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RAF - DER SPIEGEL
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RAF: "Holger, der Kampf geht weiter!"

RAF "Holger, der Kampf geht weiter!"

Nach sieben Wochen im Hungerstreik starb am 9. November 1974 der RAF-Gefangene Holger Meins. Sein Tod im Gefängnis wurde für die radikale Linke zum Fanal. Er trieb eine ganze Generation von Sympathisanten in den Untergrund, die den irrwitzigen Krieg der RAF gegen den Staat weiterführten.

Als der Heidelberger Anwalt Siegfried Haag am Morgen des 9. November 1974 in der Justizvollzugsanstalt Wittlich seinen Mandanten Holger Meins besuchte, war er erschüttert. Das im Juni 1972 zusammen mit Andreas Baader festgenommene Mitglied der "Rote Armee Faktion", kurz RAF, wog nach mehr als sieben Wochen Hungerstreik noch 39 Kilogramm - bei einer Körpergröße von 1,83 Meter.

Der einstige Kameramann Meins ist so geschwächt, dass Justizbeamte ihn auf einer Trage ins Sprechzimmer bringen müssen. Er kann nur noch flüstern. Der Gefängnisarzt hat dem RAF-Mann bei der Zwangsernährung schon eine Weile nur ein Drittel der überlebensnotwendigen Kalorienmenge verabreichen lassen und hat sich ins verlängerte Wochenende verabschiedet.

Wenige Stunden, nachdem Haag seinen Mandanten verlassen hat, ist Holger Meins tot. Auch die RAF hatte nun ihren 9. November. Der Tod des Terroristen an diesem für die Deutschen so geschichtsträchtigen Tag wurde auf der Linken als Fanal empfunden. Er war ein zentraler Auslöser dafür, dass in den folgenden Jahren an die zwanzig junge Menschen in den Untergrund gingen und den ebenso hoffnungslosen wie irrwitzigen Krieg der RAF gegen den Staat weiterführen.

Voll Schuldgefühlen in den Untergrund

Voran Rechtsanwalt Haag: Von Schuldgefühlen geplagt, weil er den Tod von Meins nicht verhindern konnte, ging wenige Monate später in die Illegalität. Er baute jene Gruppe, auf die im Jahr 1977 mit der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer die Bundesrepublik an den Rande des Staatsnotstandes brachte.

Die zum größten Teil in "strenger Einzelhaft" gehaltene erste Generation der RAF hatte schnell den Hungerstreik als wichtigstes Mittel dafür erkannt, eine Behandlung wie die anderer Gefangener durchzusetzen. Ihren dritten und längsten Hungerstreik begannen sie im September 1974.

"Wer seine Lage erkannt hat - wie soll der aufzuhalten sein?", hieß es in einer Erklärung zum Auftakt. "Menschen, die sich weigern den Kampf zu beenden, können nicht unterdrückt werden. Sie gewinnen entweder oder sie sterben, anstatt zu verlieren und zu sterben."

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RAF: "Holger, der Kampf geht weiter!"

Rund 40 Gefangene beteiligten sich an der Aktion, "Es werden Typen dabei kaputtgehen", hatte Andreas Baader angekündigt, der zusammen mit seiner Geliebten Gudrun Ensslin bei der RAF das Sagen hatte. Baader stellte allerdings sicher, dass er nicht dazugehören würde und ließ sich gelegentlich von einem Verteidiger ein Brathähnchen mitbringen. Gleichzeitig übermittelten Anwälte Baader und Ensslin das jeweilige Gewicht der Hungernden. Die beiden setzten dann diejenigen Mitgefangenen unter Druck, deren Gewichtskurven ihnen zu langsam sanken.

Besetzungen gegen "Vernichtungshaft"

Die Länderjustizminister und der damalig Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) reagierten auf den Streik, indem sie die Zwangsernährung der Inhaftierten anordneten. Die Gefangenen wurden festgeschnallt, man inserierte ihnen einen Schlauch in den Magen und verabreichte ihnen Flüssignahrung. Manche Gefangene wehrten sich heftig gegen diese Tortur. Der CSU-Politiker Richard Stücklen hingegen fragte, "ob es dem Steuerzahler zugemutet werden kann, dass der Staat für die künstliche Ernährung selbst verschuldet leidender Staatsfeinde riesige Summen ausgibt".

Als der Hungerstreik in die siebte Woche ging, besetzten in Hamburg 32 Aktivisten von "Anti-Folter-Komitees" aus der ganzen Republik die Zentrale von Amnesty International, um gegen die "Vernichtungshaft" der RAF-Gefangenen zu protestieren. Bei der Räumung unterließ es die Polizei, die Personalien aller Besetzer festzustellen. So wurde erst viel später klar, dass rund die Hälfte von ihnen in den Untergrund gingen und sich der RAF anschlossen. Sogar Wolfgang Grams, der zur dritten und letzten Generation der RAF gehörte und 1993 bei einer Schiesserei mit GSG-9-Beamten zu Tode kann, war damals schon dabei.

Einen Tag nach der Amnesty-Besetzung schrieb Holger Meins einen Brief, der exemplarisch den brachialen Fundamentalismus der RAF offenbarte: "Entweder schwein oder mensch, entweder überleben um jeden preis oder kampf bis zum tod, entweder problem oder lösung, dazwischen gibt es nichts." Es war sein Abschiedbrief, denn er wollte sterben. Gudrun Ensslin hatte ihn dazu in einem Kassiber ermuntert: "Du bestimmst, wann du stirbst, freiheit oder tod."

Stunde der Wahrheit?

Stefan Wisniewski - Sohn eines polnischen Zwangsarbeiters, der fünf Jahre Lagerhaft überlebt hatte - gehörte in West-Berlin zu den Unterstützern des Hungerstreiks. Er stand gerade in einem Jugendzentrum auf einem Tisch und hielt eine Rede. "In dem Moment", erinnerte sich Wisniewski später, "kam jemand rein und sagte: 'Der Holger ist tot.' Mir - und nicht nur mir - sind die Tränen in die Augen geschossen." Die Beerdigung von Holger Meins mitzuorganisieren, sei für ihn "die letzte legale politische Tätigkeit" gewesen.

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Nicht nur für Haag und Wisniewski, für alle RAF-Mitglieder der zweiten Generation und die meisten der dritten Generation, war der Hungertod von Meins das Schlüsselerlebnis. "Das war die Stunde der Wahrheit", sagt Karl-Heinz Dellwo, der wenige Monate später in den Untergrund ging. "Es kann nicht zugelassen werden", befand seine damalige Freundin Susanne Albrecht, "dass hier noch mehr Gefangene sterben." Sie schloss sich im Frühjahr 1977 der RAF an.

Nie zuvor und nie mehr danach konnte die RAF so viele Menschen mobilisieren. Nach dem Tod von Holger Meins marschierten in West-Berlin trotz eines Demonstrationsverbots rund 5000 Linksradikale durch die City; es kam zu einer heftigen Straßenschlacht. Als Meins in Hamburg beigesetzt wurde, reiste auch Rudi Dutschke an, der einstige Kopf der Studentenbewegung. In seinem Tagebuch klagte er über die "RAF-Scheiße". Doch am offenen Grab des zum Märtyrer stilisierten erhob er den rechten Arm, ballte die Faust und rief: "Holger, der Kampf geht weiter!"