Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Kontinuität der persönlichen Existenz und vollständiger Wandel ihrer Bedingungen sind die Wahrnehmungen, die das Lebensgefühl derjenigen bestimmen, die das Jahr 1945 als "Zeitpunkt des Jetzt" empfinden, der "die Grenze [ist] zwischen Noch-nicht und Nicht-mehr" (
RGG
3 VI, S. 1881). Zwar ist Zeitreflexion, also das Beziehen der Zeiten und ihrer Erscheinungen aufeinander, ein genuin historiografisches und zeitunabhängiges Denkmuster, insbesondere die Kausalisierung der Gegenwart aus der Vergangenheit und die Motivierung der Zukunft aus der Gegenwart. In der Umbruchphase der frühen Nachkriegszeit ist es jedoch ein Reflexionsmodus der Intelligenz überhaupt. Diese stark auf die Gegenwart bezogene Haltung drückt sich aus in dem häufigen Gebrauch der Zeitdeiktika heute, Gegenwart, Stunde, Wende, Zeit, in den Bewertungen der Gegenwart mit apokalyptisch und Finsternis sowie in den mit nie und niemals gebildeten Wendungen (nie).
Die mit Stunde bezeichnete Gegenwart wird gedeutet im Sinn eines durch Veränderung gekennzeichneten Zeitpunkts, vgl. in entscheidender Stunde; Schicksalsstunde; in dieser entscheidenden Stunde; eine neue Stunde der Entscheidung (s. Erhard 1945, S. 55;
Grimme 1945a, S. 32;
SPD 1945, S. 29;
Bäumer 1946, S. 25), und hinsichtlich der Zerstörungen der frühen Nachkriegszeit, vgl. Stunde der Not; böse und dunkle Stunde; Stunde der großen Weltverdüsterung (s. Kaisen 1945, S. 16;
Kirschweng 1946, S. 5;
Jacob 1947, S. 8). Darüber hinaus bezeichnet Stunde in einer Formulierung wie Gebot der Stunde ein Moment des Handelns (s. Benz 1945, S. 39;
Grimme 1945a, S. 13). Theologen deuten Stunde in Verbindungen wie Gerichtsstunde, Gottesstunde im religiösen Sinn als Erfahrung göttlicher Macht (s. Wurm 1945, S. 22;
Hammelsbeck 1946, S. 189).
Diese Ehrfurcht wieder zu erwecken, ist das Gebot der Stunde. Das Licht, das nur noch wenigen leuchtete, muß wieder scheinen in der Finsternis, ob es das Ganze auch noch nicht durchleuchtet und durchglutet.
(Benz 1945, S. 39)
Schicksalsstunde .. Entscheidungszeit .. Kairos .. die Größe dieser Zeit .., die uns erlaubt, die Welt von allen Vorurteilen frei neu aufwachsen zu lassen aus der Wurzel, .. Aufbau aus dem Nichts, .. creatio e nihilo!
(Grimme 1945a, S. 32)
diese Gerichtsstunde für Volk und Kirche .. eine Gnadenstunde, eine Möglichkeit, das Wohlgefallen des heiligen Gottes zu erwerben
(Wurm 1945, S. 22)
In dieser entscheidenden Stunde ist es wiederum die geschichtliche Aufgabe der deutschen Arbeiterklasse, Trägerin des Staatsgedankens zu sein: einer neuen, antifaschistisch-demokratischen Republik!
(SPD 1945, S. 29)
nicht vergessen werden darf, daß wir, die wir von den Vertretern der Siegermächte einzeln aufgesucht und für die Leitung der Regierungsgeschäfte geradezu überredet werden mußten, ausschließlich nur aus innerem Pflichtgefühl dem Rufe gefolgt sind, dem Volk in der Stunde der Not beizustehen, eine vorläufige Regelung der Staatsgewalt zu schaffen, schließlich Wahlen auszuschreiben, um wiederum zu einer ordnungsmäßigen, vom Volk gewollten Regierung zu kommen.
(Kaisen 1945, S. 16)
nun hat eine neue Stunde der Entscheidung geschlagen. Wir haben keine Wahl .. Ein "Zurück" gibt es nicht.
(Bäumer 1946, S. 25)
Wir alle, die wir als Reifgewordene oder als Heranreifende als durch Erfahrung Belehrte oder als auf Erfahrung Ausgehende durch diese weltgeschichtliche Stunde hindurchgeschritten sind, haben etwas erlebt, was alle Vorstellungen, Mutmaßungen, Berechnungen, mit denen das Bewußtsein sich dem Kommenden entgegenstreckte, unabsehbar weit hinter sich ließ. In einer überschaubaren Reihe von Jahren haben wir eine Ereignisfolge sich abwickeln sehen, die durch das Ausmaß der Taten, die vollbracht, der Leiden, die erduldet, der Leidenschaften, die entfacht und der Verfehlungen, die begangen wurden, jedes Vergleichs mit früheren Daseinskrisen spottet.
(Litt 1948, S. 129)
Das eben ist die Mission, die der Geist der Geschichte uns, den Überlebenden der Katastrophe, auferlegt hat, daß wir in die Helligkeit des Gedankens und in die Wachheit des Gewissens emporheben, was das Drama dieser Weltstunde dem Wissensbereiten an blendenden Aufschlüssen zur Verfügung stellt.
(Litt 1948, S. 130ff.)