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Jean-Jacques Rousseau: Joseph Vogl im Interview zum 300. Geburtstag - DER SPIEGEL
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Jean-Jacques Rousseau: Vordenker eines Zeitalters

Foto: Hulton Archive/ Getty Images

Rousseau zum 300. Geburtstag "Der Mann ist wie ein Brühwürfel"

Zurück zur Natur! Gemeinwohl! Edler Wilder! Die moderne Welt verdankt Jean-Jacques Rousseau viele berühmte Schlagwörter. Zum 300. Geburtstag des Philosophen spricht der Experte Joseph Vogl über dessen Ansichten zur guten Erziehung, erotischen Vorsorge - und perfekten Regierung.

Rousseau hat seinen Ruf weg, als früher Öko-Fundi ("Zurück zur Natur") und Vordenker des "Gemeinwohls", auf das sich totalitäre Regimes immer gern beriefen, von Robespierre über Stalin bis Kim Jong Il. All das tut dem Genfer Philosophen Unrecht, sagt der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl.

300 Jahre nach seiner Geburt lohnt es sich wieder, Jean-Jacques Rousseau zu lesen. Der Mann könnte ohne weiteres in jeder Talkshow mithalten, mit seinen Thesen über die Ungerechtigkeit, über Moral und Kindererziehung. Für Vogl ist der Rousseauismus "die Perfektion indirekten, unmerklichen Regierens". Jean-Jacques Rousseau, der Philosoph des Aufklärungszeitalters, habe vor allem den Störfaktor Mensch ruhig stellen wollen in der Welt.

In diesem Jahr feiert seine Geburtsstadt Genf den "Tricentenaire" mit großem Pomp, Bürgertafeln, Konzerten, Botanisier-Ausflügen. Von Greifswald bis Sao Paulo sind Rousseau umfangreiche Kolloquien gewidmet. Noch einmal wird man seinen "Gesellschaftsvertrag" als Ursprung der Demokratien feiern und seine "Bekenntnisse" als die erste rückhaltlose Selbstoffenbarung des modernen Menschen.

Für Vogl hingegen ist Rousseau ein Symptom. Mit seinen "Urszenen der bürgerlichen Gesellschaft" steht er am Anfang einer neuen rigiden Bevölkerungspolitik, die auf Selbstkontrolle gründet: am Beginn jenes pädagogischen Zeitalters, das vielleicht erst heute zu Ende geht. Nicht die Volkssouveränität war sein erstes Anliegen, sondern das Glück des Regiertwerdens. Die offene Gesellschaft verstand er wohl eher als einen durchorganisierten Vorsorgestaat. Vor allem aber räumt der Literaturprofessor von der Berliner Humboldt-Universität mit dem Gerücht auf, Rousseau stehe für ein 'Zurück zur Natur': "Für ihn ist Natur ein Resultat höchster Kunstfertigkeit, das durch ein System von Pumpen, Röhren und Kanälen unterhalten wird."

SPIEGEL ONLINE: Herr Vogl, wozu sollten wir heute, 300 Jahre nach Jean-Jacques Rousseaus Geburtstag, noch seine Schriften lesen?

Vogl: Der Mann ist wie ein Brühwürfel. Wenn man ihn auflöst, schwimmt das ganze 18. Jahrhundert in der Suppe, mit allen Ingredienzien. Er war eine Art intellektueller Projektemacher.

SPIEGEL ONLINE: Der Philosoph schaffte es, mit seinem Erziehungsratgeber "Emile" und seinem romantischen Roman "Nouvelle Héloise" zum ersten Popstar seines 18. Jahrhunderts zu werden und es sich dabei gleichzeitig mit allen seinen Freunden gründlich zu verderben. Heute wäre dieser unleidliche Paranoiker wohl ein grantelnder Kulturpessimist à la Sarrazin oder bei den Piraten.

Vogl: Eher der Leiter eines Erziehungsheims, voller origineller Ideen für die Heimordnung.

SPIEGEL ONLINE: Und abends würde er sich auf Grund seiner masochistischen Neigungen von der Haushälterin durchpeitschen lassen?

Vogl: Sicher hätte er größere Anstalten zur medizinischen, aber auch erotischen Vorsorge nicht gescheut. Bei allem Tugendeifer und allen Selbststilisierungen hat Rousseau seine Schwächen und Vorlieben nicht versteckt. Und sein "Zurück zur Natur" zeigte ungewollt auch eine ironische Seite und verweist auf seine eigenen körperlichen Widrigkeiten und Beschwernisse.

SPIEGEL ONLINE: Von Rousseau bleibt der Pädagoge, nicht der politische Denker? In seiner Heimatstadt Genf wird Rousseau derzeit vor allem als Befürworter der direkten Demokratie geehrt.

Vogl: Beides geht für ihn zusammen. Der Gesellschaftsvertrag funktioniert nur, wenn es Regierungstechniken gibt, die das Menschenmaterial überhaupt erst zu dieser Vertragsfähigkeit erziehen. Bevölkerungen stellen für ihn ein Ordnungsproblem dar, sie müssen choreographiert und gepflegt werden.

SPIEGEL ONLINE: Eine schreckliche Vorstellung. Man ist bei Rousseaus Utopien an die Roten Khmer erinnert. Ist Rousseau also doch Urvater der Totalitarismen?

Vogl: Nein. Er hat sich nur eine der politischen Grundfragen der Aufklärung gestellt: Wie lassen sich Regieren und Regiertwerden aufeinander abstimmen? Aber natürlich ist er ein herausragender Vertreter des pädagogischen Jahrhunderts. Die Erfindung der Kindheit, die begleitende Aufsicht, die zu einer Mündigkeit durch Beherrschung führen soll, ist unter anderem mit Rousseau in die Welt gekommen. Das Regiertwerden soll einen glücklich machen.

Partys und eiternde Füße

SPIEGEL ONLINE: Ein Masochist des richtigen Lebens?

Vogl: Er begreift Gesellschaften als Wunschmaschinen. Es geht um die Regulierung von Neigungen und Affekten. Damit hat er sich in all seinen Schriften beschäftigt. Da sind feine Grenzziehungen nötig, etwa zwischen Begierde und Bedürfnis. Was ist überflüssig, was notwendig? Wo ist die Grenze zwischen Liebreiz und Frivolität? Dafür steht sein Naturbegriff ein. Für ihn ist Natur keine erste Natur, sondern etwas, das hergestellt werden muss, ein Resultat höchster Kunstfertigkeit. Wie der berühmte Garten Julies in der "Nouvelle Héloise". Da sitzt der Held in einem wunderbaren Naturidyll, das aber durch ein System von Pumpen, Röhren und Kanälen unterhalten wird. Dieser Garten ist natürlicher als die Natur. Und eine Utopie des wohltemperierten Menschen.

SPIEGEL ONLINE: Er war also Sozialdemokrat, kein Liberaler.

Vogl: So kriegen Sie ihn nicht. Es gibt einen großen Enzyklopädie-Artikel von Rousseau über politische Ökonomie. Darin begreift er Gesellschaft als Gleichgewichtsproblem. Es geht um den Ausgleich zwischen den Einzelwillen, zwischen Interessen und Gemeinwohl, um die Vermittlung zwischen Bedürfnissen und Gütern, um die Zuordnung von Wünschen und passenden Wunschobjekten. Eine universelle Balance.

SPIEGEL ONLINE: Bleibt die Frage, wie man dem Souverän den Willen von den Lippen ablesen will.

Vogl: Indem man das Hören innerer Stimmen trainiert. Das soll ja der Effekt der ganzen Erziehungsprojekte und Moralunterweisungen sein. Am Ende kann man auf die Stimme des Gesetzes, des Gemeinwillens in sich selbst horchen und weiß, was zu tun ist.

SPIEGEL ONLINE: Das klingt wieder nach Gewerkschaft.

Vogl: Eher nach neuem Management. Für ihn ist die beste Regierung diejenige, die man nicht spürt. Vielleicht wäre das eine Definition des Rousseauismus: die Perfektion indirekten, unmerklichen Regierens.

SPIEGEL ONLINE: Wie passt der Aufruhr in dieses geschlossene System?

Vogl: Rousseau redet einmal von seltsamen Bräuchen im fernen China. Gibt es Aufruhr in einer Provinz, wird der Präfekt abgesetzt und ins Gefängnis geworfen. Volksaufstände zeugen also von schlechter Regierung. So ist Rousseau zu einem zwiespältigen Ahnen der französischen Revolution geworden: als Inspirator mit seinem "Gesellschaftsvertrag" und mit einem politischen Programm, dem es vor allem um Revolutionsvermeidung ging.

SPIEGEL ONLINE: Voltaire lästerte über Rousseaus Schriften, man bekäme wieder Lust, auf allen vieren zu laufen.

Vogl: Oder man macht schwarze Parodien darauf, wie der Marquis de Sade das getan hat. All die schönen Seelen, all die harmonischen Naturen und alle diese Gesetzesliebe werden dann, ein paar Jahre später, in Sades anatomischem Theater seziert und zerlegt.

SPIEGEL ONLINE: Rousseau stilisierte sich gern als Außenseiter, gleichzeitig war er der Bestsellerautor des 18. Jahrhunderts.

Vogl: Er war vielleicht ein Embryo moderner Intellektueller, berühmt und berüchtigt, verfolgt und verehrt. Und mit einem umfangreichen Ego ausgestattet, das sich nicht scheute, sich als Stimme seiner Zeit, als leidendes Genie darzustellen. Nicht von ungefähr war er in einen der ersten gesamteuropäischen Intellektuellenskandale verwickelt. Was damals, 1766, während Rousseaus Besuch bei Hume in England, genau vorgefallen war, weiß man nicht genau: unkontrollierte Wallungen, schräge Blicke, im Schlaf gemurmelte Worte... Es führte jedenfalls zu einem Zerwürfnis, das als "infernalische Affäre" ganz Europa ein paar Monate lang beschäftigte.

SPIEGEL ONLINE: Rousseau war in jeder Beziehung stilprägend...

Vogl: Auch im Kleinen und Sonderbaren. Am Ende seines Lebens hat er Selbstrechtfertigungen als Flugblätter an Passanten verteilt.

SPIEGEL ONLINE: Wahrscheinlich hatte Rousseaus ästhetische Theorie einen größeren Einfluss auf die Französische Revolution als seine politischen Vorstellungen.

Vogl: Ja, die Festkultur, die Bürgerfeste, mit denen sich die Revolutionäre inszenierten. In seinem "Brief an d'Alembert" hat Rousseau Veranstaltungen dieser Art beschrieben: Das Volk versammelt sich um einen Brunnen, alle sind zugleich Zuschauer und Schauspieler, man spielt und inszeniert sich für sich selbst.

SPIEGEL ONLINE: Was hat Rousseau selbst gelesen?

Vogl: Er hat, natürlich, quer durch die Genres und Fachgebiete gelesen. Aber er hat einmal Defoes Robinson-Roman als Buch aller Bücher benannt. Man braucht, sagt Rousseau, im Grunde nichts anderes lesen. Robinson auf seiner Insel bietet eine Art Enzyklopädie aller Weltverhältnisse. Robinson gibt den Dingen und Wesen Namen, vermisst das Gelände, lernt alle möglichen Handwerke, trifft den guten Wilden und gründet ein kleines Reich. Das 18. Jahrhundert hat diese Geschichten geliebt, und Rousseau hat an Mythen dieser Art, an diesen Urszenen fürs bürgerliche Selbstverständnis mitgearbeitet.

SPIEGEL ONLINE: Was kann man von Rousseau heute noch lesen?

Vogl: Sicher die glückliche Prosa eines glücklichen Botanikers, die "Fünfte Promenade". Und natürlich die "Bekenntnisse", ein immer noch recht radikaler Text. Nicht nur aufgrund der Verstiegenheiten und melodramatischen Attitüden, die man da besichtigen kann, sondern auch wegen der Details aus einer Welt voller Armut: die Gelegenheitsarbeiten, die blutigen und eiternden Füße bei den langen Wanderschaften, die Existenz als Kopist, die physischen Gebrechen. Und immer wieder gerät Rousseau in größte Nähe zu uns. Er verkörpert die Paradoxien der Aufklärung, fordert zum Handgemenge auf.

Das Interview führten Fritz von Klinggräff und Alexander Smoltczyk