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Umgekehrt ist es richtig - DER SPIEGEL
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PLANWIRTSCHAFT Umgekehrt ist es richtig

aus DER SPIEGEL 9/1958

Am blumengeschmückten Rednerpult des Konferenzsaales im Finanzministerium der »Deutschen Demokratischen Republik« stand Professor Albert Norden, Sekretär des SED-Zentralkomitees. Vor ihm saßen an die 700 Funktionäre der Nationalen Front, darunter »über 400 Aktivisten aus allen Teilen der Republik«.

Das Auditorium war nicht allein zum achten Jahrestag der Verkündung des Programmes der Nationalen Front zusammengetrommelt worden, sondern vor allem, um sich aus berufenem Munde die Losung »1958 - das Jahr der großen Volksinitiative für Frieden und Sozialismus« erläutern zu lassen.

Diese Parole hatte gerade zu dem Zeitpunkt, an dem Albert Norden sie vor seinen Zuhörern entfaltete, besondere Bedeutung erlangt. Unter dem Titel »Gesetz über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates in der DDR« war am selben Tage ein Gesetz in Kraft getreten, das mit einem bisher heilig gehaltenen DDR-Dogma aufräumte - mit dem planwirtschaftlichen Dogma, daß alle Funktionen der Volkswirtschaft von oben her zentral geplant und gesteuert werden müssen.

Nordens Aufgabe war es, den Funktionären und Aktivisten der »Nationalen Front« diese erstaunliche Kehrtwendung zu erklären. Orakelte Norden: »Ist es nicht bis auf den heutigen Tag noch oft so, daß die Pläne im stillen Kämmerlein ausgearbeitet, dann von den Volksvertretungen beschlossen und erst danach der Bevölkerung zur Diskussion unterbreitet werden? Aber das hat doch nichts mit Demokratie zu tun. Das schafft doch kein Vertrauen.

»Umgekehrt ist es richtig. Am Anfang steht die Diskussion. Hier fängt doch die Erziehung zum sozialistischen Bewußtsein an. So wollen wir arbeiten, daß jeder Bürger aus Überzeugung sagt: Ja, das ist mein Staat.«

Als Ulbricht in der Volkskammer das neue Gesetz begründete, hatte er mit flagellantischer Lust an der Selbstkritik den ächzenden Gang der DDR-Planwirtschaft an einigen Beispielen demonstriert. Er erzählte

- von der Elbewerft in Boizenburg,

deren für 1958 abgeschlossene Lieferverträge das eingeplante Produktionssoll um das Vierfache übertreffen,

- vom Volkseigenen Betrieb (VEB) Funkmechanik in Neustadt-Glewe bei Schwerin, der durch mangelhafte ministerielle Planung einen Monat vor dem Jahresende 1957 kaum mehr als die Hälfte des Produktionssolls erfüllt hatte,

- von den Bekleidungswerken Rödlitz, deren Rationalisierungsvorschläge seit fast einem Jahr unbearbeitet in den Schubladen der zuständigen Ministerien ruhen,

- vom Rat des Bezirkes Erfurt, der binnen sechs Monaten 187 Mitarbeiter auf Dienstreise nach Berlin schickte, die dort Beratungen zu pflegen und Befehle entgegenzunehmen hatten.

Sagte Ulbricht: »Derartige bürokratische Auswüchse ließen sich noch viele aufzählen«; jeder glaubte ihm.

Der SED-Chef bot gleich eine probat erscheinende Lösung an. Ihr Vorzug besteht - ausgedrückt im pappigen Apparatschik-Deutsch - »in der weitgehenden Verlagerung der operativen Leitung der Produktion an die Basis und der bedeutenden Erhöhung der Verantwortung der staatlichen Organe in den Bezirken, Kreisen und Städten«.

Übersetzt in eine verständliche Sprache bedeutet das schlicht die Auflösung von acht Ministerien, des Wirtschaftsrats beim Ministerrat, des Staatssekretariats für örtliche Wirtschaft und des Beirats für Bauwesen beim Ministerrat. Statt dessen werden in den 14 Bezirken der »DDR« Wirtschaftsräte gebildet, von denen die Volkswirtschaft künftig »komplex und territorial« geleitet werden soll.

Der Begriff »Dezentralisierung« steht nun aber für Kommunisten auf dem ideologischen Index. Deshalb versicherte Ulbricht: »Unsere staatlichen Organe in den Bezirken und Kreisen kann man nicht mit den sogenannten Selbstverwaltungsorganen im kapitalistischen Staat vergleichen.« Und damit niemand auf den Gedanken kommt, die »DDR« weiche womöglich von dem Dogma des »demokratischen Zentralismus« ab und nähere sich vorsichtig dem freien Wettbewerb in der Wirtschaft, wird der planwirtschaftliche Umbau als »Beseitigung des Überzentralismus« etikettiert. All das täuscht aber nicht darüber hinweg, daß die Wirtschaft grundlegend umgestellt wird.

Als oberste Instanz der Planwirtschaft soll die Staatliche Plankommission die Umrisse des Planes markieren, ohne jedoch Einzelheiten auszuarbeiten.

Die Betriebe, die nun »auf der Bezirksebene« arbeiten sollen, werden für die ganze Zone nach Branchen in »Vereinigungen Volkseigener Betriebe« (VVB) zusammengefaßt.

Was die Funktionäre zu gewärtigen haben, die bisher ohne große innere Sorge um die abenteuerlichen Verlustgeschäfte der staatlich gelenkten Wirtschaft im Trott der Staatsplaner dahinwerkelten, deutete Ulbricht mit den nahezu kapitalistisch anmutenden Worten an: »Die VVB haben jetzt alle Möglichkeiten, auf die Erhöhung der Rentabilität ihrer Betriebe einzuwirken.« Ähnliche für die unteren Funktionäre fatalen Aspekte ergeben sich bei der zukünftigen »Organisierung der Materialversorgung": »Das Neue besteht vor allem darin, daß in weitaus größerem Ausmaße als bisher die direkte Belieferung (mit Rohstoffen und Halbfabrikaten) von Betrieb zu Betrieb und von VVB zu VVB eingeführt werden muß.«

Die Bestimmungen des Gesetzes »über die Vervollkommnung und Vereinfachung der Arbeit des Staatsapparates in der DDR« sollen in drei Phasen bis zum 30. September dieses Jahres erfüllt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt werden auch die 10 000 bis 15 000 Bediensteten der aufgelösten Ostberliner Zentralbehörden einen neuen Arbeitsplatz gefunden haben müssen, ein Vorgang, der für die Betroffenen »vielleicht auch zeitweilig manche familiären Schwierigkeiten mit sich bringt«. Gedacht ist daran, die frei werdenden Arbeitskräfte an die neu eingerichteten Institutionen und an den FDGB abzuschieben oder gar in die Fabriken zu schicken.

SED-Professor Norden: Ja, das ist mein Staat!

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