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Arbeiterkinder und Migranten: Wenn die Uni fremdes Terrain ist - DER SPIEGEL
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Arbeiterkinder und Migranten Wenn die Uni fremdes Terrain ist

Studieren ist für viele Abiturienten selbstverständlich - für Arbeiter- oder Migrantenkinder nicht. Sie müssen sich oft ohne Unterstützung der Eltern durchbeißen und auf eigene Faust eine neue Welt erobern. Spezielle Programme geben Geld, Informationen, Selbstvertrauen.
Von Susanne Kailitz

Auf die Idee, sie könnte nicht hierher gehören, kommt in der Dresdner Uni wohl niemand. In Strickpulli, Jeans und Stiefeln sieht Maren Gnerlich, 27, genauso aus, wie man sich eine Studentin vorstellt. Trotzdem war sie zu Anfang ihres Studiums kurz davor, alles hinzuschmeißen. "Ich fühlte mich so schrecklich deplaziert, ich hatte permanent das Gefühl, hier falsch zu sein", erinnert sie sich. "Alle um mich herum erschienen mir wissender und viel selbstsicherer."

Dass die akademische Welt der jungen Frau so fremd ist, liegt an ihrer Herkunft: Gnerlich ist ein klassisches Arbeiterkind. Ihre Mutter ist ungelernt, ihr Vater Bergarbeiter - und dass ihr Kind in Dresden Politikwissenschaften und Soziologie studiert, haben sie bis heute nicht akzeptiert. "Aufs Gymnasium zu gehen und das Abitur zu machen, war noch in Ordnung. Aber warum ich etwas wie ein Studium mache, bei dem nicht klar ist, ob ich danach sofort einen Job haben werde, hat in meiner Familie niemand verstanden. Entsprechend gab es enormen Widerstand."

Dabei hatte Gnerlich erst alles so gemacht, wie die Eltern es wollten: Nach dem Abitur absolvierte sie eine Ausbildung zur Finanzbeamtin. "Aber ich habe schnell gemerkt, dass das nichts für mich ist." Doch auch mit dem Entschluss zu studieren wurde nicht gleich alles besser. "Die Welt der Uni kannte ich nicht und ich hatte daheim niemanden, den ich fragen konnte. Wie man Hausarbeiten schreibt oder Referate hält, wusste ich nicht", sagt Maren Gnerlich. Eigentlich wollte sie noch im ersten Semester hinschmeißen, "aber dann habe ich mich durchgebissen".

Alles auf eigene Faust

Heute sitzt sie gemeinsam mit Katrin te Poel im Bierkeller der Dresdner Mensa. Beide sind seit kurzem Mentorinnen für das Programm "Arbeiterkind". Gegründet von der Gießener Amerikanistik-Doktorandin Katja Urbatsch, will "Arbeiterkind" denen helfen, die als Erste in ihrer Familie studieren. Und denen daheim niemand sagen kann, wie man einen Bafög-Antrag stellt oder das erste Referat vorbereitet.

Auch Katrin te Poel, 24, hat sich als Mentorin gemeldet. Anders als Maren Gnerlich wurde sie bei ihrer Entscheidung für das Studium von den Eltern unterstützt. "Aber fachlich helfen konnten sie mir natürlich nicht - meine Mutter ist Hausfrau, mein Vater Maurer. Wie hätten die beiden mir denn erklären sollen, wie so eine Immatrikulation funktioniert?"

Am Anfang habe es ihr zugesetzt, sich mit vielen Dingen nicht auszukennen und im Kontakt mit den Dozenten nicht so selbstsicher zu sein wie viele ihrer Kommilitonen, gibt die zierliche blonde Frau zu. Sie studiert Berufsschullehramt für Sozialpädagogik und bekommt ein Stipendium. Und sie strahlt, wenn sie erzählt, dass diese Hemmungen längst passé sind. Sie hat sich durchgeboxt - das gibt Selbstvertrauen.

Die Eltern machen sich Sorgen

Katrin te Poel ist froh, sich viele Informationen erkämpft zu haben. "Vor dem Studium habe ich mir immer Sorgen gemacht, wie ich das finanzieren soll. Ich habe gar nicht gewusst, dass ich das Recht auf Bafög hatte." Ihre Eltern sind stolz auf ihre Tochter, auch wenn sie mit deren Leben in Dresden nur wenig anfangen können. "Sie machen sich immer noch große Sorgen, ob ich einen Job finden werde. Und natürlich erzähle ich zu Hause nur wenig von dem, was ich hier inhaltlich mache. Das ist einfach eine andere Welt", erzählt die Studentin.

Auch Tarik Frank*, 21, hat eine neue Welt für sich erobert. Seit drei Semestern studiert er an der Berliner Humboldt-Universität Jura und bezeichnet sich selbst als "typischen Zweite-Generation-Mensch", mit einer deutschen Mutter und einem ägyptischen Vater. Seit einem halben Jahr wird er durch die Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert.

Die SPD-nahe Ebert-Stiftung zählt zu den großen deutschen Begabtenförderungswerken. Seit einem Jahr bietet sie, wie auch die liberale Naumann-Stiftung und die CSU-nahe Seidel-Stiftung, ein Stipendium auf Probe an, für das sich schon Abiturienten bewerben können. Auch die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung fördert in einer "Aktion Bildung" seit 2007 junge Menschen aus Familien, die sich ein Studium ihrer Kinder nicht leisten können. Und die Vodafone-Stiftung gibt Geld für junge Migranten an privaten Hochschulen, um so benachteiligte Gesellschaftsgruppen zu unterstützen.

"Ich werde angesehen wie vom anderen Stern"

Frank hat nie damit gerechnet, irgendwann Geld von einem Begabtenförderwerk zu bekommen: "Ich dachte immer, für sowas müsste man ein Genie oder politisch total engagiert sein." Seinen Abi-Schnitt von 1,8 empfindet er nicht als umwerfend, "zur Crème de la Crème gehöre ich damit ja nicht". Bis heute hat er Hemmungen, in der Uni oder den Seminaren der Stiftung genau zu sagen, wo er herkommt: "Meine Mutter ist Hausfrau mit sechs Kindern, mein Vater Taxifahrer, wir leben im Wedding. Wenn ich das erzähle, werde ich angesehen wie vom anderen Stern. Viele Leute aus Bildungsbürgerhaushalten haben so jemanden wie mich noch nie getroffen."

Frank lacht, wenn er das erzählt. Aber sein Gesicht macht klar, dass es in der Vergangenheit nicht nur lustig war, immer wieder gegen Klischees anzurennen. Es schmerzt, wenn das eigene Zuhause von anderen als Ort wahrgenommen wird, den man lieber meidet.

Erste Hilfe für Studenten

Das Wichtigste am Stipendium ist für ihn, genug Geld zu bekommen, um ohne Nebenjobs studieren zu können. Aber er profitiert davon auch auf andere Art: "Ich bin viel selbstbewusster und denke nicht mehr automatisch, dass alle anderen doppelt so gut sind wie ich. Ich traue mich jetzt, in den Seminaren etwas zu sagen."

Wie Gnerlich und te Poel in Dresden will Frank anderen, die aus ähnlichen Verhältnissen kommen wie er, dabei helfen, ihren Weg zu finden. In seinem Berliner Kiez hat er ein Projekt angestoßen, bei dem Abiturienten über ihre Möglichkeiten informiert werden sollen.

"Wir wollen ihnen zeigen, dass man es auch schaffen kann, wenn man aus dem Wedding kommt", sagt Frank. "Viele wissen nicht, dass es gar nicht so schwer ist, ein Stipendium zu bekommen - die glauben, dass sie das im Leben nicht schaffen können. Und dann kann ich sagen: Doch. Und ich weiß, wie's geht."

*Name geändert

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