Zeitzeugen über die Kindertransporte 1938 »Ich bin nie darüber hinweggekommen«
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Es war ihre Rettung und zugleich das Ende ihres bisherigen Lebens: Rund 10.000 vorwiegend jüdische Kinder wurden ab 1938 innerhalb von neun Monaten aus Deutschland ins Ausland gebracht – ohne ihre Eltern.
Auch Peggy Parnass konnte so vor dem Holocaust gerettet werden. Ihrer Mutter gelang es, Peggy und ihren kleinen Bruder in einen der Transporte zu bekommen.
Peggy Parnass, Überlebende des Holocaust
»Es war keine Kindheit. Das davor war im Grunde ja auch keine Kindheit. Also zu wissen, eben, dass meine Eltern so viel getan haben, um auswandern zu dürfen. Ich wusste ja auch, warum sie auswandern wollten, weil sie nicht sterben wollten. Das war keine Kindheit.«
»Wir wohnten Parterre, und das ist unser Fenster.«
1938 wohnt die jüdische Familie Parnass mit ihren beiden Kindern in Hamburg-Eimsbüttel. Peggy hängt sehr an ihren Eltern.
Peggy Parnass, Überlebende des Holocaust
»Meine Mutter, so süß. Sie roch so gut, duftete wie ein Blumenbeet.«
Die Situation der jüdischen Deutschen wird von Tag zu Tag aussichtsloser. Der antisemitische Terror trifft auch die Kinder.
Peggy Parnass, Überlebende des Holocaust
»Bübchen, mein kleiner Bruder mit seinen blonden Locken. Als er so klein war und mit den vielen blonden Locken, haben die Kinder ihn auf die Straße geschmissen und geschrien: ›Du Judenschwein!‹ Sind auf ihm rumgesprungen.«
In der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938
brennen die Synagogen, Geschäfte werden zerstört. Juden ausgeraubt, gedemütigt, verschleppt oder getötet. Die brutale Gewalt schockiert die Welt.
In London reagiert die britische Regierung schnell und lockert ihre strengen Einwanderungsvorschriften für Kinder bis 17 Jahre. Ohne ihre Eltern.
Nach Großbritannien beteiligt sich auch Frankreich. Diese Bilder zeigen die Ankunft eines Berliner Kindertransports in der Nähe von Paris. Auch die Niederlande, Schweden, Belgien und die Schweiz nehmen jüdische Kinder auf, allerdings viel weniger als Großbritannien.
Peggy aus Hamburg ist bei der Abreise elf Jahre alt und wie die meisten Zeitzeugen der Kindertransporte inzwischen über neunzig.
Kurt verlässt Köln als 13-Jähriger. Beate aus München ist 14, Bob, damals noch Rudolf, aus Hannover 13. Die meisten von ihnen nennen sich aufgrund ihrer Lebensgeschichte nach wie vor »Kinder«. Auch Daisy aus Berlin, die als 14-Jährige ihre Eltern verlässt.
Daisy Hofner, Überlebende des Holocaust
»Zur Auswahl standen England, Holland und Schweden. Das musste man hinschreiben. Mein Vater sagte: Geh nach England, das ist von Wasser umgeben. Das ist weiter entfernt von Deutschland, das ist sicherer.«
Der erste Kindertransport verlässt Berlin bereits am 1. Dezember 1938. Weitere Abreisebahnhöfe sind Hamburg, Frankfurt, Danzig, Prag und Wien.
Eine zeitgenössische Aufstellung der Kindertransporte aus Wien - allein auf dieser Liste stehen 2844 Kinder, die ins Ausland gebracht wurden.
Abschiedsszenen in Prag. Von dort wurde eine Gruppe Kinder ausnahmsweise per Flugzeug gerettet.
An die Abreise erinnern sich die Zeitzeugen bis heute.
Daisy Hofner, Überlebende des Holocaust
»Dort waren all diese Kinder. Einige waren noch sehr klein, ich schätze fünf oder sechs Jahre alt. Die jungen Zugbegleiter arbeiteten vor sich hin, aber einige ältere schüttelten den Kopf und sagten: Das kann
Es ging darum, so viele Kinder wie möglich, so schnell wie möglich zu evakuieren.
Am Berliner Bahnhof Friedrichstraße erinnert ein Denkmal an die Abschiede. Da die Nazis die Verabschiedung auf dem Bahnsteig verbieten, müssen sich die Eltern in einem Wartesaal von ihren Kindern trennen.
Norbert Wollheim ist an der Organisation der Kindertransporte beteiligt und bei den Abfahrten dabei.
Norbert Wollheim, Überlebender des Holocaust
»Kurz vor der Abfahrt stellte ich mich auf einen Stuhl und sagte den Eltern, dass nun die Zeit des Abschieds gekommen ist. Wir baten sie um ihre Kooperation, denn die Fortsetzung unserer Arbeit hing von ihrem Verhalten ab. Es gab Tränen, es wurde gelacht, die letzten Umarmungen und Küsse wurden ausgetauscht. Es war ohne Zweifel eine angespannte Situation. Aber die meisten Kinder waren erwartungsvoll, und ihre Eltern versuchten, ihre Gefühle zu kontrollieren und sich unerschrocken zu geben, um es den Kindern leichter zu machen.«
Peggy Parnass, Überlebende des Holocaust
» Mutti hat ja so getan, als wäre das nicht ein Abschied für immer, sondern eine Reise, so wie man sich verabschiedet, wenn jemand verreist. Hast du ihr das geglaubt? Nein.«
Kurt Marx, Überlebender des Holocaust
»Wir stiegen in den Zug und winkten recht fröhlich zum Abschied. Vielleicht schätzten sie die Lage anders ein, aber selbst ihre Erwartung war im Grunde, uns in einem, vielleicht zwei oder drei Monaten wiederzusehen. Wir würden wieder zusammen sein. Es war also nicht so traurig wie bei einem Abschied für immer. So war die Situation damals nicht.«
Das »Jüdische Nachrichtenblatt« berichtet oft über die
Kindertransporte, das Interesse ist riesig. Auch die wichtigsten Informationen werden als Bekanntmachung dort vermeldet. Es geht um eine der größten Rettungsaktionen für Verfolgte des Hitler-Regimes.
Bob Kirk, Überlebender des Holocaust
»Ich hatte Glück und ergatterte einen Fensterplatz in einer Ecke - wie, das weiß ich nicht. Er konnte nicht reserviert gewesen sein. Ich saß dann dort und kümmerte mich die meiste Zeit der Reise nur um mich selbst. Ich hatte fürchterliche Angst.«
Bea Green ist das Mädchen ganz rechts auf dem Foto, damals auf dem Münchner Hauptbahnhof heißt sie noch Maria Beate Siegel.
Bea Green, Überlebende des Holocaust
»Zu dritt standen wir am Fenster, und ich lehnte mich hinaus. Da sah ich, wie meine Mutter sich hinter meinem Vater verbarg und ihr Taschentuch herausholte. Ich sollte sie nicht weinen sehen. Und erst dann realisierte ich, was gerade geschah.«
Bob Kirk, Überlebender des Holocaust
»Es war eine schreckliche Mischung aus Todesangst, Aufregung und Beunruhigung. Ich hatte keine Ahnung, wohin die Reise ging.«
Daisy Hofner, Überlebende des Holocaust
Und dann stiegen wir in den Zug. Das war am Bahnhof Friedrichstraße. Die Eltern und alle anderen, die die Kinder begleitet hatten, liefen dann los, um die S-Bahn zum Bahnhof Zoo zu nehmen. Denn dort würde der Zug durchfahren und man konnte noch einmal winken. Entsetzlich, oder? Entsetzlich.«
Norbert Wollheim, Überlebender des Holocaust
»Ich habe mir sehr oft die Frage gestellt, woher ich damals den Mut genommen habe, diese Menschen dazu aufzufordern, sich voneinander zu verabschieden. Die Antwort ist, dass niemand von uns zu jenem Zeitpunkt vorhersehen konnte, dass es für die meisten Kinder und Eltern der Abschied für immer sein würde. Dass ungefähr anderthalb Jahre später auf denselben Gleisen, auf denen die Kinder in ein neues Land und in die Freiheit gebracht wurden, die Züge in Richtung Osten rollen und die Eltern in die
Schlachthäuser in Auschwitz und anderswo transportieren würden. «
Jedes Kind durfte nur einen Koffer, ein Handgepäckstück und zehn Reichsmark mitnehmen. Solche Listen mussten die Eltern ihren Kindern in die Koffer legen. Die Nazis kontrollierten alles, Wertsachen beschlagnahmten sie.
Bob Kirk, Überlebender des Holocaust
»Ich habe keine Fotos eingepackt, möglicherweise, um besser
ausblenden zu können, dass ich sehr lange fort sein könnte. Ich hatte auch kein Englisch gelernt und kam somit ohne Vorkenntnisse an. Das war ein Problem. Es gab keine Vorbereitung, vermutlich um
mich nicht zu beunruhigen.«
Die Züge mit den Kindern, die nach Großbritannien wollten, fuhren Richtung Niederlande, bei Bad Bentheim überquerten sie die Grenze, raus aus Hitler-Deutschland.
Daisy Hofner, Überlebende des Holocaust
»Ich schaute aus dem Fenster und sah, wie die Hakenkreuz-Fahne – die Nazi-Fahne – kleiner und kleiner wurde. Und ich dachte: O Gott, jetzt bin ich ein Flüchtlingskind. Guck dir das an, ich habe Deutschland verlassen.«
Bea Green, Überlebende des Holocaust
»Sie können fast alle Kindertransport-Kinder jeden Alters
fragen - die damals sehr jung waren, erinnern sehr wenig. Fast alle haben die fabelhaften niederländischen Frauen nicht vergessen. Sie stiegen mit Orangensaft und Weißbrot mit Butter in unseren Zug. Den Geschmack habe ich nie vergessen.«
Die Züge fahren bis zum Hafen Hoek van Holland. Dort geht es an Bord eines Schiffs, die Überfahrt nach England endet in Harwich. Viele Kinder fahren mit dem Zug weiter nach London.
Am Bahnhof Liverpool Street Station wurden Tausende Kinder von ihren Pflegefamilien in Empfang genommen. Vor allem die jüngeren Kinder finden schnell eine Familie. Viele der älteren Kinder kommen nach der Ankunft erst mal in Heime.
Die Kindertransporte nach Schweden gehen mit dem Zug von Hamburg nach Stockholm. Die Hamburger Kindergärtnerin Eva Warburg hilft bei der Organisation und damit bei der Rettung von circa 500 Kindern. Auf einem Notizzettel notiert sie ihre Namen. Mit dabei sind Ruth Peggy Parnass und ihr Bruder. Die Geschwister werden nach der Ankunft getrennt untergebracht. So sind sie zwar in Sicherheit, aber traumatisiert.
Peggy Parnass, Überlebende des Holocaust
»Nein, ich war in keiner Weise glücklich. Aber die Leute, zu denen ich kam, die waren ja auch nicht glücklich. Ich war nicht ein süßes, liebes kleines Mädchen. Ich war rebellisch und war sicher unmöglich, schwer erträglich für die Leute.«
Den Kindern fällt das Leben unter Fremden anfangs schwer. Für die kindliche Psyche ist die Trennung von den Eltern eine
Katastrophe, das Heimweh riesig. Und doch verblasst ihre Muttersprache Deutsch mehr und mehr.
Kurt Marx, Überlebender des Holocaust
»Verstehen konnte ich es noch, aber sprechen nicht mehr. Ich hatte es vollkommen vergessen.«
Bea Green, Überlebende des Holocaust
»Die Schulleiterin fragte: Wie heißt du? Und ich sagte: Beate. Sie sagte: Wie bitte? Ich wiederholte es wieder und wieder. Dann fragte sie mich, ob ich noch einen anderen Namen habe. Ich sagte: Maria. Den mochte sie auch nicht. Also wurde ich Beate genannt. Aber das konnte niemand aussprechen. So wurde es am Ende B – E – A, und ich hieß fortan Bea.«
Britische Wochenschau
»Diese Aufnahmen stammen aus dem Bransbury Park. Die Kinder sind jüdische Flüchtlinge. Nicht alle von ihnen wissen, wo ihre Eltern sind. Sie schreiben Briefe, von denen viele niemals zugestellt werden.«
Die geliebten Eltern sind weit weg. »Jetzt werde ich mein Zimmer so gut ich kann zeichnen«, schreibt ein Mädchen aus Wien über ihr neues Zuhause. Briefe und Postkarten werden zur einzigen Verbindung.
Kurt Marx, Überlebender des Holocaust
»Meine Mutter schrieb mir auf Englisch. Passt dir deine Kleidung noch? Hast du genug zu essen? Ist dir warm? Danke den Menschen, die sich um dich kümmern. Sie machten sich viel mehr Sorgen, als ich es tat.«
1942 erreicht Kurt dann über das Rote Kreuz dieser Brief.
Kurt Marx, Überlebender des Holocaust
»Das war mein letzter Kontakt, einen Tag, bevor sie von Köln nach Minsk deportiert wurden. Und sie schreibt: ›Ihr Lieben, vor der Abreise innigste Grüße, bleibt gesund, gedenkt unser. Für Dich, lieber Junge, herzliche Geburtstagswünsche, sei fleißig, mache Deiner Umgebung Freude. Vati, Mutti.‹ Das war das letzte Mal, dass ich von ihnen hörte.«
Auch die Eltern von Peggy Parnass schicken ihr Post nach Stockholm – aus dem Warschauer Getto. Bis zuletzt.
Peggy Parnass, Überlebende des Holocaust
»An einem Tag kamen fünf Postkarten. Fünf an einem Tag. Das war der Abschied. Danach kam nichts mehr. Also, das war wohl geschrieben, waren die, an dem Tag, als sie dann nach Treblinka mussten.«
Die Nazis haben Simon und Hertha Parnass in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Nach Kriegsende wurde vielen der geretteten Kinder klar, dass ihre Eltern in den Lagern ermordet worden waren.
Kurt Marx, Überlebender des Holocaust
»Zuerst haben sie mir die Kindheit genommen, dann meinen Besitz, und dann haben sie meine Eltern ermordet.«
Auch Bob bekam irgendwann keine Post mehr, seine Eltern wurden nach Riga deportiert und Opfer einer Massenerschießung der SS.
Die Eltern von Bea und Daisy hingegen haben den Holocaust überlebt – aber trotzdem.
Daisy Hofner, Überlebende des Holocaust
»Ich denke, ich war schwer traumatisiert. Das habe ich lange nicht realisiert. Ich dachte, das alles habe nahezu keine Folgen gehabt. Aber das stimmt nicht. Das ist jetzt sehr persönlich, aber ich denke, dass ich nie darüber hinweggekommen bin.«
Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden die Kindertransporte beendet. Der letzte offizielle Transport kam am 2. September 1939 in Großbritannien an. Auf den Wartelisten standen noch viele, die es nicht schafften. Aber mehr als 10.000 Kinder konnten gerettet werden.
Bea Green, Daisy Hoffner, Bob Kirk und Kurt Marx sind für immer in Großbritannien geblieben, während Peggy Parnass elf Jahre nach dem Krieg in ihre Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt ist, wo sie noch heute lebt.
Hinweis der Redaktion: Die in Großbritannien lebenden jüdischen Opfer der NS-Unterdrückung werden von dem Sozial- und Wohlfahrtsverband »Association of Jewish Refugees« (AJR ) unterstützt. Auch die noch lebenden Zeitzeugen der damals rund 10.000 Kinder, die 1938 bis 1939 auf der Flucht vor den Nazis aufgenommen wurden. Weitere Informationen zu den Interviews mit den Zeitzeugen der Kindertransporte aus dem »AJR Refugee Voices Archives« finden Sie unter www.ajrrefugeevoices.org.uk