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Schulddiskurs 1945-1955 : "Gegenwart"
 
Schulddiskurs 1945–55
Gegenwart
Nichttäterdiskurs

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Kontinuität der persönlichen Existenz und vollständiger Wandel ihrer Bedingungen sind die Bewusstseinslagen, die das Lebensgefühl derjenigen bestimmen, die das Jahr 1945 als Bruch wahrnehmen, als "Zeitpunkt des Jetzt", der "die Grenze [ist] zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr" (RGG3 VI, S. 1881). Zwar ist Zeitreflexion, das Beziehen der Zeiten und ihrer Erscheinungen aufeinander, die Kausalisierung der Gegenwart aus der Vergangenheit und die Motivierung der Zukunft aus der Gegenwart, ein genuin historiografisches und zeitunabhängiges Denkmuster (s. Tellenbach 1946a, S. 226; Tellenbach 1946a, S. 228). In der frühen Nachkriegszeit ist es jedoch ein Reflexionsmodus der Intelligenz überhaupt. Gegenwart ist also "der Ort, wo die Vergangenheit zur Sprache gebracht wird: Sprechen kann nämlich die Vergangenheit nur, wenn sie infrage steht; und die Frage, die sie zum Sprechen bringt, entspringt dem Orientierungsbedürfnis der aktuellen Lebenspraxis im Hinblick auf dort virulente Zeiterfahrungen" (Rüsen 1983, S. 54). In der Gegenwart nach 1945 spricht die Vergangenheit sozusagen besonders laut. Diese Gegenwart mit ihren Zerstörungen hat eine besonders evidente kausale Verbindung zur Vergangenheit der NS-Herrschaft und zum Krieg. Die Diskursbeteiligten realisieren mit diesem Schlüsselwort also ein ausgeprägtes Gegenwartsbewusstsein. Sie deuten Gegenwart als verpflichtende Instanz. Gegenwart ist nicht unbedeutender Übergang von Vergangenheit zu Zukunft, sondern hat eigenständigen Wert als Folge von Vergangenheit und als Voraussetzung für Zukunft (s. Ebbinghaus 1945, S. 46; Tellenbach 1946a, S. 228; Steinbüchel 1946/47, S. 20f.; Müller-Armack 1949, S. 26f.). Diese auf das Jetzt als Bewusstseinskategorie referierende Haltung drückt sich darüber hinaus aus in dem häufigen Gebrauch der Zeitdeiktika heute, Stunde, Wende, Zeit, in den Bewertungen der Gegenwart mit apokalyptisch und Finsternis sowie in den mit nie und niemals gebildeten Wendungen (nie).

Das Schlüsselwort Gegenwart referiert im Diskurs der Nichttäter weniger auf persönliche Befindlichkeiten als vielmehr auf gesellschaftlich-politische Erscheinungen: chaotische Schlickwirbel der Gegenwart; die Gegenwart befindet sich in einer Kulturkrise; Gegenwart hoffnungsarmer Mühsal (s. Weisenborn 1947, S. 108; Pribilla 1947, S. 119; Heuss 1948, S. 17). Vor allem referiert es auf Notwendigkeiten: der zukünftige Geist der deutschen Politik abhängig von der Kraft, die wir in der Gegenwart entfalten; in einer apokalyptischen Gegenwart gilt es, eine neue bessere Welt aufzubauen; aus einem solchen Welterleben hat sich unsere innere substantielle Haltung der Gegenwart gegenüber zu ergeben (s. Ebbinghaus 1945, S. 46; Schmid 1946, S. 11; Geiler 1947, S. 172f.; Müller-Armack 1949, S. 21; Müller-Armack 1949, S. 32f.). Die Kontexte der in diesem Sinn hergestellten Referenzen lassen erkennen, dass deren Funktion die Schaffung einer zuversichtlichen Haltung ist. Daher steht das Schlüsselwort Gegenwart häufig in semantischer Beziehung zu Bezeichnungen, die auf Anschluss an Zukunft und Zuversicht referieren, wie z. B. Kraft; neue, bessere Welt; aufbauen; neu beginnen; Schwingen entfalten (s. Schmid 1946, S. 11; Pribilla 1947, S. 119; Geiler 1947, S. 172f.; Heuss 1948, S. 17).

Gelegentlich referieren die Nichttäter mit Gegenwart nicht nur auf das Ende der Naziherrschaft, vgl. Sturmseen, Schlickwirbel der Gegenwart, sondern auch auf einen epochalen Umbruch (s. Tellenbach 1946a, S. 226; Müller-Armack 1949, S. 149; Nigg 1949, S. 12).

Belege (17)
 
So scheint mir der zukünftige Geist der deutschen Politik abhängig zu sein von der Kraft, die wir in der Gegenwart entfalten, um unsere Vergangenheit zu überwinden. (Ebbinghaus 1945, S. 46)
 
In einer apokalyptischen Gegenwart gilt es nun, aus Schutt und Trümmern eine neue, bessere Welt aufzubauen. .. Dazu braucht es Ehrfurcht, Liebe, Gemeinschaft, Freiheit und Bindung, einen weltüberwindenden Glauben und eine neue Verbindung mit den ewigen Kräften, kurz, ein Zurückführen zum Fühlen und Denken im abendländischen Geiste. (Schmid 1946, S. 11)
 
die Perspektiven der Entstehungsgeschichte des deutschen Reiches, ja der gesamten deutschen Geschichte verschieben sich stark in den erschütternden Umwälzungen der Gegenwart. .. der tatsächliche Geschehensverlauf ist noch nicht Geschichte. (Tellenbach 1946a, S. 226)
 
Und so ist die Bildung des geschichtlichen Bewußtseins immer auf die kritische Vergangenheitserforschung und auf die Erfassung der gegenwärtigen Situation wie der Zukunftsperspektiven zugleich angewiesen, d. h. auf die Deutung des Ganzen der Geschichte. (Tellenbach 1946a, S. 228)
 
Das Gegenwärtige lebt aus dem Vergangenen, und das Vergangene lebt selbst im Gegenwärtigen. Wir entfliehen der Gegenwart nie durch Versenken in das Vergangene, das immer noch da ist, immer noch Gegenwart baut und in der Krisis der Gegenwart zerstörerisch fortwirkt. Was soll uns .. die Frage .. nach den geistesgeschichtlichen Hintergründen der gegenwärtigen Krisis ..? Die historische Besinnung holt das Historische nicht um seiner selbst willen herauf, sie betrachtet es als gegenwärtige Wirkmacht .. Sie lehrt uns einmal die Gegenwart und ihre geistigen Wirkmächte wirklich kennen; sie lehrt uns zugleich, die Menschen unserer Zeit verstehen, ihre geistige Verfassung, ihre Motive und Ziele, so wie sie ihnen aus der geschichtlichen Entwicklung überkommen sind, in der ja alle Menschen als geschichtlich von Vergangenheit durch Gegenwart in Zukunft wandernde Menschen stehen. (Steinbüchel 1946/47, S. 20f.)
 
Nachdem die Springflut des Krieges sich verlaufen hat, .. chaotische[..] Schlickwirbel[..] der Gegenwart, .. Sturm dieser Zeit, .. erregte[..] Sturmseen der Gegenwart (Weisenborn 1947, S. 108)
 
Wir stehen .. vor der Tatsache, daß die Krisis der Gegenwart durch die zersetzenden Kräfte desselben Abfalls bestimmt ist, der die Weltanschauung des Nationalsozialismus charakterisierte. (Künneth 1947, S. 307)
 
Nun kann es wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die Gegenwart sich in einer Kulturkrise von unerhörter Tiefe und Härte befindet. .. Die Menschheit ist an einem kritischen Punkt ihrer Geschichte angelangt .. nichts anderes [scheint] übrig zu bleiben .., als das Werk der menschlichen Kultur von neuem zu beginnen. .. Deutlich zeichnet sich .. das Heraufziehen einer Zeitenwende ab. (Pribilla 1947, S. 119)
 
Dieses Heutige, Diesseitige, .., ist ja nur ein Teil unseres Gesamtdaseins, das auch die geistig-seelische Welt und damit sowohl das Vergangene wie in gewissem Sinne auch das Künftige mit umfaßt. Je mehr wir uns der Ganzheit unseres Daseins in diesem Sinne bewußt sind, desto weniger kann das Heutige, Niederdrückende Gewalt über uns gewinnen, desto freier vermögen Geist und Seele in uns ihre Schwingen zu entfalten, .. Aus einem solchen Welterleben .. hat sich .. unsere innere substantielle Haltung der Gegenwart gegenüber zu ergeben. Um sie näher zu bestimmen, ist es nötig, sich darüber klar zu werden, wo wir zeit- und geistesgeschichtlich heute stehen. (Geiler 1947, S. 172f.)
 
Recht, in einer Gegenwart hoffnungsarmer Mühsal von dem Sinn hoffnungsreicher Mühseligkeiten einer deutschen Vergangenheit zu sprechen (Heuss 1948, S. 17)
 
Diesen durch alle schmerzvollen und verzerrten Züge der Zeit hindurchschimmernden Geist in unserer Gegenwart heraufzurufen (Müller-Armack 1949, S. 21)
 
[Gewisse Richtungen der christlichen Theologie, die sozialistische Entwicklungstheorie und die liberale Fortschrittsidee] entwerten alle .. die Gegenwart zugunsten eines Vergangenen oder Künftigen. Es ist doch nicht einzusehen, weshalb, da die Vergangenheit aus einer Folge früherer Gegenwarten sich zusammensetzt und die Zukunft aus einer Folge künftiger Gegenwarten besteht, die heutige Gegenwart einen grundsätzlich geringeren Akzent erhalten soll. .. der Mensch [blickt] aus der Gegenwart in die Vergangenheit und Zukunft .., nur aus dieser Perspektive kann das geschichtliche Leben richtig begriffen werden. (Müller-Armack 1949, S. 26f.)
 
Eben weil wir nicht Marionetten in der Hand von Entwicklungstendenzen sind, die gedankenlos folgen müssen, können wir unsere Gegenwart nur bestehen in radikalster Reflexion auf das in ihr zu Tuende. Diese Reflexion gehört geradezu zum Lebensvollzuge der Gegenwart. Alle lebendige Existenz vollzieht sich im Positionsnehmen, das eine bewußte Abgrenzung gegenüber der Vergangenheit voraussetzt. Erst aus dem lebendig gewordenen Wissen, welche Kräfte der Vergangenheit man als innerlich verwandt bejaht, gegen welche Kräfte der Vergangenheit man sich ablehnend verhält, erwächst einer Zeit das Wissen um ihre eigenste Aufgabe. .. wir, die wir das Problem unserer Zeit tiefer empfinden und kein so ungebrochenes Zutrauen zur Geschichte haben, glauben, unserer Zeit gegenüber auf diese Selbstbesinnung nicht verzichten zu dürfen. (Müller-Armack 1949, S. 32f.)
 
Unsere Zeit .. wurde .. in eine Lage versetzt, die .. das Zuendesein jenes Schwebezustands, jener Unentschiedenheit .. ist, in die das neunzehnte Jahrhundert seine Schöpfungen hüllte. .. Die geistige Lage unserer Gegenwart wird dadurch bestimmt, daß ein .. katastrophales .. Geschehen gleichsam einen Schlußstrich unter eine geistige Entwicklung setzt. Was sich heute vollzieht, ist .. das echte Zuendesein einer Epoche. (Müller-Armack 1949, S. 149)
 
Eine Zeit, welche einen Geistesumbruch von solchem Ausmaß erlebt wie die Gegenwart, ist direkt aufgefordert, an diese überfällige Revision vieler Geschichtsurteile zu gehen. (Nigg 1949, S. 12)
 
Was ist das für eine Glaswand, die die Zeiten scheidet, die sich doch jetzt in mir berühren, da ich dies beides, das Damals und das Jetzt doch selbst bin, das Damals nicht weniger als das Jetzt? Was ist die Zeit? Was ist Vergangenheit und Gegenwart? Was ist unsere Existenz in der Zeit? .. Wieso war ich das eine damals und bin ich das andere heute? Was ist denn eigentlich dieses 'war' und 'bin'? Für andere, die mir ans Herz gewachsen sind .., ist das Heute noch ihr Jetzt, was für mich heute mein Damals ist, und weil es für sie jetzt noch Gegenwart ist, darum kann es auch für mich nie ganz zur Vergangenheit werden, - und wenn es auch für sie einmal, wie wir hoffen, vergangen sein wird, dann wird es für viele andere noch Gegenwart sein. Und was wissen wir, was für uns noch zur Gegenwart werden wird und ob wir nicht wieder einmal aus Gittern und Stacheldraht in die unerreichbare, vergangene Freiheit starren werden, wenn das heutige Jetzt zum Damals geworden sein wird! (Gollwitzer 1951, S. 339f.)
 
Die Vergangenheit ist noch nicht Vergangenheit. Sie ist .. auch nicht mehr Gegenwart; die ist jäh und plötzlich zu Ende gegangen. Ein Abgrund liegt zwischen ihr und dem Heute. (Freund 1954, S. 316)