Schlüsselwörter der Wendezeit
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Kapitel 12 |
Gesamtinterpretation
Die Ereignisse im Sommer und im Herbst 1989 machten deutlich, daß viele DDR-Bürger nicht mehr bereit waren, ihr Leben so weiterzuführen wie bisher. Ihrer jahrzehntelangen als Bevormundung empfundenen Behandlung durch die herrschenden Kräfte überdrüssig, verließen viele Menschen das Land, während viele der im Land Geblichenen sich für die demokratische Umgestaltung der DDR einsetzten. DDR-Bürger kritisierten - auf Demonstrationen, im Zuge der fortschreitenden politischen Veränderungen dann auch verstärkt in den Medien - öffentlich das alte DDR-System. Sie gaben ihrer Meinung Ausdruck, 40 Jahre lang bevormundet und in ihren Freiheiten beschränkt worden zu sein und äußerten ihren Willen, diese Beschränkungen nicht länger hinzunehmen.
In dem Maße, wie im Laufe des Jahres 1990 die DDR ihre politische und wirtschaftliche Selbständigkeit einbüßte und ihr Beitritt zur Bundesrepublik absehbar wurde, veränderte sich die Situation. Viele DDR-Bürger hatten nun, durch Begleiterscheinungen des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik ausgelöst, das Gefühl, einer neuen, wenn auch andersgearteten Bevormundung und später auch einer Vereinnahmung durch die Bundesrepublik ausgesetzt zu sein.
Die Äußerung kritischer Einstellung zur Art und Weise der Behandlung der DDR-Bürger ist dementsprechend - und die WK-Texte zeigen das - ein wesentlicher kommunikativer Aspekt der gesamten Wendezeit.
Die dafür vor allem in Frage kommenden Lexeme sind nicht neu. Auffallend für die Wendezeit ist aber ihr häufiges Auftreten.
In den Fällen, in denen neben dem Verb ein Handlungssubstantiv steht, wird gegebenenfalls die Bedeutung nur für das Verb angeführt; für das entsprechende Substantiv ist die Verbbedeutung zugrunde zu legen.
Als Bevormundung kann sowohl die Behandlung der DDR-Bürger durch das alte DDR-System als auch die Behandlung der DDR-Bürger bzw. der DDR durch die Bundesrepublik gesehen werden. In den WK-Texten finden in diesem Zusammenhang folgende Lexeme Verwendung:
- bevormunden, Bevormundung
- gängeln, Gängelung, Gängelei
- entmündigen, Entmündigung
- entmündigen, Entmündigung
- fremdbestimmen, Fremdbestimmung
- fernsteuern, Femsteuerung
Als Vereinnahmung kann die Behandlung der DDR-Bürger bzw. der DDR durch die Bundesrepublik gesehen werden.
In den WK-Texten finden in diesem Zusammenhang folgende Lexeme Verwendung:
- vereinnahmen, Vereinnahmung
- einverleiben, Einverleibung
In denselben Zusammenhang stellen sich auch folgende Lexeme, obwohl sie selbst keine Vereinnahmung bezeichnen:
- Kolonie, kolonial, Kolonialisierung, Kolonialismus
- Sieger; Besiegter, Verlierer
Allen hier behandelten Lexemen ist gemeinsam, daß sie eine kritische Einstellung ausdrücken. Sie unterscheiden sich aber in Hinblick darauf, wie sie diese kritische Einstellung transportieren. Bei den Lexemen
- bevormunden, Bevormundung
- gängeln, Gängelung, Gängelei
- entmündigen, Entmündigung
- hineinreden, reinreden
- fernsteuern, Fernsteuerung
- fremdbestimmen, Fremdbestimmung
- vereinnahmen, Vereinnahmung
- einverleiben, Einverleibung
- Kolonie, kolonial, Kolonialisierung, Kolonialismus
- Sieger; Besiegter, Verlierer
Zu fragen ist nun, wie die behandelten Lexeme in den Texten von WK verwendet werden.
Zunächst werden die typischen Verwendungen betrachtet, die sich auf eine Bevormundung der DDR-Bürger durch das alte DDR-System beziehen.
Von den in den Texten vorkommenden Kollokationen, in denen die bevormundende Seite benannt wird, seien folgende angeführt s. Belege 13, 24:
- die Staatsführung, das Staatssystem hat die Bürger entmündigt
- vom Staat bevormundet, vom SED-Staat gegängelt, von der SED entmündigt worden sein
- Bevormundung, Gängelung durch den Staat, durch die SED
- Entmündigung durch übergeordnete Instanzen, durch ein diktatorisches Herrschaftssystem
- Bevormundung, Gängelei von oben
Von den in den Texten vorkommenden Kollokationen, in denen die bevormundete Seite benannt wird, seien folgende angeführt s. Belege 24-26:
- die Bürger wie Kinder bevormunden
- gegängelte Künstler, Schriftsteller, Forscher
- Gängelung der Forschung
- Bevormundung und Gängelung von Kultur und Kunst
- der Rundfunk wurde bevormundet
- gegängelte, entmündigte Blockparteien
Als betroffen benannt sind entweder DDR-Bürger oder auch spezifische gesellschaftliche Bereiche, in denen DDR-Bürger tätig sind. Die DDR-Bürger können dabei unter einem ihnen gemeinsamen Aspekt jeweils als Gruppe gefaßt sein, beispielsweise unter dem des gemeinsamen Berufes (s.o.: Künstler, Schriftsteller, Forscher). Unter den gesellschaftlichen Bereichen dominieren solche, denen die entsprechenden Berufsgruppen zugehören (s.o.: Kunst, Kultur, Forschung).
Häufig finden sich Adjektivattribute, die Hinweise auf die inhaltliche Ausrichtung, die Art und Weise und das Ausmaß der mit den Lexemen bezeichneten Bevormundung geben, z.B. s. Belege 3, 27:
- ideologische Bevormundung, Gängelung
- politisch-ideologische Bevormundung
- politische Entmündigung
- administrativ-bürokratische Fremdbestimmung
- bürokratische Gängelung, Gängelei
- ständige, tägliche, erniedrigende, rigide Bevormundung
- allgegenwärtige Entmündigung
- laufendes Hineinreden
Oft bezeichnen Kollokationspartner die Dauer der Bevormundung der DDR-Bürger durch das alte DDR-System, die mit der Dauer des Bestehens der DDR gleichgesetzt sein kann, z.B. s. Beleg 4:
- nach Jahrzehnten der Unfreiheit und der Bevormundung, der Entmündigung
- jahr(zehnt)elange Bevormundung, Gängelung
- Jahrelang bevormundet worden sein
- die lange Jahre bevormundete Bevölkerung
- die lange Jahre bevormundete Bevölkerung
- 40 Jahre Bevormundung
In WKD-Texten von oppositionellen Kräften, die aus den Phasen 1 und 2 stammen, wird zum Ausdruck gebracht, daß die staatliche Bevormundung in Zukunft nicht mehr hingenommen wird, z.B. s. Belege 1, 5:
- wir lassen uns nicht mehr bevormunden
- wir wollen keine Bevormundung
- die Möglichkeit erhalten müssen, sich frei und ohne Gängelung zu entfalten
- es leid sein, bevormundet und gegängelt zu werden
Daß die Kritik zunehmend an Schärfe gewann, zeigt sich in Phase 2, in der die genannten Lexeme in Forderungen nach der Beendigung der Bevormundung auftreten, z.B. s. Beleg 6:
- Schluß mit der Bevormundung!
- Freiheit statt Entmündigung!
- Die Entmündigung beenden!
In Phase 2 äußern sich erstmals auch Vertreter des alten DDR-Systems selbstkritisch zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen der Bevormundung. Sie räumen ein, daß es in der DDR Bevormundung gab. Allerdings wird diese nicht alte Systemeigenschaft, sondern als bloßer bürokratischer Auswuchs dargestellt, so von Egon Krenz, wenn er in seiner Fernsehansprache Anfang November 1989 von „bürokratischer Gängelei" spricht s. Beleg 23.
Mehrfach treten in den Belegen Lexeme, mit denen sich Sprecher auf die Bevormundung der DDR-Bürger durch das alte DDR-System beziehen, auch kombiniert auf, womit der Sprecher seiner Kritik Nachdruck verleiht s. Belege 26, 27, 29. Es handelt sich überwiegend um die Verbindung der Lexeme Bevormundung und Gängelung/Gängelei s. Belege 26, 27.
Das Vorkommen der WK-Belege hat seinen Schwerpunkt in den Phasen 2 und 3, also der Zeit, in der in Ost und West die Diskussion über die Art undy Weise der Machtausübung der herrschenden Kräfte der DDR besonders inten- siv geführt wurde. In den den beiden ersten Phasen zugehörigen WKD-Texten sind die Sprecher in der Mehrzahl oppositionelle Kräfte, in späteren Phasen besonders Politiker und Journalisten.
Von der Zeit an, in der sich die staatliche Vereinigung abzeichnete, stand nicht mehr allein die Bevormundung der DDR-Bürger durch das alte DDR-System im Mittelpunkt der Diskussion, sondern zunehmend wurde der Bundesrepublik eine Bevormundung und außerdem eine Vereinnahmung der DDR-Bürger bzw. der DDR angelastet.
Im folgenden werden die typischen Verwendungen betrachtet, die sich auf eine Bevormundung bzw. Vereinnahmung durch die Bundesrepublik beziehen.
Von den in den Texten vorkommenden Kollokationen, in denen die bevormun-dende bzw. vereinnahmende Seite benannt wird, seien folgende angeführt s. Belege 40, 41, 44:
- Bevormundung von Seiten der Bundesrepublik
- Vereinnahmung (der DDR) durch die BRD
- von der Bundesrepublik vereinnahmt werden
- die DDR wird durch die Bundesrepublik vereinnahmt
- Versuch der BRD-Wirtschaft, die DDR zu vereinnahmen
Einige Male erscheint ein lokales Attribut, das im politischen Sinne zu interpretieren ist, z.B. s. Beleg 19:
- Bevormundung aus Bonn
- Bevormundung, Fernsteuerung aus dem Westen
Von den in den Texten vorkommenden Kollokationen, in denen die bevormundete bzw. vereinnahmte Seite benannt wird, seien folgende angeführt s. Belege 11, 15, 28, 45:
- die DDR, die Bewohner der DDR einverleiben
- Vereinnahmung der DDR, der DDR-Bürger
- Einverleibung der DDR, des DDR-Fernsehfunks
- die Vereinnahmung von DDR-Unternehmen
- die LDP vereinnahmen
- den Deutschen in der DDR hineinreden
- die Entmündigung der Volkskammer
- Volkskammer und Regierung der DDR werden entmündigt
Als betroffen benannt sind entweder DDR-Bürger, spezifische gesellschaftliche Bereiche, in denen DDR-Bürger tätig sind, und - besonders oft - der Staat DDR.
Häufig geben Kollokationspartner Hinweise auf die inhaltliche Ausrichtung, die Art und Weise und das Tempo der Vereinnahmung, z.B. s. Beleg 41:
- währungspolitische Vereinnahmung
- schnelle, übereilte, rasche, einseitige, vollständige, großkotzige Vereinnahmung
- (die DDR, die DDR-Bürger) auf kaltem Wege, auf die kalte Tour vereinnahmen
In einigen Belegen wird die Bevormundung durch die Bundesrepublik als eine Art Fortsetzung der Bevormundung durch das alte DDR-System gesehen. Das zeigen z.B. folgende Kollokationen s. Belege 7, 14:
- die eine Bevormundung durch eine andere ersetzen, ablösen
- die Bürger werden nach wie vor entmündigt
- (die Menschen) ein weiteres Mal entmündigen
- neuerliche Bevormundung
- abermals Bevormundung
Die Belege für die behandelten Lexeme, in denen von einer Bevormundung bzw. einer Vereinnahmung durch die Bundesrepublik gesprochen wird, treten in WKD und WKB etwa gleich häufig auf. Das Vorkommen der Belege hat seinen Schwerpunkt in den Phasen 3 und 4, die dadurch gekennzeichnet sind, daß sich der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik abzeichnete (Phase 3) und die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen dafür ausgehandelt wurden (Phase 4).
Sprecher sind in den Texten von WKD besonders Politiker und Journalisten, die sich ungeachtet unterschiedlicher politischer Grundeinstellungen einig waren in der Ablehnung bestimmter Verfahrensweisen der Bundesrepublik bei der Verwirklichung der staatlichen Einheit.
Die wenigen in WK belegten Wortbildungskonstruktionen mit den behandelten Lexemen sind in der Regel okkasionelle Bildungen, die weder in den Vergleichswörterbüchern noch im Vergleichskorpus vorkommen.
Einzelinterpretationen
bevormunden, Bevormundung
Die in der frühen Wendezeit (Phase 2) erhobene Forderung nach Beendigung der Bevormundung durch das alte DDR-System (s. S. 358) wird schon in mehreren WK-Belegen der Phase 3 als erfüllt dargestellt s. Beleg 8:
- die Bevormundung von oben ist weg
- das Ende der Bevormundung geht einher, fällt zusammen mit ...
- sich von der Bevormundung befreit haben
Erste Belege für die Lexeme bevormunden/Bevormundung, die sich auf eine Bevormundung durch die Bundesrepublik beziehen, sind WKB-Belege aus den Phasen 1 und 2, sie stammen aus Bundestagsprotokollen. In ihnen wird vor der Gefahr einer Bevormundung der DDR durch die Bundesrepublik gewarnt s. Beleg 2.
Wortbildung
In wenigen singular belegten Zusammensetzungen tritt Bevormundung als Bestimmungswort auf. In den entsprechenden Belegen erscheint teils das alte DDR-System (Bevormundungssystem; s. Beleg 9), teils die Bundesrepublik (Bevormundungsrolle) als bevormundende Seite.
gängeln, Gängelung, Gängelei
Diese Lexeme treten nur in Belegen auf, in denen das alte DDR-System als die bevormundende Seite erscheint.
Zu ihnen stellen sich auch eine bildliche und eine phraseologische Wendung mit der Zusammensetzung Gängelband: das Gängelband der Planwirtschaft, am Gängelband der SED hängen.
entmündigen, Entmündigung
Das Lexem entmündigen wird in den Texten von WK in der Bedeutung 'jmdn. daran hindern, eigenverantwortlich zu handeln' verwendet, die von der in den Vergleichswörterbüchern verzeichneten juristischen Bedeutung (s. z.B. DUW, Stichwort entmündigen: 'jmdm. durch Gerichtsbeschluß das Recht entziehen, bestimmte juristische Handlungen vorzunehmen') übertragen ist. Diese übertragene Bedeutung wird in DUW nicht, in HDG in der Form eines Verwendungsbeispiels (Volksmassen entmündigen) berücksichtigt, im Vergleichskorpus ist sie belegt s. Beleg 49.
Fast drei Viertel aller WK-Belege mit entmündigen/Entmündigung, in denen teils das alte DDR-System, teils die Bundesrepublik als die bevormundende Seite erscheint, stammen aus WKD vgl. Belege 13, 15, 16. Einen besonderen Aspekt trägt die Wortverbindung sich selbst entmündigen bei, die Bezug nimmt auf eine bestimmte kritisch gesehene Verhaltensweise von DDR-Bürgern.
Wortbildung
Belegt ist die Zusammensetzung Selbstentmündigung, für die das zu sich selbst entmündigen Gesagte gilt s. Beleg 17.
fremdbestimmen, Fremdbestimmung
In HDG ist keines der beiden Lexeme, in DUW ist nur das Substantiv verzeichnet (DUW, Stichwort Fremdbestimmung: 'das Bestimmtsein durch andere, von denen der Betreffende abhängig ist'). Wenn sich auch in WK nicht ausschließlich Belege für das Substantiv finden, so dominieren sie doch gegenüber den Verbbelegen. Die WK-Belege zeigen, daß mit Fremdbestimmung nicht nur ein durch eine Handlung bewirktes Ergebnis (vgl. DUW) bezeichnet wird, sondern auch diese Handlung selbst.
In den WK-Belegen erscheint teils das alte DDR-System s. Beleg 20, teils die Bundesrepublik s. Beleg 21 als die bevormundende Seite.
Mit den Lexemen fremdbestimmen/Fremdbestimmung wird - durch den ersten Bestandteil - der Aspekt betont, daß die Bevormundung der DDR-Bürger von außerhalb ihrer Sphäre liegenden Kräften ausgeht.
Dem Lexem Fremdbestimmung steht als Antonym das Lexem Selbstbestimmung gegenüber; in den Belegen 21 und 22 kommen diese beiden Lexeme gemeinsam vor.
fernsteuern, Fernsteuerung
Im gegebenen Zusammenhang relevant ist die in den Vergleichswörterbüchern unter dem Stichwort fernsteuern fehlende Bedeutung 'aus der Ferne mittels seiner Macht jmds. (politisches) Handeln beeinflussen', die von der in den Vergleichswörterbüchern ausschließlich verzeichneten technischen Bedeutung (s. z.B. HDG, Stichwort fernsteuern: 'bes. eine technische Anlage von einem entfeinten Standort aus elektronisch steuern') übertragen ist. Gleichwohl handelt es sich nicht um eine wendezeitspezifische Neubedeutung. So ist das Lexem fernsteuern in dieser Bedeutung im Vergleichskorpus belegt, freilich in anderem Zusammenhang s. Beleg 50.
In den WK-Belegen für fernsteuern/Fernsteuerung erscheint ausschließlich die Bundesrepublik als die bevormundende Seite s. Belege 18, 19, was mit der Bedeutung des ersten Bestandteils der Lexeme zusammenhängt.
vereinnahmen, Vereinnahmung
Im gegebenen Zusammenhang relevant ist die im Vergleichskorpus belegte s. Beleg 51, in den Vergleichswörterbüchern so nicht verzeichnete Bedeutung 'jmdn., etw. auf Kosten von dessen Selbständigkeit in seinen Einflußbereich bringen', die von der in den Vergleichswörterbüchern enthaltenen kaufmannssprachlichen Bedeutung (s. z.B. DUW, Stichwort vereinnahmen: 'einnehmen') übertragen ist.
In den WK-Belegen für vereinnahmen/Vereinnahmung erscheint die Bundesrepublik als die vereinnahmende Seite. In beiden Teilkorpora finden sich Belege, in denen die Bundesrepublik bzw. deren Vertreter ironisch benannt werden als: der große Bruder BRD s. Beleg 44, der große Westbruder, diese Heuschrecken aus Bonn s. Beleg 42. Mit großer Bruder BRD und großer Westbruder wird angespielt auf die in der Vor-Wendezeit im nichtöffentlichen DDR-Sprachgebrauch übliche ironische Bezeichnung großer Bruder für den übermächtigen politischen Bündnispartner der DDR, die Sowjetunion.
In der Mehrzahl der Belege werden die Lexeme vereinnahmen/Vereinnahmung mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik in Verbindung gebracht s. Belege 43, 45, 46, der dadurch als von starkem Eigeninteresse geprägte Inbesitznahme durch die Bundesrepublik umgedeutet wird. Nicht nur Verteidiger des alten DDR-Systems, sondern auch solche oppositionellen Kräfte in der DDR, die einer Vereinigung der beiden deutschen Staaten kritisch gegenüberstanden s. Beleg 47, verwendeten die Lexeme.
Wortbildung
Vereinnahmung tritt in der hier relevanten Bedeutung einige Male als Bestimmungswort von Zusammensetzungen auf, die singulär belegt sind, z.B.: Vereinnahmungspolitik, Vereinnahmungsprozeß s. Beleg 48, Vereinnahmungsstrategie, Vereinnahmungsversuch (WK nur Pl.).
einverleiben, Einverleibung
Aus den Belegen des Vergleichskorpus s. Beleg 52 geht hervor, daß diese Lexeme im offiziellen DDR-Sprachgebrauch der Vor-Wendezeit verwendet wurden, um die Bundesrepublik hinsichtlich ihrer Wiedervereinigungsbestrebungen zu diskreditieren.
In den WK-Belegen für einverleiben/Einverleibung erscheint die Bundesrepublik als die vereinnahmende Seite. In ihnen werden die Lexeme stets mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik in Verbindung gebracht, der dadurch als von starkem Eigeninteresse geprägte Inbesitznahme durch die Bundesrepu-blik umgedeutet wird. Diese Lexeme wurden zum einen von Personen, die das Weiterbestehen einer - demokratisierten - DDR befürworteten s. Beleg 10, zum anderen von Personen, die eine staatliche Vereinigung zwar befürworteten, der Art ihrer Realisierung aber kritisch gegenüberstanden s. Beleg 11, verwendet.
Wortbildung
In WK singulär belegte Zusammensetzungen sind Einverleibungsbestimmung, Einverleibungspolitik und Einverleibungsvertrag. Einverleibungsbestimmung bezieht sich auf Artikel 23 des Grundgesetzes, Einverleibungsvertrag auf den Einigungsvertrag.
In Beleg 12 werden die Lexeme Beitrittsbestimmung und Einverleibungsbestimmung einander gegenübergestellt, durch deren erste Bestandteile zwei grundsätzlich verschiedene Sichtweisen auf die Rolle der DDR in Hinblick auf die Herstellung der Einheit Deutschlands zum Ausdruck kommen: die DDR als aktiver bzw. als passiver Teil (vgl. Kapitel 15).
Kolonie, kolonial, Kolonialisierung, Kolonialismus
Die Wendezeitrelevanz dieser Lexeme besteht in der Tatsache ihres übertragenen Gebrauchs in bezug auf die Behandlung der DDR durch die Bundesrepublik s. Belege 30-36. Mit der Wahl dieser Lexeme unterstellt der Sprecher, daß es sich bei der DDR um eine gewissermaßen herrenlos gewordene Besitzung handelt, über die die Bundesrepublik frei verfügen kann. Vereinzelt sind die Lexeme mit Anführungszeichen versehen, wodurch der Sprecher signali-siert, daß er sich der Drastik seiner Ausdrucksweise bewußt ist s. Belege 34, 35.
Zweimal belegt ist die Bildung Kohlonie, in deren graphischer Form spielerisch das Lexem Kolonie mit dem Namen Kohl kombiniert ist, womit der Sprecher Bundeskanzler Kohl als verantwortlich für die unterstellte Kolonialisierung der DDR charakterisiert. So heißt es in einer Losung:
Wortbildung
Kolonial ist belegt als Grundwort von Zusammensetzungen (quasi-kolonial, s. Beleg 31) und als Bestimmungswort von Zusammensetzungen (z.B. Kolonialherr [WK nur Pl.; s. Beleg 32], ein Lexem, das seinerseits als Bestimmungswort in der Zusammensetzung Kolonialherrenart belegt ist).
Als Grundwort kommt Kolonie in WK in den Zusammensetzungen Armenkolonie und Wirtschaftskolonie s. Beleg 36 vor.
Sieger, Besiegter, Verlierer
Die Wendezeitrelevanz dieser Lexeme besteht darin, daß sie der Bezeichnung des Verhältnisses zwischen der Bundesrepublik und den DDR-Bürgern bzw. dem Staat DDR dienen. Der Sprecher interpretiert mit ihrer Wahl das historische Geschehen der Wendezeit als Kampf, aus dem die Bundesrepublik siegreich (Sieger; s. Belege 37, 38), die DDR bzw. die DDR-Bürger als Unterlegene (Besiegter, Verlierer; s. Belege 37, 39) hervorgegangen sind.
Die - nicht sehr zahlreichen - Belege stammen überwiegend aus Phase 3, der Zeit, in der sich deutlich abzeichnete, daß auch eine demokratisierte DDR nur noch kurze Zeit bestehen würde.
Resümee
Es wurden Bezeichnungen, mit denen eine kritische Einstellung zur Art und Weise der Behandlung der DDR-Bürger durch das alte DDR-System und durch die Bundesrepublik ausgedrückt wird, behandelt. Die Art und Weise der Behandlung der DDR-Bürger wird zum einen als Bevormundung durch das alte DDR-System bzw. als Bevormundung durch die Bundesrepublik gesehen - wobei in der Mehrzahl der Belege der Bezug auf das alte DDR-System gegeben ist -, zum anderen wird sie als Vereinnahmung durch die Bundesrepublik gesehen.
Die Lexeme treten in wendezeitspezifischen Kollokationen auf.