Das bedingte Inkrafttreten eines Gesetzes

Das Inkrafttreten eines Gesetzes darf nur unter besonderen Umständen von dem Eintritt einer Bedingung abhängig gemacht werden. Diese muss so klar formuliert sein, dass über deren Bedeutung keine Unsicherheit besteht; für alle muss über den Zeitpunkt der Normverbindlichkeit Klarheit herrschen. Die Bestimmung des Tags des Inkrafttretens darf nicht delegiert werden; Bedingungseintritt und Inkrafttreten dürfen nicht beliebig Dritten überlassen werden. Es ist jedoch dem Grunde nach mit Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, das Inkrafttreten eines Gesetzes an die Bedingung bestimmter beihilfenrechtlicher Maßnahmen der Europäischen Kommission zu knüpfen.

Das bedingte Inkrafttreten eines Gesetzes

Eine Regelung zum Inkrafttreten eines Gesetzes (hier: in Art. 3 der 16. AtG-Novelle)  ist nicht allein deshalb verfassungswidrig, weil sie beihilfenrechtliche Maßnahmen der Europäischen Kommission zur Bedingung des Inkrafttretens macht.

Ob die konkrete Regelung des Art. 3 der 16. AtG-Novelle den Anforderungen des Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG an die Klarheit einer Bedingung des Inkrafttretens genügt, konnte das Bundesverfassungsgericht dagegen im vorliegenden Fall dahinstehen. 

Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG gibt dem Gesetzgeber auf, den Tag des Inkrafttretens zu bestimmen.  Damit ist jedoch nicht schlechthin unvereinbar, wenn der Gesetzgeber das Inkrafttreten von einer Bedingung abhängig macht, ohne ausdrücklich ein Datum zu bestimmen; unter besonders gelagerten Umständen darf das Inkrafttreten eines Gesetzes von dem Eintritt einer Bedingung abhängig gemacht werden1. Dabei darf die Bestimmung des Tags des Inkrafttretens jedoch nicht delegiert werden; Bedingungseintritt und Inkrafttreten dürfen nicht beliebig Dritten überlassen werden2. Zudem muss die Bedingung so klar formuliert sein, dass über deren Bedeutung keine Unsicherheit besteht; der Bedingungseintritt muss für alle Beteiligten, insbesondere für Bürgerinnen und Bürger, erkennbar sein. Dies folgt aus Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG. Die grundgesetzliche Regelung will sicherstellen, dass über den Zeitpunkt der Normverbindlichkeit Klarheit herrscht. Die Bestimmung des zeitlichen Geltungsbereichs einer Rechtsvorschrift muss wegen der vielfach weittragenden Wirkung hinreichend genau fixiert sein, damit die Normadressaten den Beginn ihres Berechtigt- oder Verpflichtetseins erkennen können. Auch Exekutive und Rechtsprechung müssen auf möglichst einfache Weise feststellen können, von wann ab die neue Vorschrift anzuwenden ist. Die klare Bestimmung des Inkrafttretens dient den rechtsstaatlichen Geboten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit über die zeitliche Geltung des Rechts3

Für das Inkrafttreten der 16. AtG-Novelle hat der Gesetzgeber kein Datum bestimmt. Die 16. AtG-Novelle soll nach ihrem Art. 3 vielmehr an dem Tag in Kraft treten, an dem die Europäische Kommission die beihilfenrechtliche Genehmigung erteilt oder verbindlich mitteilt, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich ist, wobei das für die kerntechnische Sicherheit und den Strahlenschutz zuständige Bundesministerium den Tag des Inkrafttretens im Bundesgesetzblatt bekannt geben soll. Dass beihilfenrechtliche Maßnahmen der Kommission Bedingung des Inkrafttretens sind, macht die Inkrafttretensregelung für sich genommen nicht verfassungswidrig und überlässt die Bestimmung des Tags des Inkrafttretens nicht der beliebigen Entscheidungsmacht Dritter. Ob die beiden alternativen Bedingungen des Inkrafttretens hinreichend klar geregelt sind, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. 

Es ist dem Grunde nach mit Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar, das Inkrafttreten des Gesetzes an die Bedingung beihilfenrechtlicher Maßnahmen der Europäischen Kommission zu knüpfen. Der Gesetzgeber musste hier das grundsätzliche Verbot staatlicher Beihilfen (vgl. Art. 107 Abs. 1 AEUV) und das für tatbestandliche Beihilfen geltende Notifizierungserfordernis (vgl. Art. 108 Abs. 3 AEUV) berücksichtigen. Die 16. AtG-Novelle begründet zur Schaffung des durch das Bundesverfassungsgericht im Urteil vom 06.12.2016 geforderten Ausgleichs Ansprüche auf finanzielle Leistungen des Staates. Zwar sind nach der sogenannten Asteris-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Zahlungen, zu denen nationale Behörden zum Ersatz eines Schadens verurteilt werden, den sie Privatpersonen verursacht haben, keine Beihilfen4. Allerdings können nach § 7f Abs. 1 Satz 1 AtG mittelbar auch solche Unternehmen in den Genuss staatlicher Ausgleichsleistungen kommen, für die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 06.12.2016 nicht von der Notwendigkeit eines Ausgleichs ausgegangen ist5. Wenn die fragliche Regelung aber beihilfenrechtliche Bedeutung besitzen könnte6, darf der Gesetzgeber den Bedingungseintritt von der beihilfenrechtlichen Genehmigung der Europäischen Kommission abhängig machen7

Art. 3 der 16. AtG-Novelle überlässt die Bestimmung des Tags des Inkrafttretens nicht beliebig Dritten.

Zwar hängt das Inkrafttreten nach Art. 3 der 16. AtG-Novelle von einer beihilfenrechtlichen Genehmigung oder verbindlichen Mitteilung der Europäischen Kommission ab. Die Kommission ist jedoch zum einen nicht beliebige Dritte, sondern ist das hier für die Anwendung des insoweit vorrangigen Unionsrechts zuständige Organ (vgl. Art. 108 AEUV). Zum anderen ist die Entscheidung der Kommission durch Art. 107 und 108 AEUV sowie das konkretisierende Sekundärrecht rechtlich vorgezeichnet, ist also nicht in deren Belieben gestellt.

Auch die Betrauung des für die kerntechnische Sicherheit und den Strahlenschutz zuständigen Bundesministeriums mit der Bestimmung und Bekanntgabe des Zeitpunkts ist keine unzulässige Entscheidungsdelegation. Dem Ministerium ist nicht aufgegeben, selbst den Zeitpunkt des Inkrafttretens zu bestimmen. Vielmehr hat es den Bedingungseintritt deklaratorisch festzustellen und zu verlautbaren8.

Ob die beiden alternativen Bedingungen des Inkrafttretens hinreichend klar im Sinne des Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG formuliert sind, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung.

Keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, soweit Art. 3 der 16. AtG-Novelle darauf abstellt, dass die Europäische Kommission die beihilfenrechtliche Genehmigung erteilt. Es ist hinreichend klar und damit verfassungsrechtlich zulässig, das Inkrafttreten eines Gesetzes davon abhängig zu machen, dass die Europäische Kommission eine solche Genehmigung erteilt.

Nicht in gleichem Maße klar ist hingegen die Bedeutung der alternativen Bedingung, dass die Europäische Kommission verbindlich mitteilt, dass eine solche Genehmigung nicht erforderlich ist. Es ist nicht ohne Weiteres zu erkennen, welche Art von beihilfenrechtlicher Maßnahme der Kommission hiermit gemeint ist.

Von der Möglichkeit der „Mitteilung“ macht die Kommission nach dem von ihr veröffentlichten Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren am Ende der sogenannten Voranmeldephase Gebrauch9. Kontakte in dieser Voranmeldephase sollen den Kommissionsdienststellen und dem anmeldenden Mitgliedstaat die Möglichkeit geben, die rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekte eines geplanten Beihilfevorhabens im Vorfeld der Anmeldung auf vertrauensvoller Grundlage informell zu erörtern10. Im Verhaltenskodex heißt es in der im Frühjahr 2018 einschlägigen Fassung11:

„Außer in Fällen, die wesentliche Neuerungen beinhalten oder besonders komplex sind, ist die Kommission bestrebt, dem betreffenden Mitgliedstaat am Ende der Voranmeldephase informell  ihre erste Einschätzung des Vorhabens mitzuteilen . Diese Einschätzung bindet die Kommission nicht  und ist nicht als deren offizieller Standpunkt zu werten; vielmehr erläutern die Kommissionsdienststellen mündlich und informell die Vollständigkeit des Anmeldungsentwurfs und auf Prima-facie-Grundlage die Vereinbarkeit des geplanten Vorhabens mit dem Gemeinsamen Markt. In besonders komplexen Fällen können die Kommissionsdienststellen auf Antrag des Mitgliedstaats auch schriftliche Erläuterungen zu den noch fehlenden Angaben geben.“ 

Daneben kennt das Beihilfenrecht die verbindliche Handlungsform des Beschlusses. Ein solcher Beschluss würde die in Art. 3 der 16. AtG-Novelle geforderte Inkrafttretensbedingung („verbindlichen Mitteilung„) bei entsprechendem Inhalt erfüllen. Art. 3 der 16. AtG-Novelle verlangt eine verbindliche Mitteilung der Kommission, dass eine beihilfenrechtliche Genehmigung nicht erforderlich ist. Es sind verschiedene Beschlüsse denkbar, aus denen sich verbindlich ergeben würde, dass es keiner beihilfenrechtlichen Genehmigung bedarf. So stellt die Kommission nach einer sogenannten vorläufigen Prüfung gegebenenfalls durch Beschluss fest, dass die angemeldete Maßnahme keine Beihilfe ist (Art. 4 Abs. 2 BeihilfenverfahrensVO). Stellt die Kommission nach einer vorläufigen Prüfung fest, dass die angemeldete Maßnahme zwar eine Beihilfe ist, aber keinen Anlass zu Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt gibt, beschließt sie, keine Einwände zu erheben (Art. 4 Abs. 3 BeihilfenverfahrensVO). Auch wenn die Kommission nach einem förmlichen Prüfverfahren zu dem Schluss gelangt, dass die angemeldete Maßnahme keine Beihilfe ist, stellt sie dies durch Beschluss fest (Art. 9 Abs. 2 BeihilfenverfahrensVO). Stellt sie nach einem förmlichen Verfahren fest, dass, gegebenenfalls nach Änderung durch den betreffenden Mitgliedstaat, die Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit der angemeldeten Maßnahme mit dem Binnenmarkt ausgeräumt sind, so beschließt sie, dass die Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (Art. 9 Abs. 3 BeihilfenverfahrensVO). 

Ob der Gesetzgeber in Art. 3 der 16. AtG-Novelle mit der Bedingung der „verbindlichen Mitteilung“ solche Beschlüsse meinte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, weil im Gesetz nicht von Beschluss, sondern von Mitteilung die Rede ist; außerdem sind die eben aufgeführten Beschlüsse im unionsrechtlichen Sinne jedenfalls teilweise auch Genehmigungsbeschlüsse (vgl. Art. 3 BeihilfenverfahrensVO), sodass sie bereits die erste Inkrafttretensbedingung („beihilfenrechtliche Genehmigung„) erfüllen. Eine als „verbindliche Mitteilung“ bezeichnete Maßnahme und Handlungsform sieht das Beihilfenrecht jedoch nicht vor. Die genannten Beschlüsse kommen einer verbindlichen Mitteilung, dass eine beihilfenrechtliche Genehmigung nicht erforderlich sei, am nächsten. Ob diese vom Gesetzgeber gewählte Bedingung die verfassungsrechtlich gebotene Klarheit aufweist, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, weil die Bedingung jedenfalls nicht erfüllt ist.

Für die Erkennbarkeit des Bedingungseintritts hat der Gesetzgeber gesorgt, indem er geregelt hat, dass das für die kerntechnische Sicherheit und den Strahlenschutz zuständige Bundesministerium den Tag des Inkrafttretens im Bundesgesetzblatt bekannt gibt. 

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29. September 2020 – 1 BvR 1550/19

  1. vgl. BVerfGE 42, 263 <283 f.> Brenner, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl.2018, Art. 82 Rn. 47; Kment, in: Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl.2020, Art. 82 Rn. 10; strenger Bauer, in: Dreier, GG, Bd. 2, 3. Aufl.2015, Art. 82 Rn. 27; Butzer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 82 Rn. 284 (Dez.2014); Nierhaus/Mann, in: Sachs, GG, 8. Aufl.2018, Art. 82 Rn. 41; Wolff, in: Hömig/Wolff, GG, 12. Aufl.2018, Art. 82 Rn. 13; wohl auch Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, 6. Aufl.2012, Art. 82 Rn. 18[]
  2. vgl. BVerfGE 42, 263 <284>[]
  3. vgl. BVerfGE 42, 263 <285>[]
  4. vgl. EuGH, Urteil vom 27.09.1988, Asteris u. a. /Griechische Republik u. a., 106 bis 120/87, EU:C:1988:547, Rn. 24[]
  5. vgl. BVerfGE 143, 246 <361 Rn. 320> näher unten Rn. 77 ff., 81[]
  6. vgl. dazu Ludwigs, NVwZ 2019, S. 1501 <1503>[]
  7. vgl. Butzer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 82 Rn. 283 m.w.N.; von Lewinski, in: Bonner Kommentar, GG, Bd. 16, Art. 82 Rn. 285 []
  8. vgl. BVerfGE 42, 263 <288 f.>[]
  9. damals Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, ABl. C 136 vom 16.06.2009, S. 13; im Folgenden: Verhaltenskodex 2009; nunmehr Verhaltenskodex für die Durchführung von Beihilfeverfahren, ABl. C 253 vom 19.07.2018, S. 14[]
  10. vgl. Verhaltenskodex 2009, S. 13 <14 Rn. 10>[]
  11. Verhaltenskodex 2009, S. 13 <15 Rn. 16>[]