Schulddiskurs 1945–55 | |
Politische Unreife |
Im Zuge der Konstruktion eines Schuldbegriffs fragt die Diskursgemeinschaft der Nichttäter, was die Deutschen als Deutsche, die Zuschauer, Mitläufer, Wähler, was die Masse zum Nationalsozialismus disponierte. Die Diskursbeteiligten suchen den Nationalsozialismus und seine Entstehung u. a. in bestimmten Grunddispositionen des deutschen Wesens zu verorten, von denen sie annehmen, sie seien wesentlich beteiligt am Entstehen und an der zwölf Jahre währenden Machtausübung des Nationalsozialismus. Die am häufigsten genannten Nationalstereotype sind - neben politische Unreife/Unmündigkeit - Idealismus und Militarismus. Auch die entschiedensten Gegner der These von einer deutschen Kollektivschuld argumentieren mit diesen das Kollektiv bezeichnenden Nationalstereotypen, wenn sie der deutschen Schuld auf der Spur sind. Erscheinungen des deutschen Volksgeistes eignen sich zur Zuweisung einer unmittelbaren Verantwortlichkeit und Schuld aller Deutschen.
Politische Unreife (s. Abusch 1946, S. 253; Pribilla 1947, S. 97) resp. politisch unmündig (s. Fechner 1953, S. 238) und Alternativ- bzw. Ersatzbezeichnungen wie politisch einfältig, kritiklos, stumpf und autoritätshörig, politisch ein Nichts, apolitisch, mangelhaft politisch, ohne sicheren Instinkt, politische Indifferenz (s. Müller-Meiningen 1946, S. 20; Kogon 1946a, S. 416; Kogon 1946b, S. 113; Schmidt 1948, S. 108) sind Nationalstereotype zur Konstituierung des Schuldbegriffs. Die Ausdrücke benennen als erklärende Bezeichnungen für eine nationale Eigenschaft der Deutschen eine der Ursachen des Nationalsozialismus. Nur Theodor Heuss (s. Heuss 1949b, S. 7) weist das Vorhandensein dieses von ihm mit unpolitisch bezeichneten Wesenszugs zurück.
Politische Unreife ist ein Argument, mit dem bis heute (u. a.) die Entstehung des Nationalsozialismus begründet wird: "es [waren] vor allem Unzulänglichkeiten der deutschen politischen Kultur .., die es ermöglicht haben, daß ein charismatischer Demagoge wie Adolf Hitler 1933 freies Spiel erhielt." (Mommsen 1997, S. 385) Norbert Elias rekonstruiert die im 18. Jh. einsetzende Genese dieses Apolitischseins, welches sich in den als Oppositionsbegriffe verstandenen Bezeichnungen Kultur und Politik manifestiert. In der "besonderen Situation der Mittelklassen in Deutschland" begründet sich dieser "Trennungsstrich, der zwischen 'Kultur' und 'Politik' gezogen wurde. .. Der deutsche Begriff 'Kultur' .. hatte im Kern eine apolitische oder vielleicht sogar antipolitische Stoßrichtung, die symptomatisch war für das wiederkehrende Gefühl deutscher Mittelklasse-Eliten, daß Politik und Staat den Bereich ihrer Unfreiheit und Demütigung, die Kultur den Bereich ihrer Freiheit und ihres Stolzes repräsentierte." (Elias 1990, S. 165) Dieser unpolitische Habitus wirkte sich einerseits in der Haltung der Deutschen zur Weimarer Republik aus, "gegen die Parlamentspolitik eines demokratischen Staates" (Elias 1990), anderseits in ihrem Handeln und vor allem Nichthandeln zur Zeit des Nationalsozialismus.