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Italien: Staatsbankrott oder Rettung durch EU - DER SPIEGEL
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Woche der Entscheidungen Misstrauen gegen das System

Die Italiener wählen. Angesichts der Stimmung im Land könnte die nächste Eurokrise dort ihren Ausgang nehmen. Leider ist Berlin immer noch ohne handlungsfähige Regierung.
Obdachloser in Mailand (Archivbild)

Obdachloser in Mailand (Archivbild)

Foto: Luca Bruno/ AP

Europa könnte nächste Woche einen großen Sprung machen - nach vorn oder ins große Nichts. Die Antwort ist offen.

Es steht viel auf dem Spiel, wenn kommenden Sonntag zwei langerwartete Entscheidungen fallen: Italien wählt ein neues Parlament. Und in Deutschland wird sich herausstellen, ob die SPD-Mitglieder einer weiteren Koalition mit der Union zustimmen. Je nachdem, wie die Ergebnisse ausfallen, könnte die Eurozone endlich auf ein solideres Fundament gestellt werden - oder in eine neue Krise rutschen. Möglich, dass sich die schwelende Krise im drittgrößten Eurostaat (Italien) in einer Eruption entlädt und dass der größte Eurostaat (Deutschland) gelähmt zusehen muss.

Bislang sind die Börsen entspannt. Aber das könnte sich übernächsten Montag ändern.

Beginnen wir mit Italien, einem der am höchsten verschuldeten Staaten der Welt. Nicht nur die finanzielle Situation ist angespannt. Auch die wirtschaftliche und die soziale Lage ist in vielerlei Hinsicht prekär. Entsprechend mies ist die Stimmung in der Bevölkerung.

Zugegeben, das ist nichts Neues. Aber bislang wird das Land von einer pragmatischen Mitte-Links-Regierung unter Premier Paolo Gentiloni geführt, die die Misere zu managen weiß. Ob auch die nächste Regierung in der Lage sein wird, mit stagnierender Wirtschaft, hoher Verschuldung und entmutigter Bevölkerung umzugehen, ist offen. Die Stimmung in Italien ist jedenfalls ziemlich mies.

Generelles Misstrauensvotum gegen das System

Keine andere der großen westeuropäischen Nationen ist so unzufrieden wie die Italiener. Die Demoskopen haben ein wahrhaft erschreckendes Bild zutage gefördert. 74 Prozent halten die Lage in ihrem Land für schlecht. 80 Prozent fällen dieses Urteil über die heimische Wirtschaft. 68 Prozent finden die öffentlichen Leistungen im Lande schlecht.

Entsprechend groß ist das Misstrauen - gegenüber den Behörden (72 Prozent) und der Justiz, der Regierung (78 Prozent) und den Parteien (83 Prozent). Die Zahlen stammen aus der letzten Eurobarometer-Umfrage von November.

Der Frust trifft auch Europa. Eine relative Mehrheit von 46 Prozent der Italiener glaubt, ihr Land hätte eine bessere Zukunft vor sich, wäre es außerhalb der EU. Die Zustimmung zum Euro ist nirgendwo in der Eurozone so gering wie in Italien - obwohl doch der Italiener Mario Draghi die Europäische Zentralbank (EZB) anführt.

Es ist ein generelles Misstrauensvotum gegen das System. In Deutschland mag es nach den langen GroKo-Jahren eine politische Ermattung geben, aber das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Landes und seiner Institutionen ist nach wie vor hoch. In Frankreich und Spanien ist die Krise mental noch nicht völlig überwunden, aber es ist doch so etwas wie Aufbruch sichtbar: In Paris regiert ein tatkräftiger Präsident ; in Spanien wächst immerhin die Wirtschaft seit Jahren wieder kräftig. Das hilft.

In Italien gibt es nichts dergleichen. Wie wählt so ein Land?

Berlusconi ante portas - oder Schlimmeres?

Angesichts der Stimmungslage ist es wenig verwunderlich, dass die fundamental-oppositionelle Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo wohl als stärkste Kraft ins Parlament einziehen wird, so die letzten vor der Wahl veröffentlichten Umfragen. Doch an einer Koalitionsregierung will sich die Grillo-Truppe nicht beteiligen.

Die besten Chancen auf eine Parlamentsmehrheit hat das Rechtsbündnis um Silvio Berlusconis Forza Italia. Nicht gerade berauschende Aussichten: Berlusconis Regierungszeiten seit den Neunzigerjahren sind noch in schlechter Erinnerung. Mit einer Mischung aus öffentlich zur Schau getragener Frivolität und reformerischer Untätigkeit ist er zweifellos für den derzeitigen Zustand Italiens mitverantwortlich. Aber immerhin hat er in Aussicht gestellt, Antonio Tajani, den moderaten Präsidenten des Europaparlaments, zum Premier zu machen. Einen Mann, der den Zustand prekären Stabilität erhalten könnte.

Die Sache kann allerdings auch schiefgehen. Die Lega Nord, Berlusconis rechter Bündnispartner, liegt in den Umfragen nur wenige Prozentpunkte zurück. Für den Fall, dass er am Ende ein paar Stimmen mehr hätte als die Forza Italia, hat Parteichef Matteo Salvini bereits für sich selbst das Amt des Premiers reklamiert.

Salvini hat schon Positionen vertreten, die denen von Frankreichs rechtsnationaler Vorfrau Marine Le Pen ähneln - inklusive einer Absage an EU und Euro. Inzwischen gibt er sich zwar moderater. Schockierend wäre eine Regierung Salvini zweifellos, für die europäischen Partner und für die Wirtschaft. Mehr als ein Drittel der Wähler war zuletzt noch unentschieden. Überraschungen sind daher möglich, auch schlimme.

Grandezza im ökonomischen Abstieg

Was die Situation heikel macht: Italien ist wirtschaftlich in einer fast aussichtslosen Lage. Es ist der große Verlierer der Währungsunion. Die verfügbaren Pro-Kopf-Einkommen liegen heute real um einiges niedriger als vor Beginn der Währungsunion im Jahr 1999. In Deutschland, Frankreich oder Spanien haben die Bürger im Schnitt um rund 25 Prozent mehr Einkommen als damals, hat der Internationale Währungsfonds (IWF) berechnet.

Zwar hat der aktuelle internationale Aufschwung auch Italien erfasst. Aber das Wachstum wird vor allem getrieben von extrem niedrigen Zinsen, der EZB sei Dank, und relativ billigem Öl. Beides wird nicht ewig währen.

Was Italien für eine nachhaltige Erholung bräuchte, wäre eine gigantische Produktivitätsinitiative: Unternehmensinvestitionen, Bildung, Forschung, Infrastruktur. Aber dazu fehlt es an finanziellem Spielraum. Der Staat schiebt einen Schuldenberg von mehr als 130 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) vor sich her. Eisernes Sparen gehört deshalb seit vielen Jahren zur Grundausrichtung des italienischen Fiskus. Es nützt nur nicht viel, wenn die Wirtschaft stagniert. Die Banken wiederum sitzen auf großen Beständen fauler Kredite, was die Finanzierung neuer Unternehmensinvestitionen erschwert.

Italien, so sieht es aus, ist in einer Abwärtsspirale gefangen. Was sich auch darin zeigt, dass das Land seit der Finanzkrise eine ansteigende Auswanderungswelle erlebt. Wie soll man internationale Investoren überzeugen, wenn schon die eigenen jungen Leute ihre Chancen anderswo suchen?

Es sind insbesondere junge Akademiker, die gehen, weil sie keine Perspektive sehen. Dabei hat Italien bereits eine extrem niedrige Akademikerquote. Nur 18 Prozent der 25- bis 64-Jährigen haben einen Hochschulabschluss. (Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Quote bei 28 Prozent, in Frankreich bei 34, in Spanien bei 35 Prozent.) Im internationalen Vergleich der OECD rangiert Italien zwischen Mexiko und der Türkei.

Nach dem Brexit ein Euroscita?

Wenn der drittgrößte Euro-Staat in Richtung Pleite trudelt, gefährdet das die Stabilität der gesamten Währungsunion. Italien ist zu groß, als dass es vom Euro-Rettungsschirm ESM gerettet werden könnte. Bislang hilft die EZB mit Niedrigstzinsen und dem Aufkauf von Staatsanleihen. Aber diese Unterstützung wird irgendwann zu Ende gehen. So ist die EZB dabei, ihre Marktinterventionen zurückzufahren, was die langfristigen Zinsen steigen lassen und Italiens Schuldendienst verteuern dürfte.

Was dann? Auf Dauer gibt es aus heutiger Sicht zwei Wege:

  • Entweder Italien scheidet aus dem Euro aus und legt eine partielle Staatspleite hin.
  • Oder es gelingt doch noch irgendwie, ein Investitions- und Reformprogramm zu zimmern, das eine dauerhafte Stabilisierung ermöglicht.

Ein Euroscita, die Italo-Variante des Brexit, ist ein Hochrisikoszenario, dessen weltweite Auswirkungen sich kaum vorhersagen lassen. Angesichts der gigantischen ausstehenden Schulden hätte er das Zeug, die nächste Finanzkrise auszulösen.

Eine Wiederbelebung der italienischen Wirtschaft wiederum ist ohne Hilfe der übrigen Eurozone kaum denkbar. Und damit sind wir - zu guter Letzt - beim Mitgliederentscheid der SPD.

Eine göttliche Tragödie und ihr Personal

Die erneute schwarz-rote Koalition ist vielleicht die letzte Chance, Europa zu stabilisieren. Auch wenn es an vielen Details fehlt, immerhin haben sich die neu-alten Regierungsparteien dazu durchgerungen, auf Frankreichs Emmanuel Macron zuzugehen und gemeinsam die Eurozone auszubauen. Wenn es im Koalitionsvertrag heißt, Schwarz-rot befürworte "spezifische Haushaltsmittel für wirtschaftliche Stabilisierung und soziale Konvergenz und für die Unterstützung von Strukturreformen in der Eurozone, die Ausgangspunkt für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone sein könnten", dann geht es dabei offenbar zuallererst um Italien.

Man kann gegen diese Art von innereuropäischer Umverteilungspolitik sein. Man kann sie falsch und ungerecht finden. Man kann sie deshalb von ganzem Herzen ablehnen. Aber wer entsprechend denkt, muss die Alternative benennen. Und die sieht, wie die Dinge liegen, so aus: Ausstieg aus dem Euro (und der EU?), Staatsbankrott, die nächste globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Vielleicht nicht übernächste Woche, aber in nicht allzu ferner Zukunft.

Sollte der SPD-Mitgliederentscheid kontra GroKo ausgehen, dann ist es höchst fraglich, ob Deutschland die politische Kraft für die Euro-Stabilisierung aufbringt. Eine Unionsminderheitsregierung (achten Sie auf den CDU-Bundesparteitag am Montag) jedenfalls würde sich damit enorm schwertun - zumal wenn in Rom abermals Berlusconi die Strippen zöge.

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