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Jürgen Habermas: »Strukturwandel der Öffentlichkeit« in der 2.0-Version - DER SPIEGEL
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Samira El Ouassil

Philosoph über Soziale Medien Habermas und die Demokratie 2.0

Mit 92 Jahren hat Jürgen Habermas seine Theorie der politischen Öffentlichkeit mit Blick auf die sozialen Medien überprüft. Womöglich sieht er sie zu pessimistisch – aber wir müssen sehr bewusst mit ihnen umgehen.

Inmitten anderer, sicherlich wichtigerer gesellschaftlicher Angelegenheiten und Nachrichten ging in den vergangenen Tagen eine Meldung etwas unter. Aus sozialwissenschaftlicher wie politischer Sicht handelt es sich dabei jedoch um Bemerkenswertes, weshalb ich hier darauf hinweisen möchte.

Im Alter von 92 Jahren hat der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas seine Studie »Strukturwandel der Öffentlichkeit« vor dem Hintergrund einer mediatisierten, digitalisierten Öffentlichkeit angepasst. Das 1962 veröffentlichte Werk galt lange als paradigmatische Betrachtung unserer demokratischen Gesellschaft.

Seine theoretische Revision erschien in Form eines Aufsatzes mit dem Titel »Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit« in der Fachzeitschrift »Leviathan«. Deren jüngste Ausgabe  widmet sich unter dem Titel »Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?« mit zahlreichen Autoren explizit einer Überprüfung des Habermas’schen Ansatzes. Inwiefern diese Überlegungen und Hypothesen die früheren Thesen neu ausrichten, das hat der Demokratiewissenschaftler und Journalist Oliver Weber in einem lesenswerten Text  skizziert.

Ankommen in der medialen Gegenwart

Grob und sehr verkürzt gesagt, geht es in Habermas’ berühmter Studie um die Frage, inwiefern in einer politischen, massenmedialen Öffentlichkeit Rationalitätsverhandlungen möglich sind, die zum Erhalt grundlegender wie notwendiger demokratischer Aushandlungen beitragen. Für die Sozialwissenschaften ist offenbar theoretisch noch nicht geklärt, wie nun eine Gesellschaft funktioniert, in der politische Kommunikation – und auch Propaganda, Hass und Fake News – zu einem großen Teil über digitale Plattformen und soziale Netzwerke geschieht.

Habermas setzt sich also im hohen Alter explizit mit Facebook, Twitter & Co. auseinander und kommt zu einem eher ernüchternden Fazit. Er stellt fest, dass die neuen digitalen Werkzeuge, die doch eigentlich durch mehr Kommunikation, mehr Austausch und mehr Autorschaft einzelner Individuen zu mehr Demokratie führen müssten, vielmehr eine anarchische und tribalistische Halböffentlichkeit schufen, bei der es weniger um rationalen demokratischen Fortschritt geht. Was aus kommunikations- oder medienwissenschaftlicher Perspektive geradezu wie ein etwas anachronistischer Befund (late to the party) anmutet, kann aus sozialwissenschaftlicher Sicht als ein willkommenes Ankommen in der medialen Gegenwart interpretiert werden.

Vielen dürfte heute aus einer rein praktischen Perspektive bereits klar geworden sein, dass der alte utopische Traum des Internets – Egalitarismus, Gleichwertigkeit aller Nutzer, Kommunikation auf Augenhöhe – in einer unübersichtlichen Aufmerksamkeitsökonomie nicht zwingend zu mehr Aufmerksamkeit für alle Beteiligten oder auch zu mehr Demokratie führt. Und so erkennt auch Habermas:

»Dieses große emanzipatorische Versprechen wird heute von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echoräumen übertönt.«

Mein Eindruck ist, dass der Soziologe hier nicht komplett in einen Medienpessimismus verfällt. Vielmehr handelt es sich um eine versöhnliche Anerkennung neuer Potenziale bei gleichzeitiger Betrachtung der Missbrauchsmöglichkeiten:

»Und das weltweite Organisationspotenzial, das die neuen Medien bieten, dient rechtsradikalen Netzwerken ebenso wie den tapferen belarussischen Frauen in ihrem ausdauernden Protest gegen Lukaschenko. Die Selbstermächtigung der Mediennutzer ist der eine Effekt; der andere ist der Preis, den diese für die Entlassung aus der redaktionellen Vormundschaft der alten Medien bezahlen, solange sie den Umgang mit den neuen Medien noch nicht hinreichend gelernt haben. Wie der Buchdruck alle zu potenziellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potenziellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert bis alle lesen gelernt hatten?«

Bei all den Gefahren des Internets und unserem Analphabetismus kommt er schließlich zum Ergebnis, dass eine Antwort auf die demokratiegefährdende, anarchische, irrationale Unübersichtlichkeit der Halböffentlichkeit sozialer Netzwerke in einer qualitativen Aufmerksamkeitslenkung der (alten) professionellen Massenmedien liegen könnte; in der filternden Kraft des Qualitätsjournalismus, der sich verantwortungsvoll gegen Fake News einsetzt.

»Ein demokratisches System nimmt im Ganzen Schaden, wenn die Infrastruktur der Öffentlichkeit die Aufmerksamkeit der Bürger nicht mehr auf die relevanten und entscheidungsbedürftigen Themen lenken und die Ausbildung konkurrierender öffentlicher und das heißt: qualitativ gefilterter Meinungen nicht mehr gewährleisten kann.«

Die redaktionelle Gesellschaft

So sehr diese Erkenntnis inzwischen vertraut erscheint, kann ich als SPIEGEL-Kolumnistin natürlich nicht viel gegen solch einen Befund einwenden. Es ist die Pflicht einer demokratischen Gesellschaft, für mediale Strukturen zu sorgen, durch die eine rationale politische Meinungs- und Willensbildung gewährleistet wird.

Zur Autorin

Samira El Ouassil, 1984 in München geboren, ist Schauspielerin und Autorin. Für ihre medienkritische Kolumne »Wochenschau« auf uebermedien.de wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis für Medienpublizistik ausgezeichnet. Jüngst wurde sie vom »Medium Magazin« zur Kulturjournalistin des Jahres gekürt. Im Oktober 2021 veröffentlichte sie zusammen mit Friedemann Karig den Bestseller »Erzählende Affen«.

Bei aller Liebe zum Qualitätsjournalismus würde ich einem gewissen Teil der halböffentlichen Sphäre des Internets jedoch eine ähnliche Qualität politischer Rationalität nicht absprechen. Die journalistische Kraft vieler Teilnehmer dieser »neuen« politischen Öffentlichkeit möchte ich betonen – wobei es dabei nicht nur um Autorschaft geht.

Denn 2019 beschrieb der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen auf der Konferenz re:publica  die Utopie einer redaktionellen Gesellschaft: »Die redaktionelle Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Maximen und Ideale des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden sind. Zum Beispiel: Prüfe erst, publiziere später, höre auch immer die andere Seite, mache ein Ereignis nicht größer, als es ist, sei skeptisch im Umgang mit der Macht, zeige die Ungerechtigkeit in der Welt.«

Wenn Habermas also beschreibt, dass wir dank digitaler Plattformen alle potenzielle Autoren seien, ist der gesamtgesellschaftliche Anspruch vielleicht der, dass wir alle auch zu Redakteuren werden müssen. So etwas technisch simples wie ein Retweet oder ein Kommentar wird dann zum Anwendungsfeld eigener Medienkompetenz und Medienethik – müssen wir uns doch bei jeder kommunikativen Handlung in der digitalen Öffentlichkeit hinterfragen, ob wir mit der Verbreitung eines Inhalts das Kritisierte reproduzieren oder adressieren, Inhalte kontraproduktiv vergrößern oder überhaupt erst sichtbar machen, Voyeurismus bedienen oder Missstände abbilden, Geltungsbedürftige stärken, die man eigentlich durch Nichtbeachtung aushungern müsste, oder sie durch öffentliche Kritik erst demontieren.

Diese schwierigen Aushandlungsprozesse der Aufmerksamkeitsökonomie tarierten wir in der Vergangenheit bei verschiedenen Fällen aus, bei Trump und der AfD – oder wir diskutierten sie zuletzt in Bezug auf Rechtsextremisten  auf der Frankfurter Buchmesse .

Die Demokratisierung des Netzes in Kombination mit ökonomisch belohnter Affizierung, in der Plattformen mehr von Entrüstung, Zorn und Spott profitieren, sowie von mangelnder Gesetzeslage auf der einen Seite und mangelnder Medienethik auf der anderen Seite, führen auch zu Missbrauch und systematischen Enthumanisierung, wie wir es bei Rainer Winkler sehen konnten.

Hier sind die mobilisierenden und netzwerkdynamischen Kräfte einer Gesellschaft am Werk, die sich nicht nur in permanenter Repräsentation des individuellen Ethos und Zugehörigkeit befindet, sondern diese digital auch einer dauerhaften Überprüfung unterzieht. Die gegenseitige Dauerwahrnehmbarkeit, die in einer beständigen Bewertung von Handlungen und Gesagtem mündet, wird zudem im digitalen Raum ökonomisch und sozial belohnt und gefördert. Die Praktik der öffentlichen Kritik wird so auch zu einer für Plattformen sehr lukrativen Transaktion und verschiebt damit die diskursiven Herrschaftsverhältnisse, was Autor Michael Seemann in seinem Buch »Die Macht der Plattformen: Politik in Zeiten der Internetgiganten « detailliert veranschaulicht.

Keine Trennung in E- und U-Kultur

Man muss also ein sehr spezifisches Bewusstsein entwickeln, »Bürger und Bürgerin« werden im digitalen Raum, nicht nur »Nutzer und Nutzerin«. Hierfür muss man seine eigenen Mediennutzungsgründe streng und ehrlich auseinander häkeln, sich von ökonomischer Manipulation befreien oder ihr eine Ethik des digitalen Sprechens und Handelns entgegenhalten, Autorenkollege Friedemann Karig  nennt es die Ethik des Teilens. Mache ich durch meine kommunikativen Handlungen meine Werte einfach nur für alle sichtbar und stärke sie – oder stärke ich mich, indem ich andere abwerte? Betrachte ich soziale Netzwerke als ein soziales Korrektiv oder kollektives Sollen?

Habermas’ »Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit« sind für die Sozialwissenschaften bestenfalls ein neuer Schritt für eine genauere Erfassung sozialer Wirklichkeiten im digitalen Zeitalter. Eine Trennung in E- und U-Kultur, in anarchische, unkontrollierte soziale Medien und klassische, professionelle Massenmedien und eine mit dieser verbundenen Hoffnung erscheint mir dabei jedoch weniger hilfreich.

Vielmehr sollten wir als Gesellschaft überlegen, wie wir auch in sozialen Medien für eine rationale politische Öffentlichkeit sorgen können und dafür nicht nur Qualitätsmedien zur Verantwortung ziehen, sondern auch entschlossener die Plattformbetreiber.