Schlüsselwörter der Wendezeit
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Kapitel 15 |
Interpretation
Die beiden zentralen Lexeme dieses Feldes sind Beitritt und Anschluß. Für sie ergibt sich in den Vergleichswörterbüchern das folgende Bild:
Sowohl unter nationalem als auch unter internationalem Aspekt ist die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands das gravierendste und folgenreichste Ergebnis der Wende, mit dem die Wendezeit - nach der hier zugrundegelegten Bestimmung dieses Zeitraums - zu Ende geht.
Denkbare Wege in Richtung auf dieses - zuerst nur in größerer zeitlicher Ferne vorstellbare - Ziel waren bereits seit November 1989 Gegenstand der öffentli-chen Erörterung. Bei der innen- und außenpolitischen Brisanz und der emotionalen Geladenheit dieses Themas verwundert es nicht, daß der öffentliche Meinungsbildungsprozeß durch eine Fülle unterschiedlicher, kontroverser, vom jeweiligen politischen Standort geprägter Äußerungen gekennzeichnet ist, in denen zum Teil erbitterte Bezeichnungskämpfe deutlich werden. Das betrifft nicht nur die Diskussionen um das Ziel selbst (vgl. Kapitel 14), sondern auch diejenigen um bestimmte zeitweilig erwogene Vor- und Zwischenstufen (vgl. Kapitel 13) sowie die um den einzuschlagenden konkreten verfassungsrechtlichen Weg der Vereinigung der beiden deutschen Staaten: durch Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes oder durch Inkrafttreten einer Verfassung, „die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist", gemäß Artikel 146.
Das hier beschriebene Feld umfaßt sieben substantivische Lexeme, denen Verben zugrunde liegen, die in der Interpretation weitgehend unberücksichtigt bleiben konnten, weil sie nicht eine ähnliche kommunikative Relevanz erreichten wie die Substantive. Das im Verfassungstext benutzte Lexem Beitritt benennt den staatsrechtlichen Vorgang sachlich, wertungs- und emotionsfrei und wird deshalb in diesem Kapitel als genereller beschreibungssprachlicher Aus-druck benutzt. Dem stehen sechs Lexeme gegenüber, denen gemeinsam ist, daß mit ihnen derselbe Sachverhalt aus einem anderen Blickwinkel bezeichnet wird: Der Sprecher drückt mit ihrer Verwendung eine negative Bewertung des Sachverhaltes aus, die je nach gewähltem Lexem mehr oder weniger emotional gefärbt und polemisch zugespitzt ist. Unter diesen Lexemen ist das Lexem Anschluß das weitaus am häufigsten verwendete; Angliederung, Annexion, Einverleibung, Übernahme und Vereinnahmung werden deutlich seltener gebraucht. Daher stehen die Lexeme Beitritt und Anschluß auch im Mittelpunkt der folgenden Interpretation.
Die Strukturen der hier relevanten Bedeutungen machen die unterschiedliche Sicht deutlich. Die Verbalsubstantive und die ihnen zugrundeliegenden Verben setzen in jedem Fall zwei an der mit ihnen bezeichneten Handlung Beteiligte voraus, nämlich die DDR und die Bundesrepublik. Der wesentliche Unterschied besteht darin, daß die Funktion des Agens mal von dem einen, mal von dem anderen Beteiligten ausgefüllt wird. Am einfachsten laßt sich dieser Unterschied anhand der zugrundeliegenden Verben bei Aktivgebrauch zeigen. Setzt man DDR = A und Bundesrepublik = B, so ergibt sich:
Es stehen sich Beitritt (A = DDR ist Agens, also aktiv handelnder Part) auf der einen Seite und Annexion, Einverleibung, Übernahme und Vereinnahmung (B = Bundesrepublik ist Agens und tut etwas mit A = DDR) auf der anderen Seite gegenüber. Nicht eindeutig einzuordnen sind die Lexeme Anschluß und Angliederung, die gewissermaßen Anteil an beiden Strukturen haben, je nachdem, auf welche der beiden J möglichen Verbverwendungen (transitiv, reflexiv) man sie zurückführt. Obwohl sich in WK Belege von Anschluß für die Lesart finden, der sich anschließen („A schließt sich [an] B an") zugrunde liegt s. Beleg 7, besteht ein Übergewicht der Belege von Anschluß, in denen von der Lesart etw. anschließen („B schließt A an") auszugehen ist.
Der Gebrauch des Lexems Beitritt in den Texten von WK basiert auf dem Gebrauch des Lexems in dem bis zur Herstellung der staatlichen Einheit gültigen Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik, der den Geltungsbereich des Grundgesetzes festlegt und der im Wortlaut heißt: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiet der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen." Beitritt wird hier in der Bedeutung 'das Beitreten' im Sinne der von DUW unter dem Stichwort beitreten a) verzeichneten Bedeutung ('sich einer Abmachung, einem Übereinkommen, Vertrag o.a. anschließen') verwendet. Mit dem Wort Beitritt wird der Vorgang des Beitretens sachlich und wertungsfrei bezeichnet, wodurch es für die Verwendung als Terminus in Gesetzestexten geeignet ist. Beim konkreten historischen Vorgang des Jahres 1990 war die DDR - gemäß Volkskammerbeschluß vom 23.8.1990 - der beitretende Teil und die Bundesrepublik der aufnehmende Teil.
Der Gebrauch des Substantivs Beitritt folgt dem Grundmuster
- der Beitritt von A zu B;
Neben dem Substantiv Beitritt ist das Verb beitreten in der Bedeutung 'den Beitritt vollziehen' häufig belegt s. Beleg 25.
Innerhalb des betrachteten Feldes ist das Lexem Beitritt das am häufigsten und mit der größten Zahl unterschiedlicher Kontextpartner gebrauchte Lexem. Es ist das bevorzugte Lexem in emotional nicht engagierter Rede und enthält keine negative Bedeutungskomponente, wie sie den anderen Lexemen zukommt, sieht man von den Lexemen Anschluß und Angliederung in den wenigen Verwendungen ab, die sich auf reflexiven Verbgebrauch zurückführen lassen. Deshalb verwenden Befürworter dieses Weges zur Einheit, die in erster Linie aus den Reihen der Regierungsparteien der Bundesrepublik und der DDR und aus ihnen nahestehenden publizistischen Kreisen kommen, aus-schließlich dieses Lexem s. Belege 28, 30, 31, 33.
Wer für den offiziell mit Beitritt bezeichneten Vorgang die anderen Bezeichnungen, denen transitive Verben zugrunde liegen, verwendet, gibt seiner kritisch-distanzierten Haltung zu dem Vorgang Ausdruck. Die Bedeutungen dieser Gruppe von Lexemen drücken - ganz allgemein gesprochen - einen Aneignungsprozeß aus, in dem im hier erörterten Zusammenhang die Bundesrepublik als Agens fungiert:
- B eignet sich A an.
Der Vorgang wird von den Verwendern dieser Lexeme also nicht als selbstbestimmte Handlung der DDR gesehen, sondern als kritikwürdiger und abzulehnender Akt, bei dem sich die große, starke Bundesrepublik die kleine, schwache DDR gleichsam aneignet. Die von den Kritikern des Beitritts gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes vorgebrachten Einwände sind, daß dieses Verfahren zur Herstellung der staatlichen Einheit die Interessen der DDR-Bevölkerung nicht genügend berücksichtigt s. Beleg 4, vielmehr zu deren Lasten geht, und daß die Eile, mit der es betrieben wird, dem Zusammenwachsen der Deutschen abträglich ist.
Die dem Lexem Beitritt gegenüberstehende Gruppe von Lexemen, die aufgrund ihrer zur Artikulierung von Kritik geeigneten semantischen Grundstruktur miteinander verbunden sind, ist nicht völlig homogen. Im Unterschied zu den Wörtern Angliederung, Übernahme und auch Anschluß, die einen Aneignungsprozeß allgemein bezeichnen, charakterisieren die anderen Wörter einen Aneignungsprozeß spezifisch, nämlich als von starkem Eigeninteresse geleitet (Vereinnahmung, Einverleibung) oder als gewaltsam (Annexion). Ein besonderer Fall ist Anschluß. Mit diesem Lexem wird das politische Schlagwort assoziiert, das für die Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland 1938 steht. Wohl aus ebendiesem Grund ist das Wort Anschluß der von den Kritikern des Beitritts bevorzugte Ausdruck. In metakommunikativen Äußerungen von Befürwortern des Beitritts dagegen wird ebendeshalb gerade an seiner Verwendung Kritik geübt, das Wort als unangemessen, falsch, demagogisch, böse u.a. bezeichnet und seine Reaktivierung der SED/PDS angelastet s. Beleg 8; solche Kritik kann wiederum von Gegnern des Beitritts kritisch reflektiert werden s. Beleg 9.
Das Spektrum derer, die Anschluß und seine bedeutungsverwandten Lexeme verwenden, um ihre ablehnende Haltung gegenüber dem Beitritt gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes auszudrücken, umfaßt Politiker, Abgeordnete und Sprecher vor allem von linken Parteien und von Bürgerrechtsgruppierungen aus Ost und West sowie Journalisten von nahezu allen in WK vertretenen DDR- und linken bundesdeutschen Zeitungen s. Belege 9-13, 44, 48.
Die Belege von Anschluß und die wenigen für die übrigen Lexeme stammen zu nahezu gleichen Teilen aus WKD und WKB (Schwerpunkt: Phasen 3 bis 5), wobei aber zu beachten ist, daß in den WKB-Belegen überwiegend Äußerungen aus der DDR referiert oder zitiert werden. Relativ häufig erscheinen die genannten Wörter in WKB-Texten zum Zeichen dessen, daß sich der Sprecher von ihrem Gebrauch distanziert, in Anführungszeichen s. Beleg 8.
Es ergeben sich Gruppen jeweils häufig vorkommender wendezeitspezifischer Kollokationen:
Kollokationen, die sich auf Aspekte der Realisierung des Beitritts beziehen, z.B. s. Belege 1, 12, 13, 28-30, 43:
- Modalitäten, Bedingungen des Beitritts
- die Möglichkeit, der Weg des/eines Beitritts
- die Form, der Weg des Anschlusses
- die Form der Angliederung
- den Beitritt/Anschluß beschließen, realisieren, vollziehen
- den Beitritt erklären; die Erklärung des Beitritts
- den Beitritt ins Werk setzen
- der Beitritt erfolgt, wird wirksam
- ein geordneter, geregelter, offizieller Beitritt
- ein möglicher, erwarteter, unmittelbarer Anschluß
- die Konsequenzen, ökonomischen Folgen, Finanzierungskosten, sozialen Kosten des/eines Anschlusses
Kollokationen, die unter diesem Aspekt zusammengefaßt werden können, machen den Hauptteil aller Verwendungen aus. Sie thematisieren Bedin-gungen, Procedere, Status, Resultat und Folgen des Beitritts. Es überrascht nicht, daß Beitritt das am häufigsten und mit der größten Zahl unterschiedlicher Kontextpartner gebrauchte Lexem dieser Gruppe von Kollokationen ist, weil die Erörterung der genannten konkreten Teilaspekte zumeist die Verwendung des verfassungstextkonformen Ausdrucks erwarten läßt. Die mit Abstand am häufigsten belegte Wortverbindung ist den Beitritt erklären s. Beleg 28, die besonders in Texten der Phasen 4 und 5 vorkommt. Kollokationen, die sich speziell auf die Folgen, Konsequenzen und Kosten des Beitritts beziehen, sind vor allem mit dem Lexem Anschluß belegt; die Beitrittsgegner machen in den entsprechenden Texten zumeist warnend auf zu erwartende negative Folgeerscheinungen des Beitritts aufmerksam s. Beleg 13.
Kollokationen, die sich auf zeitliche Aspekte des Beitritts beziehen, z.B. s. Belege 2, 13, 14, 31, 32, 49:
- der Tag, der Termin, der Zeitpunkt des Beitritts
- der Augenblick des Anschlusses
- die Beschleunigung des Anschlusses
- ein sofortiger, rascher, schneller, baldiger, früher Beitritt/Anschluß
- der frühestmögliche, raschestmögliche, schnellstmögliche Beitritt
- ein hastiger, hektischer, übereilter Anschluß
- eine schnelle, vorschnelle, übereilte Vereinnahmung
- eine schnelle Angliederung
Der richtige Zeitpunkt der staatlichen Vereinigung und das einzuschlagende Tempo der entsprechenden Vorbereitungen waren zentrale Punkte kontroverser Auseinandersetzungen in der Politik und in den Medien. Auffallend ist, daß in den Kollokationen in diesem Zusammenhang ausschließlich sprachliche Mittel (vor allem Adjektive) verwendet werden, die ein hohes Tempo bzw. einen frühen Zeitpunkt ausdrücken. Einige der verwendeten Adjektive enthalten zusätzlich das negative Bedeutungsmerkmal <allzu> (z.B. hastig, hektisch, übereilt, vorschnell). Sie treten nur in Verbindung mit Anschluß und Vereinnahmung auf und ergänzen die diesen substantivischen Lexemen immanente Kritik am Beitritt um den Aspekt der Kritik am zu hohen Tempo der Herbeiführung des Beitritts bzw. am zu frühen Zeitpunkt des Beitritts.
Kollokationen, in denen die Kollokationspartner der behandelten Lexeme Zustimmung oder Ablehnung in bezug auf den Beitritt bezeichnen;
- :Verfechter, Befürworter des Beitritts
- für den Beitritt sein, plädieren
- für den Beitritt stimmen, dem Beitritt zustimmen
- den Beitritt verlangen
- den Anschluß wollen, befürworten, verlangen, vorantreiben
- : Ablehnung des Beitritts
- Gegner des Anschlusses
- gegen den Beitritt sein
- gegen eine Vereinnahmung der DDR demonstrieren
- sich gegen eine Vereinnahmung der DDR wehren
- den Beitritt torpedieren, zu verzögern suchen
- eine Vereinnahmung ablehnen
- vor Vereinnahmung und Anschluß warnen
attributive Adjektive enthaltende Kollokationen, die eine negative Bewertung des Beitritts zum Ausdruck bringen, z.B. s. Belege 3, 51:
- einseitiger, bedingungsloser Beitritt
- bedingungslose Angliederung s. Beleg 3
- chaotischer, bloßer, kalter Anschluß
- einseitige s. Beleg 51, großkotzige Vereinnahmung
In Verbindung mit denjenigen Bezeichnungen für den Beitritt, die aufgrund ihrer Bedeutung den Vorgang per se negativ bewerten, verstärken negativ wertende Adjektive diese Bewertung unter jeweils spezifischem Aspekt (s. auch die oben genannten Adjektive mit dem Bedeutungsmerkmal <allzu>).
Die negative Bewertung des Beitritts kommt außer in den genannten Kollokationen emotional besonders nachdrücklich in einigen Losungen - Gegen die Annexion der DDR s. Beleg 5, Nein zur Einverleibung der DDR! s. Beleg 45 - zum Ausdruck. Witzigironisch formuliert ist die Ablehnung in dem in Phase 4 auftauchenden Slogan Artikel 23 - kein Anschluß unter dieser Nummer!, dessen zweiter Teil auf den Artikel des Grundgesetzes zum Beitritt Bezug nimmt und in Gestalt einer bekannten formelhaften Telefonansage mit zwei Bedeutungen von Anschluß ('telefonische Verbindung', 'Angliederung') spielt s. Beleg 16.
Eine Gruppe besonderer Art bilden jene Kollokationen, die nicht auf die Herstellung der Einheit im Sinne der Bildung eines deutschen Staates, sondern auf die Herstellung der Einheit hinsichtlich bestimmter gesellschaftlich relevanter Bereiche Bezug nehmen, z.B.
- der wirtschaftliche, währungspolitische, monetäre Anschluß
- die wirtschaftspolitische und währungspolitische Übernahme
- eine währungspolitische Vereinnahmung s. Beleg 52
- die politische Annexion
Die mit den Kollokationen gefaßten Sachverhalte müssen nicht an das Beitrittsdatum des 3. Oktober 1990 gebunden sein, sondern können - wie z.B. die Währungsunion - auf dem Weg zur staatlichen Einheit angesiedelt sein. Kollokationen mit Beitritt fehlen in dieser Gruppe, weil Beitritt als Verfassungsterminus nur das Beitreten des gesamten Staates DDR bezeichnen kann.
Wortbildung
Wendezeitrelevante Wortbildungskonstruktionen sind in größerer Zahl nur mit den Lexemen Beitritt und Anschluß belegt, vereinzelt mit Einverleibung und Vereinnahmung. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um okkasionelle Bildungen.
Beitritt und Anschluß als letzter Bestandteil von Wortbildungskonstruktionen:
Die in den Zusammensetzungen als Grundwörter auftretenden Lexeme Beitritt und Anschluß werden durch die Bestimmungswörter unter verschiedenen Aspekten charakterisiert.
In vier der elf belegten Zusammensetzungen erfolgt die Charakterisierung unter dem Zeitaspekt. Die Bestimmungswörter bezeichnen kritisch-distanziert das übereilte Tempo der Herbeiführung des Beitritts (Blitzanschluß, Schnellanschluß, Sofortanschluß, Sturzbeitritt), wobei die Bestandteile Blitz- und Sturz- die ablehnende Einstellung betont expressiv ausdrücken s. Belege 17, 36.
Aus unverkennbar kritischer Haltung heraus sind auch die Zusammensetzungen D-Mark-Anschluß, West-Anschluß, Unterwerfungsanschluß (s. Beleg 18 mit einer Äußerung von Gregor Gysi) gebildet, deren Bestimmungswörter aus der Sicht des Sprechers die bestimmende Orientierung des Beitritts (D-Mark, Westen) bzw. die vom Sprecher abgelehnte Art seines Zustandekommens (Unterwerfung) bezeichnen.
Wertungs- und emotionsfrei sind weitere drei Zusammensetzungen, deren Bestimmungswort den beitretenden Teil (DDR-Beitritt; s. Beleg 35), die verfassungsmäßige Grundlage (Artikel-23-Beitritt) oder die bloße Negation (Nicht-Beitritt) bezeichnet.
Beitritt, Anschluß, Einverleibung und Vereinnahmung als erster Bestandteil von Wortbildungskonstruktionen:
Zusammensetzungen, die sich auf Aspekte der Realisierung des Beitritts beziehen, z.B. s. Belege 22, 24, 37, 40, 42, 46, 47, 53:
- Beitrittsartikel, Beitrittsbestimmung, Beitrittsparagraph, Anschluß-Artikel, Anschlußparagraph, Einverleibungsbestimmung (= Artikel 23 des Grundgesetzes)
- Beitrittsvertrag, Anschlußvertrag, Einverleibungsvertrag (= Einigungsvertrag)
- Beitrittsbedingung (WK nur Pl.), Beitrittsbeschluß, Beitrittserklärung, Beitrittsformulierung (WK nur Pl.), Beitrittsmodalität (WK nur Pl.), Beitrittsprojekt, Beitrittsübergangsparlament, Beitrittsverfahren, Beitrittsvollzug, Beitrittsweg, Beitrittsfolge (WK nur Pl.)
- Anschlußbestrebung (WK nur Pl.)
- Anschlußpolitik, Anschlußvariante, Anschlußverfahren, Anschluß-Votum
- Einverleibungsplan (WK nur Pl.), Einverleibungspolitik
- Vereinnahmungsprozeß
Die Grundwörter dieser Zusammensetzungen sind sämtlich wertungsneutral. Es dominiert als Bestimmungswort Beitritt, was ebensowenig verwundert wie die Dominanz von Beitritt bei inhaltlich vergleichbaren Kollokationen, da die Bezeichnung der konkreten Verfahrensmodalitäten des Beitritts die Verwendung des verfassungstextkonformen Ausdrucks erwarten läßt. Die anderen, den Beitritt negativ bewertenden Bestimmungswörter geben der Zusammensetzung insgesamt eine negative Bewertung.
Die beiden am häufigsten belegten Zusammensetzungen in dieser Gruppe sind Beitrittserklärung und Anschlußpolitik. Mit Beitrittserklärung wird die in einer Sondersitzung der Volkskammer der DDR nach heftigen Debatten am 23.8.1990 erfolgte Erklärung des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik bezeichnet.
Zusammensetzungen, die sich auf den Zeitpunkt des Beitritts beziehen, z.B. s. Beleg 41:
- Beitrittsdatum, Beitrittstag, Beitrittstermin
Als Beitrittstermin wurde nach langem Hin und Her in der Volkskammer schließlich der 3. Oktober 1990 festgelegt. Für die Bezeichnung dieses Zeitpunktes sind nur Zusammensetzungen mit der verfassungstextkonformen Bezeichnung Beitritt belegt. Negativ bewertende Bezeichnungen werden in den Diskussionen über das konkrete Datum des historischen Vorgangs sichtlich nicht verwendet.
Beitrittstermin ist von allen in diesem Kapitel behandelten Zusammensetzungen die am häufigsten belegte.
Keiner dieser drei Gruppen sind die folgenden Lexeme zuzuordnen, die mit Ausnahme von Beitrittsgebiet nur vereinzelt belegt sind:
- Beitrittsbefürworter (WK nur Pl.), Beitrittsgebiet s. Beleg 38, Beitrittskuschelmuschel, Beitrittsthema, Beitrittswilliger (WK nur Pl.)
- Anschlußdrama, Anschlußeuphorie, Anschlußfrage (WK nur Pl.; s. Beleg 20), Anschlußgedanke (WK nur Pl.), Anschlußgerede, Anschlußmentalität s. Beleg 21
- beitrittsbedingt (beitrittsbedingte Grundgesetzänderungen)
- anschlußreif (die DDR anschlußreif reden; s. Beleg 23)
Beitrittsgebiet s. Beleg 38 wurde als verwaltungssprachliche Bezeichnung für das Gebiet der neuen Bundesländer geprägt; alle Belege stammen aus Phase 6, d.h. der Zeit nach der staatlichen Vereinigung. Die Bedeutung der Bildung Anschlußfrage ist nur im Textzusammenhang zu verstehen; sie läßt in der Formulierung des Kongreß-Themas Anschluß der DDR - Anschlußfragen der Linken s. Beleg 20 bewußt sowohl die Lesart 'Fragen zum Anschluß' als auch die Lesart 'Fragen im Anschluß an ...' zu.
Resümee
Die behandelten Lexeme beziehen sich wendezeitspezifisch auf den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gemäß Artikel 23 des Grundgesetzes. Mit ihnen wird teils sachlich, wertungs- und emotionsfrei (Beitritt), teils kritisch-distanziert oder emotional-ablehnend (Angliederung, Annexion, Anschluß, Einverleibung, Übernahme, Vereinnahmung) auf den Beitritt Bezug genommen.
Mehrere der Lexeme treten besonders als erster Bestandteil von Wortbildungskonstruktionen auf.