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Schulddiskurs 1945-1955 : "Leben"
 
Schulddiskurs 1945–55
Leben
lebend · überleben · Überlebende
Opferdiskurs

Von den Opfern nach ihrer Befreiung im Sinn von 'wiedererlangte Existenz' gebraucht zur Bezeichnung ihres neuen Status, z. B. in Verbindungen wie an unser neues Leben herangehen; mit dem Leben davongekommen; das neugewonnene Leben; das neue Leben; noch am Leben sein (s. Tagebucheintrag vom 15. April 1945, zit. nach Überlebensmittel 2003, S. 68; Dahlem 1945, S. 251; Frankl 1945, S. 19; Frankl 1945, S. 251 Adelsberger 1956, S. 103). Jean Améry reflektiert kritisch das Überlebthaben im Zusammenhang mit der Befreiungssituation: "Wir Auferstandenen sahen alle ungefähr so aus, wie die in Archiven aufbewahrten Fotos aus den April- und Maitagen von 1945 uns zeigen: Skelette, die man belebt hatte mit angloamerikanischen Cornedbeef-Konserven, kahlgeschorene, zahnlose Gespenster, gerade noch brauchbar, geschwind Zeugnis abzulegen und sich dann dorthin davonzumachen, wohin sie eigentlich gehörten. Aber wir waren 'Helden', sofern wir nämlich den über unsere Straßen gespannten Spruchbändern glauben durften, auf denen zu lesen stand: Gloire aux Prisonniers Politiques! .. Ich war, als der ich war - überlebender Widerstandskämpfer, Jude, Verfolgter eines den Völkern verhaßten Regimes -, im wechselseitigen Einverständnis mit der Welt." (Améry 1977, S. 105)

Wie hinsichtlich des Gebrauchs von frei lassen sich Verwendungsunterschiede bei nicht politischen (meist jüdischen) und politischen (kommunistischen und sozialdemokratischen) Überlebenden feststellen. Mit der Wortfamilie Leben beziehen sich nicht politische Opfer häufig emphatisch auf den Ausnahmefall, die Nazizeit bzw. das KZ lebend überstanden zu haben. Diese Wahrnehmung drückt sich psychisch in dem Syndrom der sog. 'Überlebensschuld' aus, die sich in Formeln wie die Besten sind nicht zurückgekommen (Frankl 1945, S. 19) verdichtet; vgl. eine Formulierung wie ein Wunder und eine Gnade, daß wir Auschwitz überlebt haben (s. Adelsberger 1956, S. 105). Damit fügt sich für diese Opfer die Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft, und sie "bildet das Leitmotiv des Überlebens. Das Leben nach Deportation und Massaker ist Überleben, ein andauernder Versuch, dem Tod zu entrinnen" (Abels 1995, S. 337).

Im Gegensatz dazu ist die Seelenlage überlebender politischer Opfer nicht von Überlebensschuld, sondern im Gegenteil von 'Überlebensstolz' gekennzeichnet. Mit der Wortfamilie Leben referieren diese Kämpfer auf den politischen und gesellschaftlichen Aufbau nach 1945: an die neue Arbeit und an unser neues Leben herangehen; verantwortungsvolle und schwierige Aufgaben im Neuaufbau des Lebens (s. Dahlem 1945, S. 251; Dahlem 1945, S. 265).

Belege (14)
 
Auf allen Wegen spazieren die Lagerinsassen in Gruppen und einzeln und genießen mit Jubel oder still in sich gekehrt, [sic!] das unglaubliche Glück, noch am Leben zu sein und dazu auch noch in der Freiheit und im schönsten Frühling. (Tagebucheintrag vom 15. April 1945, zit. nach Überlebensmittel 2003, S. 68)
 
Wer durch die Hölle der deutschen Konzentrationslager als aufrechter Antifaschist gegangen ist, dort illegale Massenarbeit leistete, mit den mannigfaltigen Problemen des Kampfes und des Lebens fertig wurde, aus dem ist ein Kämpfer mit politischer Erfahrung und taktischer Geschicklichkeit geworden, dem man getrost verantwortungsvolle und schwierige Aufgaben im Neuaufbau des Lebens anvertrauen kann. (Dahlem 1945, S. 265)
 
Mit dieser Perspektive [Schaffung eines freiheitlichen, fortschrittlichen und in der Welt sich Achtung erringenden neuen Deutschlands] wollen wir an die neue Arbeit und an unser neues Leben herangehen. (Dahlem 1945, S. 251)
 
Wir alle, die wir durch tausend und abertausend glückliche Zufälle und Gotteswunder .. mit dem Leben davongekommen sind (Frankl 1945, S. 19)
 
Tage vergehen, viele Tage, bis sich nicht bloß die Zunge löst, sondern irgend etwas im Innern gelöst wird .. dann sinkst du in die Knie. Du weißt in diesem Augenblick nicht viel von dir und nicht viel von der Welt, du hörst in dir nur einen Satz ..: "Aus der Enge rief ich den Herrn, und er antwortete mir im freien Raum." .. an diesem Tag, zu jener Stunde begann dein neues Leben .. [du] wirst .. wieder Mensch. (Frankl 1945, S. 143)
 
Wir lebend Gebliebenen, wir Zeugen der nazistischen Bestialitäten .. Heute sind wir frei! (Eiden 1946, S. 263)
 
wir, die wir lebend aus den K.Z. entronnen sind (zit. in Hauff 1946, S. 8)
 
Wir, der kümmerliche Rest von 6.000.000 Juden .. Das Grauen hat uns gezeichnet, wir wissen um Leben und Tod. Wir sprechen nur noch selten darüber und das Wort 'Familie' ist uns nur ein Schein aus einer fernen, fernen Zeit geworden. Wir lächeln wieder, weil wir leben! Wir sehen die Sonne, den Frühling, doch einsam bleiben wir. Wir sehen die Menschen an, die über uns staunen und mit uns Reklame machen, ohne uns zu begreifen. Sie verstehen uns nicht. Einsam bleiben wir! (zit. in Hauff 1946, S. 16f.)
 
wir haben es überlebt, jetzt wollen wir zusammenstehen. (Eggerath 1947, S. 187)
 
Die Verfolgten des Naziregimes sind die überlebenden Mitglieder einer deutschen Widerstandsbewegung, die vom Tage der Machtergreifung des Nazismus an bis zum Zusammenbruch des Naziregimes gegen dieses Regime niemals aufgehört haben zu kämpfen. (VVN-Hauptresolution 1947, S. 597)
 
Ganz frei von Schuld ist wohl keiner von uns Überlebenden! (Kautsky 1948, S. 206)
 
Wir mußten uns erst gewöhnen und tapsten mit ungeschickten zaghaften Schritten in das neugewonnene Leben hinein. (Adelsberger 1956, S. 103)
 
Es ist ein Wunder und eine Gnade, daß wir Auschwitz überlebt haben; und es ist eine Verpflichtung. Wir halten das Vermächtnis der Toten in Händen. Uns obliegt es, von ihnen zu sprechen. (Adelsberger 1956, S. 105)