(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Jakob Augstein: Sagen, was sein soll - DER SPIEGEL
Zum Inhalt springen

Jakob Augstein Sagen, was sein soll

Als Kolumnist stößt man unweigerlich auf die Frage: Muss das alles so sein? Oder könnte alles anders sein? Jakob Augstein über das Schreiben von Kolumnen und die Veränderbarkeit der Welt.
Foto: Frederic J. Brown/ AFP

Der Diplomat, Dichter und Widerstandskämpfer Stéphane Hessel hat in seinem wichtigen Essay "Empört Euch!" geschrieben: "Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen einen Grund zur Empörung. Wenn etwas Sie empört, wie mich die Nazis empört haben, werden Sie kämpferisch, stark und engagiert."

Ja, Empörung muss sein! Und tatsächlich herrscht an Empörung gar kein Mangel. Wir sind eine empörte Republik. Das Netz, das inzwischen abbildet, was man die öffentliche Meinung nennt, ist voll von Empörung. Da haben alle recht. Keiner hört dem anderen zu. Und es geht immer um alles. Da wächst der Hass, und die Wut wächst auch.

Und währenddessen arbeitet "das System" im Verborgenen einfach weiter: Die Reichen werden reicher, die Mächtigen sichern ihre Macht und an der Klimakatastrophe ändert sich auch nichts. Wer bei dem Begriff "das System" ins Stutzen kommt, der muss einen anderen Grund dafür nennen, dass die deliberative Demokratie an zentralen Herausforderungen scheitert. "Das System" überwölbt die Demokratie, es hüllt sie ein, es durchwirkt sie, es ist stärker als sie.

Daran ändert alle Empörung nichts. Im Gegenteil: Die allgemeine Empörung lenkt die Leute einerseits ab von dem, was notwendig wäre - Politik. Und andererseits sorgt sie auf Dauer dafür, dass die Institutionen, die man für die Reform des "Systems" bräuchte, destabilisiert werden. Dadurch stabilisiert die Empörung "das System".

Sagen, was sein soll

Das ist eine schwierige, zirkuläre Erkenntnis. Was wenn selbst die Empörung, die sich in einer Kolumne unter dem Titel "Im Zweifel links" niederschlägt, am Ende nur "das System" stabilisiert?

Kolumnen dürfen persönlich sein, unfair, hart, riskant. Sie sind ein Spiel mit den heiklen und den verbotenen Seiten des Journalismus: mit Meinungen und Übertreibungen, mit dem Populismus, manchmal mit der Propaganda, immer mit der Satire. Kolumnen sind darum das passende Medium einer rauer gewordenen Debattenlandschaft.

Wer allerdings den einzigen Zweck des Journalismus im sprichwörtlichen "Sagen, was ist" sieht, wird Kolumnen gar nicht für Journalismus halten. Denn das ist nicht ihre wichtigste Aufgabe. Kolumnen nehmen sich die Freiheit, auch das zu sagen, was hätte sein können, was auf keinen Fall sein darf und vor allem das, was sein soll.

Anzeige
Augstein, Jakob

Im Zweifel links: Vom aufhaltsamen Untergang des Abendlands - Ein SPIEGEL-Buch

Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt
Seitenzahl: 304
Für 20,00 € kaufen

Preisabfragezeitpunkt

26.04.2024 08.06 Uhr

Keine Gewähr

Produktbesprechungen erfolgen rein redaktionell und unabhängig. Über die sogenannten Affiliate-Links oben erhalten wir beim Kauf in der Regel eine Provision vom Händler. Mehr Informationen dazu hier

Woche für Woche Hunderttausende von Lesern, Millionen von Klicks im Jahr - an solchen Zahlen könnte der Kolumnist ganz betrunken werden und sich an der Vorstellung berauschen, es mache tatsächlich für unsere Wirklichkeit einen Unterschied, was er da schreibt, er habe eine Wirkung, er habe gar Einfluss. Und Einfluss wäre doch schön. Denn natürlich denkt der Kolumnist, er habe etwas zu sagen und die Leute sollten gefälligst auf ihn hören. Das ist eine gefährliche Versuchung. Es gibt Autoren und Autorinnen - Eitelkeit ist keine Frage des Geschlechts -, die tragen mit salbungsvollem Ernst ihr Ich vor sich her. Demut tut dem Kolumnisten unbedingt not! Aber von der Demut ist es nur ein kleiner Schritt in die Bitterkeit und die traurige Erkenntnis der ganzen Vergeblichkeit des eigenen Tuns.

Jahr für Jahr warnt man vor Angela Merkel. Und Jahr für Jahr wird sie wieder gewählt. Jahr für Jahr schreit man der SPD ins Ohr, sie solle endlich aufwachen. Und Jahr für Jahr muss man zusehen, wie die Partei sich selbst zerstört. Jahr für Jahr beklagt man die zunehmende Ungerechtigkeit im Land und die wachsende soziale Spaltung. Und Jahr für Jahr hört man von Politikern und Leitartiklern, die Leute sollen doch froh sein, dass die Globalisierung sie nicht noch härter erwischt hat.

Realität ist ein gefährliches Wort

Als Kolumnist stößt man auf Dauer unweigerlich auf die Frage: Muss das alles so sein? Oder könnte alles anders sein? Warum wurde Martin Schulz nicht Kanzler? Weil er Fehler gemacht hat, die er hätte vermeiden können? Oder musste er seine Fehler machen, weil er nun einmal der ist, der er ist? Oder war das alles ganz gleichgültig, weil die Sozialdemokratie in einer nicht auflösbaren Krise steckt, aus der kein Schulz der Welt sie hätte befreien können?

Ich weiß nicht, wie groß oder klein der Gestaltungsspielraum der Politik heute ist. Es gibt wohl schon die Geschichte und sie treibt irgendwohin. Es gibt die Strukturen und der Gang der Dinge lässt sich von ihnen prägen. Aber man mag sich ungern ganz von der Idee verabschieden, dass es auch Menschen gibt, die Entscheidungen treffen, und dass diese Entscheidungen einen Unterschied machen können. Geschichte entwickelt sich unter unseren Augen. Wir schreiben an der Realität mit, die unser Roman ist.

Aber Realität ist ein gefährliches Wort. Wenn einer Realität sagt, meint er meistens nur: Man kann nichts machen. Alles bleibt, wie es ist. Linkes Denken soll das Gegenteil davon sein. Es soll von der Veränderbarkeit der Welt handeln.

Mit Blick auf die Rolle des Theaters hat Bertolt Brecht in den frühen Fünfzigerjahren gesagt: "Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare WeLt beschrieben wird." Das wäre mal ein Motto für einen zeitgemäßen politischen Journalismus: dass er von der Welt nur wissen will, wie sie besser werden kann!

In seinem neuen Buch "Im Zweifel links" (DVA, 304 Seiten, 20 Euro) hat Jakob Augstein seine SPON-Kolumnen zusammengestellt und neu kommentiert.

Mehr lesen über

Verwandte Artikel