Schulddiskurs 1945–55 | |
SS |
Initialen der in ausgeschriebener Form kaum gebrauchten nationalsozialistischen Organisations- und Funktionsbezeichnung Schutzstaffel in der Bedeutung 'Gruppe von weltanschaulich auf Hitler und den Nationalsozialismus eingeschworenen und sich als nationalsozialistische und im weiteren Sinn als germanische Elite verstehenden Männern und Frauen, die während des nationalsozialistischen Regimes diesem als Herrschafts-, Macht- und Terrorinstrument dienten'. Die SS ist seit 1925 die Nachfolgeorganisation der 1923 geschaffenen Leibgarde zum Schutz Hitlers (Stabswache, Stoßtrupp Hitler), die zunächst der SA (i. e. Sturmabteilung) unterstellt war, bevor sie seit dem sog. 'Röhmputsch' (30. Juni 1934) eine selbstständige, Hitler direkt unterstellte Organisation wurde, deren Mitglieder auf den 'Führer' vereidigt waren und die sich unter dem von Hitler 1931 formulierten Wahlspruch "Meine Ehre heißt Treue", der auch auf der Klinge des sog. SS-Dolches eingraviert war, auf bedingungslosen Gehorsam verpflichteten. Am 6. Januar 1929 wurde Heinrich Himmler von Hitler zum sogenannten 'Reichsführer SS' ernannt, der, nachdem er 1936 auch Chef der Polizei wurde, die SS zur Exekutivinstanz des Herrschafts- und Terrorwillens des nationalsozialistischen Regimes machte. Die Konzentrationslager waren ihr direkt unterstellt, ihre sogenannten 'Totenkopfverbände' statteten die Lagerführung personell aus.
Die SS, sich selbst als 'Eliteeinheit' verstehende Organisation, war von einem Mythos umgeben, den die Opfer mit ihren Beschreibungen radikal zerstören, durch Bezeichnung von Herrschaft, die sich enthüllt "als die Macht, Leid zuzufügen und zu vernichten" (Améry 1977, S. 72), als die Macht, die nichts weiter ist als die "Mordmacht" des Henkers, die die Macht eines Menschen ist, denn "selbst das ärmste Opfer kann nichts anderes tun als festzustellen, daß die Macht des Henkers .. immer nur die eines Menschen sein kann: die Mordmacht." (Antelme 1957/1990, S. 309) Macht ist die die Wahrnehmung der Gegenmenschen (Jean Améry) verdichtende Bezeichnung und als solche Element des Konzepts SS. Kennzeichen des Redens über die SS aus der Opferperspektive ist, dass diese Bezeichnung die binäre Einteilung in sie und wir repräsentiert: "Ihrer war die Arbeit und die Knechtschaft, jener war die Macht und das Herrentum. Ihrer war die Leistung und das Wissen, die Planung, das Schöpfertum aus dem Nichts, jener war die Unwisssenheit, die Peitsche, der Kolben, das Richten, die Marter. Hier war das ganze Volk vom Bettler bis zum Reichstagsabgeordneten, vom namenlos Geborenen bis zum Freiherrn, Handwerker und Gelehrte, Ärzte, Juristen und Pfarrer. Dort war die Uniform, unter der sich nichts verbarg als das Gleichmaß einer Weltanschauung. Dort waren siebzehnjährige Wachtposten, Knechte nach äußerer und innerer Bildung und Haltung, vor denen der Adlige der Geburt oder des Geistes mit der Mütze in der Hand zu stehen hatte. Dort waren Blockführer, deren Sprache und Gebärden die von Zuhältern waren. Dort war ein Lagerführer, der Schlossergeselle gewesen war und der im Delirium mit der Peitsche durch die Bunker ging. Da waren zwei Welten." (Wiechert 1939/1964, S. 73) Die einfache Ordnung von sie und wir legen vor allem die politisierten Buchenwald-Häftlinge ihren Berichten zugrunde. Eine differenziertere Ordnung, welche die Gegenmenschen der SS auch als unerwartete 'Menschenfreunde' darstellt, ist selten (s. Frankl 1945, S. 136f.).
SS als Bezeichnung für das Hauptinstrument des Nationalsozialismus zur Umsetzung seines Vernichtungsprogramms ist aus der Opferperspektive Schlüsselwort zur Bezeichnung von Brutalität und Grausamkeit. Opfer repräsentieren diese Erfahrung, indem sie aus SS und Gewalt, Willkür, Bestien, Verbrecher, Sadist usw. ein semantisch kohärentes konzeptuelles Netz bilden. Die in Opfertexten häufig belegte Organisationsbezeichnung SS ist Ausdruck für das Bedürfnis der Opfer nach einer Zuordnung von Taten und Tätern. Opfer erfahren und erfassen den Nationalsozialismus durch diese Funktionsbezeichnung SS, zumeist in der Verbindung SS-Mann, SS-Leute, auch SS-Weib(er).
Darüber hinaus sind häufig belegt Verbindungen von SS mit Rangbezeichnungen der streng nach dem Führerprinzip hierarchisch gegliederten Organisation (SS-Hauptsturmführer, SS-Obersturmführer, SS-Sturmbannführer). Diese Rangbezeichnungen werden oft auch zusammen mit dem Namen der betreffenden Person gebraucht (s. Beleg Schifko-Pungartnik 1946, S. 17; Eiden 1946, S. 217-219). Opfer nennen die Namen der Gegenmenschen nicht nur, weil sie als Chronisten bestrebt sind, diesem Wahrheitsaspekt nachzukommen, sondern Opfer machen Listen, wie die Täter Listen gemacht haben. Beide Listen identifizieren - die eine zwecks Vernichtung, die andere, um dem Bösen eine Identität zu geben. Mit der Angabe von Dienstgrad und Name identifizieren und individualisieren Opfer ihre Peiniger. Sie machen ihre Namen zu Begriffen, um zu kompensieren, um ihnen, die sie entindividualisiert und nummeriert (Nummer) haben, statt einer anonymisierenden Nummer einen identifizierenden Namen und damit einen Begriff zu geben. Nummer und Rödel, SS-Sturmbannführer sind in diesem Sinn begriffliche Komplemente. Im Beschreiben seines Peinigers fragt sich Jean Améry: "warum soll ich eigentlich seinen Namen verschweigen, der mir später so geläufig wurde? Es geht ihm vielleicht gut zur Stunde, und er fühlt sich wohl in seiner gesunden geröteten Haut, wenn er vom Sonntagsausflug im Auto heimkehrt. Ich habe keinen Grund ihn nicht zu nennen. Der Herr Leutnant, der hier die Rolle eines Spezialisten für Folterungen spielte, hieß Praust - P-R-A-U-S-T." (Améry 1977, S. 61f.) Während den Tätern erst die Anonymisierung der Opfer ihre Vernichtung erlaubt, erfordert die von dieser Vernichtung erzählende Darstellung der Opfer umgekehrt die Identifizierung der Täter.
Opfer beschreiben Täter je nach Tätergruppe, je nach der Erfahrung, die sie mit ihnen machten, je nach Gefährdung, der sie durch sie ausgesetzt waren, je nach biografischen und politischen Voraussetzungen, je nach Distanz, die sie aufbringen können oder nicht.
Häufig gebraucht werden solche Stereotype, die die Korruptheit der SS herausstellen, mit denen die Opfer ihre Sicht auf die Gegenmenschen zu manifestieren suchen: die Psychologie der Lager-SS .. ihre korrupte Geldgier, faul und dumm, roh und feig, disziplinlos und korrupt sind die Haupteigenschaften, aus denen die SS-Führung den SS-Mann zu fabrizieren hatte (s. Kogon 1946a, S. 156; Kautsky 1948, S. 122; Kautsky 1948, S. 114).
Wer die SS unmittelbar, direkt und bei der Ausübung ihrer Verbrechen erlebt hat, vermag in ihren Mitgliedern nichts weiter als die Furchtbarkeit des Bösen zu sehen. Die Sprache der KZ-Berichte ist die Sprache zur Vermittlung der Opfersicht auf die Gegenmenschen im Moment der Ausübung ihrer Macht, nicht im Moment der Analyse und Diagnose. Aus dieser Perspektive kann die Sprache der Opfer zu nichts anderem dienen, als perhorreszierend und unmittelbar den Schrecken zu bezeichnen, der den Opfern in Gestalt der SS gegenüberstand: der grausamen Willkür der tollwütigen und blutgierigen, zum Mord dressierten SS ausgeliefert; Drei, vier, fünf SS-Männer prügelten auf ihm herum; entfesselte Bestien (s. Eiden 1946, S. 212; Eggerath 1947, S. 79; Klieger 1958, S. 103-105).
Unabhängig davon ist auf Belege zu verweisen, in denen SS bzw. Stellvertreter dieser Bezeichnung in zynischen bzw. ironischen Kontexten gebraucht werden. Denn Kennzeichen der rückblickenden, den Mythos der SS zerstörenden Erfassung sind nicht nur die Dokumentation des vernichteten Humanismus und das Entsetzen darüber, sondern auch der Versuch, durch Distanz schaffenden Zynismus die Erfahrung des Gegenmenschen zu verarbeiten. Dies gelingt vor allem dann, wenn die Berichterstatter nicht persönlich betroffenes Opfer sind (s. Kogon 1946a, S. 314; Kogon 1946a, S. 119; Eiden 1946, S. 237; Eiden 1946, S. 226). Der semantische Bruch zwischen den Ausdrücken, die die Tat repräsentieren, und denen, die diese kommentieren, also die inhaltliche Unvereinbarkeit von durch Steine töten und Belustigung, von Häftlinge in den Bärenzwinger werfen und zerfleischen lassen und neronisches SS-Vergnügen etwa, entlarvt das aus den Fugen geratene Wertesystem der Gegenmenschen als System der Unwerte. Solch zynische Kommentare schaffen also Distanz zu dem 'Monstrum SS-Mann'. Befreiend hingegen sind Ironisierungen der SS-Leute zu komischen Figuren. Beides, Monstrum und komische Figur, sind Möglichkeiten der Gegenmenschen. Beides, ihr brutales Tun und ihr intellektuelles Unvermögen, ihre Einfalt und ihr pompös zur Schau getragenes Deutschtum, sind Erscheinungsformen, in denen die Gegenmenschen den Opfern begegnen. Den typischen Widerspruch zwischen Sein und Wollen ironisiert man z.B. durch die Gegenüberstellung mit dem nationalsozialistischen Ideal etwa von Germanen- und Heldentum mit nationalsozialistischem Sein. Dieser Widerspruch ist zu offensichtlich, um ihn nicht zur Entlarvung zu verwerten. Opfer sind und fühlen sich ihren Peinigern weit überlegen, und sie markieren ihre Überlegenheit durch die ironisierende Ausführung des Themas 'geistige Beschränktheit der SS': Hohlköpfe des SS-Totenkopf-Verbandes; selten war ein SS-Mann imstande, eine genaue Zahlenaufstellung zu machen (s. Kogon 1946a, S. 126; Kogon 1946a, S. 103). Gegenstand der Karikierung ist auch ihre äußere Erscheinung: SS-Weiber .. die Karikatur einer Köchin in Generalsattitüde (s. Vermehren 1946, S. 59f.).
Vgl. Brackmann/Birkenhauer 1988, S. 177; Schmitz-Berning 1998, S. 590-593