Ausweisung eines bereits in Deutschland geborenen Kosovaren

Die Ausweisung ist ein Eingriff in das Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit des sich im Bundesgebiet aufhaltenden Ausländers1. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auf freie Entfaltung der Persönlichkeit steht als allgemeines Menschenrecht auch Ausländern zu. Die Beschränkung des Grundrechts der Freizügigkeit auf Deutsche und auf das Bundesgebiet (Art. 11 Abs. 1 GG) schließt nicht aus, auf den Aufenthalt von Ausländern in der Bundesrepublik Deutschland Art. 2 Abs. 1 GG anzuwenden2.

Ausweisung eines bereits in Deutschland geborenen Kosovaren

Der Eingriff liegt im Entzug des Aufenthaltsrechts und der daraus folgenden Verpflichtung zur Ausreise (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 5, § 50 Abs. 1 AufenthG); auf weitere mit der Ausweisung verbundene Rechtsnachteile kommt es daneben – für die Frage des Vorliegens eines Grundrechtseingriffs – nicht an.

Ausweisungen oder sonstige Maßnahmen zum Entzug oder zur Verkürzung eines bereits gewährten Aufenthaltsrechts sind aufgrund gesetzlicher Vorschriften grundsätzlich möglich. In materieller Hinsicht markiert in diesem Zusammenhang allerdings – vorbehaltlich besonderer verfassungsrechtlicher Gewährleistungen – der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die verfassungsrechtliche Grenze für Einschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG3.

Die einzelfallbezogene Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers sowie deren Abwägung gegen-einander ist den Verwaltungsgerichten übertragen. Das Bundesverfassungsgericht kann diese gerichtlichen Entscheidungen nicht in allen Einzelheiten, sondern nur auf die Beachtung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe überprüfen4. Die verfassungsgerichtliche Überprüfung erstreckt sich darauf, ob die Verwaltungsgerichte die für die Abwägung wesentlichen Umstände erkannt und ermittelt haben und ob die vorgenommene Gewichtung der Umstände den Vorgaben der Verfassung entspricht.

Hierbei sind auch die Vorgaben der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu berücksichtigen5. Danach besteht zwar für sogenannte faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot. Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen6.

Verlangt die gesetzliche Grundlage der Ausweisung, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, so sind Anhaltspunkte dafür zu benennen, dass eine schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft droht und damit von ihm eine bedeutende Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Die Feststellung entsprechender Anhaltspunkte durch die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte muss nachvollziehbar und darf nicht willkürlich sein7.

Dabei kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat angesichts der mit einem solchen Verhalten regelmäßig verbundenen erheblichen kriminellen Energie einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen. Es ist von Verfassungs wegen daher grundsätzlich nicht zu beanstanden, wenn in diesen Fällen die für eine spezialpräventive Ausweisung erforderliche Wiederholungsgefahr angenommen wird. Auch schließt eine positive Entscheidung über die Maßregel- oder Straf(rest)aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte sind an die tatsächlichen Feststellungen und Beurteilungen des Strafgerichts rechtlich nicht gebunden. Allerdings kommt diesen tatsächliche Bedeutung im Sinne einer Indizwirkung zu. Kommen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte im Rahmen der ihnen obliegenden aufenthaltsrechtlichen Prognose, insbesondere mit Blick auf den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts zu einer von dieser Indizwirkung abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr, bedarf es hierfür einer substantiierten, das heißt eigenständigen Begründung. Solche Gründe können zum Beispiel dann gegeben sein, wenn der Ausländerbehörde umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, das genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt. Dabei ist der gegenüber der strafgerichtlichen oder strafvollstreckungsrechtlichen Beurteilung regelmäßig späteren Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts Rechnung zu tragen. Demgegenüber ist es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Fachgerichte bei Betäubungsmittelstraftaten in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr sind der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und Therapie. Ein allgemeines Erfahrungswissen darf nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet8.

Erforderlich ist daher eine auf den konkreten Einzelfall bezogene individuelle Gefahrenprognose unter Berücksichtigung aktueller Tatsachen, die die Gefahr entfallen lassen oder nicht unerheblich vermindern können – nicht nur unions, sondern auch verfassungs- und konventionsrechtlich9.

Diesen Maßstäben wurde im Fall der hier entschiedenen Verfassungsbeschwerde der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Nichtzulassung der Berufung10 nicht gerecht. Dem Beschluss lässt sich schon das Vorliegen von hinreichend gewichtigen Gründen für die Annahme einer ernsthaften Wiederholungsgefahr nicht zweifelsfrei entnehmen. Jedenfalls aber entspricht die konkrete Würdigung der von dem Ausländer vorgetragenen Umstände zu seiner Verwurzelung in Deutschland und der Entwurzelung hinsichtlich des Kosovo nicht den aufgezeigten Maßstäben, insbesondere der Notwendigkeit, die aktuelle Entwicklung seit der Aussetzung von Unterbringung und Reststrafe mit besonderer Sorgfalt auszuwerten und zu berücksichtigen.

Es ist schon zweifelhaft, ob der Verwaltungsgerichtshof das Bestehen einer ernsthaften Wiederholungsgefahr in einer den genannten verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Argumentationstiefe begründet hat.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof wertet die vom Ausländer 2017 und 2019 begangenen Taten dahin, dass sie ein „von einer geringen Hemmschwelle gekennzeichnetes, äußerst gewalttätiges Verhaltensmuster“ erkennen lasse, in das er mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zurückzufallen drohe. Ob damit ohne weitere Erkenntnisse eine dem Ausländer wesenseigene und dauerhafte Gewaltneigung hinreichend sicher festgestellt werden kann, ist allerdings fraglich, da die Ausgangssituation beider Taten – alkoholbedingte Enthemmung im Dezember 2017, unvermittelter gewalttätiger Angriff gegen den Ausländer mit nicht unerheblichen Verletzungen im Februar 2019 – höchst unterschiedlich waren und sowohl das Nachtatverhalten bei der letztgenannten Tat als auch das vom Ausländer wiederholt vorgebrachte Erlebnis, schon einmal als Jugendlicher Opfer eines Messerangriffs geworden zu sein, eingehender Würdigung bedurft hätte.

Vor allem aber fehlt es an einer hinreichend substantiierten Begründung für die Abweichung von der strafvollstreckungsgerichtlichen Einschätzung zum Erfolg der vom Ausländer durchgeführten Drogentherapie sowie von der Einschätzung bei der Aussetzung der angeordneten Maßregel der Besserung und Sicherung sowie der Resteinheitsjugendstrafe zur Bewährung nach § 67d Abs. 2 StGB und § 88 Abs. 1 JGG. Obwohl der Verwaltungsgerichtshof im Ausgangspunkt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Indizwirkung strafvollstreckungsgerichtlicher Entscheidungen anführt, lässt seine Entscheidung nicht erkennen, dass er die vom Ausländer begangenen Verkehrsordnungswidrigkeiten oder die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung noch nicht rechtskräftig geahndete Straftat im Straßenverkehr als hinreichend gewichtige Veränderung der relevanten Tatsachengrundlage einstuft oder hieraus konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter ableitet. Nach der angegriffenen Entscheidung „relativieren“ diese Umstände die Einschätzung des Amtsgerichts lediglich und sprächen gegen die behauptete Nachreifung. Allerdings haben weder die Ausländerbehörde noch die Verwaltungsgerichte ein Sachverständigengutachten etwa zur Ernsthaftigkeit der Verhaltensänderung eingeholt; auch hat der Verwaltungsgerichtshof keine konkreten Feststellungen zu den nach seiner Einschätzung drohenden Taten durch den Ausländer getroffen. Die daneben angeführten, eher negativen Bewertungen der mit der Bewährungsentscheidung des Amtsgerichts angeordneten, die Abstinenz des Ausländers einen nachsorgenden Therapiebedarf betreffenden Weisungen stellen keine tragfähige Begründung für die Abweichung von der Entscheidung des Amtsgerichts dar. Auch der Verweis auf die durch das Amtsgericht angeblich festgesetzte „Höchstdauer“ der Führungsaufsicht und Bewährungszeit hätte, jedenfalls soweit er sich auf die Führungsaufsicht bezieht, zumindest näherer Erläuterung bedurft (vgl. einerseits § 22 Abs. 1 Satz 2 JGG, der für die Führungsaufsicht nicht gilt, und andererseits § 2 Abs. 2 JGG i.V.m. § 68c Abs. 1 Satz 1 StGB)11.

Die vom Verwaltungsgerichtshof nicht erkennbar beanstandete Annahme des Verwaltungsgerichts, der Ausländer habe „bereits in der Vergangenheit taktisch motiviert einsichtiges Verhalten gezeigt, (…), ohne dass dies Ausdruck einer tatsächlichen tiefgreifenden Verhaltensänderung“ gewesen sei, wertet die positive Entwicklung des Ausländers zudem ausländerrechtlich gegen ihn, ohne dass für diese Annahme aussagekräftige Indizien vorlägen und ohne dass offensichtlich wäre, dass seine Bemühungen ausschließlich dem Ausweisungsverfahren geschuldet gewesen wären. Diese pauschale Annahme ist mit dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung nicht zu vereinbaren und findet auch in den beigezogenen Akten keine Stütze.

Auch die „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet“ (vgl. § 53 Abs. 1 AufenthG) entspricht nicht den Anforderungen des Art. 2 Abs. 1 GG. In dem angegriffenen Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs fehlt es an einer ernsthaften Berücksichtigung des Umstands, dass der inzwischen 25-jährige Ausländer in München geboren und aufgewachsen ist, dort die mittlere Reife erlangt hat, auch vor der Anlasstat (unter anderem) als Selbstständiger zeitweise berufstätig war und sein Leben ausschließlich (sich in diesem legal aufhaltend) im Bundesgebiet geführt hat, wo auch wesentliche Teile seiner Familie und sein sonstiges soziales Umfeld leben. Selbst wenn er – wie durch den Verwaltungsgerichtshof angenommen: mangels Entwurzelung hinsichtlich des Kosovo – nicht als sogenannter faktischer Inländer betrachtet werden müsste, dürfte der Vollzug der Ausweisung für ihn als eine „im Bundesgebiet geborene und aufgewachsene“12 Person einen Grundrechtseingriff von erheblichem Gewicht darstellen, was im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen angemessen und in einem auf die Erfassung seiner individuellen Lebensverhältnisse angelegten Prüfprogramm zu würdigen ist13; insbesondere das Bemühen des Ausländers um die erfolgreiche Durchführung und den Abschluss seiner Ausbildung wäre in diesem Zusammenhang eingehend zu würdigen. Auch das Verwaltungsgericht widmet sich den im Zeitpunkt seiner Entscheidung relevanten Aspekten nur unzureichend, indem es – im Rahmen der Überprüfung der generalpräventiven Begründung für die Ausweisung – den Status des Ausländers als sogenannter faktischer Inländer in Zweifel zieht, im Ergebnis jedoch offenlässt und – im Rahmen der Abwägung der Bleibe- und Ausweisungsinteressen – lediglich bagatellisierend erwähnt.

Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 18. April 2024 – 2 BvR 29/24

  1. zu den Merkmalen eines Grundrechtseingriffs im Allgemeinen vgl. BVerfGE 105, 279 <299 f.>[]
  2. vgl. BVerfGE 35, 382 <399>[]
  3. vgl. BVerfGE 90, 145 <171 f.> vgl. auch BVerfGE 75, 108 <154 f.> 80, 137 <153>[]
  4. vgl. BVerfGE 27, 211 <219> 76, 363 <389>[]
  5. vgl. BVerfGK 11, 153 <159 ff.>[]
  6. vgl. BVerfGK 12, 37 <45> BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, Rn. 18 f.; Beschluss vom 25.08.2020 – 2 BvR 640/20, Rn. 23 f.; Beschluss vom 06.12.2021 – 2 BvR 860/21, Rn. 17 f.[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.03.2000 – 2 BvR 2120/99, Rn. 10, 15 ; Beschluss vom 06.12.2021 – 2 BvR 860/21, Rn. 18[]
  8. vgl. BVerfG, Beschluss vom 06.12.2021 – 2 BvR 860/21, Rn.19 m.w.N.[]
  9. vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.08.2020 – 2 BvR 640/20, Rn. 24 m.w.N.[]
  10. BayVGH, Beschluss vom 18.12.2023 – 10 ZB 23.1200[]
  11. s. dazu LG Berlin, Beschluss vom 30.06.2009 – 524 Qs 32/09 und Kölbel, in: Eisenberg/Kölbel, JGG, 25. Aufl.2024, § 7 Rn. 61[]
  12. BVerfGK 11, 153 <160>[]
  13. vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16, Rn.19, 24; Beschluss vom 29.01.2020 – 2 BvR 690/19, Rn.20 m.w.N.; Beschluss vom 25.08.2020 – 2 BvR 640/20, Rn. 34[]

Bildnachweis: