrer eigenen Identität: die Fellatio als Schlüssel zur Ratio?

Eine riskante Strategie hat die Bestsellerautorin Charlotte Roche für ihr zweites Werk gewählt, das von ihrem Verlag in einer optimistischen Startauflage von einer halben Million Exemplaren in die Läden gestellt wird: einen Sexroman, der als Mischung aus Frauenzeitschriftenkolumne und Bewusstseinsstrom im Stile James Joyces ins Innere einer modernen Multitaskerin vordringt. Da wird auch und gerade der Sex zum Mittel der Selbstdarstellung und Selbstreflexion.

Sex als Mittel der Selbstdefinition

Roches Romanheldin Elizabeth lebt mit einem Kind aus einer anderen Beziehung und ihrem Freund ein eigentlich ganz feines Leben, materiell und sozial sind die beiden gut aufgestellt. Wie sie mehrmals erzählt, sei ihr Freund finanziell genauso gesegnet wie körperlich. Die beiden haben regelmäßig sehr interessanten Sex, danach gibt es stets Biokost. Damit es nicht zu langweilig wird, gehen sie gelegentlich in ein Bordell, wo sie sich mit einer Prostituierten vergnügen. Sie fast genauso sehr wie er.

Abschalten aber kann Roches Elizabeth so recht nie. Dabei pocht sie doch am Anfang ihrer Geschichte ziemlich penetrant darauf, dass sie nur im Bett mit ihrem Mann (und eben gelegentlich einer Prostituierten) alle Sicherungen der Selbstkontrolle lösen kann. Ist natürlich glatt gelogen: Selbst der Sex, so einfallsreich, enthemmt und lustbetont er auch von der Autorin und ihrer Ich-Erzählerin in Szene gesetzt wird, ist hier lediglich ein Mittel zur Ausdeutung der eigenen Person.

Einer Person, die Roche offensiv deckungsgleich mit sich selbst angelegt hat. Wie sie selbst ist ihre Romanheldin 33 Jahre alt, hat eine Tochter, sieht sich von einer großen Boulevardzeitung verfolgt und leidet unter einem schweren Familientrauma: Bei einem Autounfall am Tag vor der eigenen geplanten Hochzeit kamen einst ihre drei Brüder ums Leben.

Klar gilt für Charlotte: Elizabeth c'est moi. Und zwar so klar, dass sich die angestrengte Suche nach Ähnlichkeiten zwischen Romanfigur und realer Bestsellerautorin erübrigen. Ob das nun dem Narzissmus der Autorin geschuldet ist oder nicht - es erscheint erst mal als passable Taktik, die Aufmerksamkeit des Lesers in die richtige Richtung zu lenken: Statt darüber zu rätseln, was uns die Promi-Autorin über sich selbst mitteilt, können wir beim Lesen gleich zum Wesentlichen übergehen: die Stimmigkeit der von ihr geschaffenen Figur, der Qualität ihrer Literatur. Und die ist richtig gut - und zugleich richtig übel.

Jan Delay versus Alice Schwarzer

Richtig gut, wenn sie über Sex schreibt und darüber, wie sie das Selbstbild ihrer Heldin mitformt. Richtig übel, wenn sie auf 80 Seiten das eigene Familientrauma runterleiert, als läge sie auf der Couch ihrer Therapeutin. Erzählt Roche vom Sex, dann funkelt ihre Sprache, dann schlägt sie wunderbare Haken, führt auf diese Weise in verborgenste, in hellste und düsterste Winkel des menschlichen Bewusstseins. Erzählt sie über ihr Trauma, dann kübelt sie einfach nur ihren seelischen Müll vor dem Leser aus: Seht her, so schlecht ging es mir!

Das ist umso ärgerlicher, weil Roches Elizabeth bei allen abseitigen Sexualpraktiken eigentlich als universale Figur funktioniert. Der plumpe Selbsttherapierungsversuch der Autorin, der Alles-muss-raus-Schreib-Aktionismus nimmt ihrem Werk die allgemeine Verbindlichkeit. Nach dem Motto: Na, bei so einem Trauma kann man ja nur sonderbaren Sex haben.

Dabei geht die Mittdreißigerin Elizabeth eigentlich als Prototyp einer Selbstoptimiererin modernen Zuschnitts durch, die auf sehr anstrengende Weise die unterschiedlichsten Dinge für sich beansprucht: Frauenrechte und Hingabe, animalischen Sex und Heizdeckenheimeligkeit, Rock'n'Roll-Rausch und ungespritzten Wirsingkohl, Jan Delay und Alice Schwarzer.

Das Problem ist nur: Wie kann man sich in all diesen Belangen verwirklichen, ohne sich völlig aufzureiben? In allen Disziplinen versucht sie die Beste und die Aufgeschlossenste zu sein, als Liebesdienerin für ihren Freund genauso wie als Feministin, als Abenteurerin genauso wie als Bio-Mutti, ja als Psychoanalysepatientin genauso wie als Kundin einer Prostituierten. Mache ich auch wirklich alles besser, klüger und radikaler als andere Frauen? Das ist die ständige Frage, von der das Alpha-Mädchen getrieben wird.

Es spricht der Enddarm

Dabei ist es Roches große Stärke, ihr Alter Ego nicht als dümmliches Opfer ihrer eigenen Ambitionen darzustellen, sondern als blitzgescheite Hasardeurin, die sich durch unterschiedlichste Ideologien, Lebensentwürfe und Selbstprüfungen schlägt. Und am besten kommt das eben in den Bettszenen zum Ausdruck, etwa in dieser hier, wo es um Lust und Zweifel in Sachen Analsex geht: "Mein Frauenbewegungshirn redet mir, mit dem Schwanz meines Mannes im Po, ständig aus, dass das geil sein kann, und währenddessen redet mein Enddarmausgang mir ein, dass das sehr wohl sein kann. Wem soll ich denn jetzt glauben?"

Alice versus Anus. Das sind so die tragikomischen Zuspitzungen, von denen es in "Schoßgebete" wimmelt und die die Leser oder wohl eher: die Leserinnen auf eine harte Probe stellen. Ja, wem soll man denn nun trauen: seinem kritischen Geist oder seinen körperlichen Bedürfnissen? Es ist die große Leistung von Roche, dass sie auf solche Fragen erst gar nicht Antworten zu geben versucht.

Ihr Roman lässt sich als Meta-Frauenliteratur bezeichnen: Sie ahmt drastisch überzeichnend den männerheischenden "Versuchen sie es doch mal"-Gestus von Frauenzeitschriftenkolumne nach, lässt ihre Heldin jeden Körperflüssigkeitsaustausch mit dem unerbitterlichen Blick der Frauenrechtlerin kommentieren - und bringt dabei in den vielen durchaus lebensbejahenden Momenten ihres Sexromans alle weiblichen Identitätskonstruktionen lustvoll zum Einsturz.

Zurück bleibt die milde Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch noch vertragen, die Fellatio und der Feminismus.