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Pathologisch gutes Gewissen - DER SPIEGEL
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MINISTERPRÄSIDENTEN Pathologisch gutes Gewissen

Mit unhaltbaren Behauptungen hat Günther Oettinger den früheren NS-Marinerichter Hans Filbinger zum Widerständler verklärt. Selbst Oettingers Parteifreunde rätseln über seine Motive.
aus DER SPIEGEL 16/2007

Feigheit, sagt einer seiner engen Mitarbeiter, das sei ein Vorwurf, mit dem man Günther Oettinger, 53, auf die Palme bringen könne. Ein Vorwurf, der ihn in dieser ganzen Affäre vielleicht sogar am meisten geärgert habe.

Der Feigheitsvorwurf stammte vom deutschen Historiker Hans Mommsen. Mit Befremden hatte der NS-Experte gelesen, was Oettinger vor gut zwei Wochen zum Tode des gerade verstorbenen 93-jährigen Hans Filbinger verlautbaren ließ.

In dem kurzen Text, den der CDU-Landeschef Anfang April ins Internet gestellt hatte, beginnt Filbingers Geschichte erst 1958 mit dem Eintritt in die Stuttgarter Landesregierung und endet mit dem Ausscheiden aus dem Amt des Ministerpräsidenten 1978. Kein Wort darüber, dass dieser Rückzug keineswegs freiwillig erfolgte, kein Wort über Filbingers tiefe Verstrickungen in die Unrechtsjustiz der Nazi-Zeit.

Das sei »schon ein bisschen Feigheit«, meinte Mommsen, der Filbinger stets für dessen Uneinsichtigkeit kritisiert hatte: Trotz einschlägiger Beweise hatte der Landesherr seine Mitwirkung an Todesurteilen in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zunächst bestritten und dann heruntergespielt. Doch eine ähnliche Sturheit legte jetzt auch Nachfolger Oettinger an den Tag.

Gut zweieinhalb Seiten seines zehnseitigen Manuskripts hatte der Stuttgarter Regierungschef am vergangenen Mittwoch bei der Filbinger-Trauerfeier im Freiburger Münster dem todbringenden Wirken des Ex-Richters gewidmet. Was er vortrug, war eine Mischung aus entschuldigenden Passagen (Filbinger sei »wie viele andere« im Dritten Reich »schicksalhaft in Situationen hineingeraten, die den Menschen heute zum Glück erspart bleiben") und gewagten Reinwaschversuchen: »Hans Filbinger war kein Nationalsozialist - im Gegenteil. Er war ein Gegner des NS-Regimes.«

Der Entrüstungssturm, den er auslöste, hat Oettinger völlig überrascht - zumal die Distanzierungen bis zur eigenen Parteispitze reichten: Sie hätte sich schon gewünscht, rüffelte am Freitag Bundeskanzlerin Angela Merkel ihren Parteifreund am Telefon deutlich, dass in der Rede »auch die kritischen Fragen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zur Sprache gekommen wären, insbesondere mit Blick auf die Gefühle der Opfer und Betroffenen«.

Zuvor hatte der Zentralrat der Juden in Deutschland protestiert, hatten sich Gewerkschaften, Politiker und Schriftsteller empört, das Jerusalemer Simon Wiesenthal Center hatte gar Oettingers Rücktritt gefordert. Der Autor Rolf Hochhuth, durch dessen Recherchen 1978 Filbingers Verstrickungen in Todesurteile öffentlich wurden, nannte Oettingers Thesen eine »unverfrorene Erfindung«.

Und auch die Schwester eines Filbinger-Opfers meldete sich: Das Urteil, aufgrund dessen ihr damals 22-jähriger Bruder Walter Gröger am 16. März 1945 wegen »Fahnenflucht« erschossen wurde, trage Filbingers Namen, sie sehe den Ex-Marinerichter als »Mörder meines Bruders«.

Die SPD warf Oettinger vor, nach Wählerstimmen am rechten Rand fischen zu wollen, und selbst der Koalitionspartner im Stuttgarter Landtag ging auf Distanz. Oettingers Stellvertreter als Regierungschef, Justizminister Ulrich Goll (FDP), war im Freiburger Münster gar nicht erst erschienen - es sei doch ein »schlechter Witz«, ärgerte sich ein Spitzenmann der Liberalen nach der Veranstaltung, wie Oettinger einen Mittäter »zu einem antifaschistischen Nazi-Opfer umzudeuten versucht«.

Dabei ist die Beteiligung Filbingers an den Unrechtstaten in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs historisch solide belegt. Während der CDU-Mann 1978 nach den ersten Veröffentlichungen zu seiner Vergangenheit als Marinerichter noch behauptete, eine »antinazistische Gesinnung« in sich getragen und »sichtbar gelebt« zu haben, veröffentlichte der SPIEGEL einen Filbinger-Aufsatz aus dem Jahr 1935, der vor Nazi-Propaganda nur so triefte. Filbinger bezeichnete darin Kritiker des Hitler-Regimes als »Schädlinge am Volksganzen« und verteidigte in Nazi-Diktion die »rassisch wertvollen Bestandteile des deutschen Volkes«.

Allerdings führte Oettinger in seiner Rede auch andere Facetten in der Biografie Filbingers an. Filbinger hatte stets hervorgehoben, Mitglied der katholischen Schülerorganisation »Bund Neudeutschland« gewesen zu sein und sich gegen die Gleichschaltung dieses Verbands mit der Hitlerjugend gewehrt zu haben. Dafür sei er von den Nazis zeitweise sogar auf eine »schwarze Liste« der Regimegegner gesetzt worden. Dieser Jugendbund sei 1939 von der Gestapo verboten, seine Begegnungsstätte als »staatsfeindliches Vermögen« beschlagnahmt worden.

Zudem reklamierte Filbinger 1978, »kein einziges Todesurteil selbst gefällt« zu haben. Eine Argumentation, der jetzt auch Oettinger folgte - in der abgeschwächten Version, es gebe »kein Urteil von Hans Filbinger, durch das ein Mensch sein Leben verloren hätte«.

In Wahrheit trägt Filbinger als Militärrichter für zwei Todesurteile gegen angebliche Deserteure die Verantwortung. Sie wurden nur nicht vollstreckt, weil die beiden Soldaten zuvor fliehen konnten. Ein weiteres Todesurteil gegen einen Matrosen wegen angeblicher Plünderung wurde später in eine Freiheitsstrafe umgewandelt.

Unstrittig ist auch, dass Filbinger im Januar 1945 - diesmal als Vertreter der Anklage - und zwei Monate später als »Leitender Offizier« des Exekutionskommandos an der Tötung des 22-jährigen Walter Gröger mitgewirkt hat. Für den Freiburger Historiker Wolfram Wette, der über Filbingers Rolle als Marinerichter geforscht hat, steht fest: »Er hat als ein - gar nicht so kleines - Rädchen in dem militärischen Gewaltapparat des NS-Regimes funktioniert. Er war kein Sand im Getriebe, sondern Öl.«

Mit dem Fall Gröger sei Filbinger »nicht von Beginn an befasst« gewesen, »sondern erst in der letzten Phase«. Die letzte Phase des Falls aber waren auch die letzten Minuten im Leben des Walter Gröger: Ein Exekutionskommando - vermutlich zehn Mann, nur fünf Schritte vor ihm aufgebaut - erschoss den Matrosen.

Dabei hatte der eigentlich lebendig davonkommen sollen. Acht Jahre Zuchthaus, dazu der Verlust der »Wehrwürdigkeit« - eine solche Strafe fand man zunächst noch angemessen für den Deserteur Gröger. Doch der Gerichtsherr, ein Admiral, wollte mehr und bekam es auch: die Todesstrafe für den Angeklagten, beantragt vom Ankläger Filbinger. Belastend wurde gewertet, dass der Angeklagte einmal eine Uniformjacke eines Kameraden mit Auszeichnungen als seine eigene ausgegeben hatte, wie der Historiker Wette schreibt.

Filbinger tat das Todesurteil dem Matrosen kund. Er ließ sich die Bekanntmachung bestätigen, selbstverständlich schriftlich, und beaufsichtigte nur zwei Stunden später persönlich die Erschießung.

So ist es gewesen damals in Norwegen, das haben umfangreiche Forschungen ergeben. Die Frage ist nur: Hätte es auch anders sein können, hätte Filbinger auch anders handeln können? Die Antwort des Historikers Wette ist eindeutig: »Im Prinzip ja. Aber dann hätte er eine Portion Zivilcourage zeigen müssen, die ihm wesensfremd war.«

Filbinger selbst zog sich immer darauf zurück, dass nicht er das Todesurteil gefällt habe. Er hatte es ja nur beantragt.

Formaljuristisch hatte Filbinger damit zwar recht. Moralisch machte ihn dieses Abwiegeln nur noch angreifbarer. Er wurde zum Symbol des Ewiggestrigen, der auch Jahrzehnte nach der NS-Zeit selbstgerecht sein damaliges Verhalten verteidigte. Ein berühmtes Zitat aus dem SPIEGEL befeuerte weiter die Debatte um Schuld und Sühne. »Was damals rechtens war«, sagte Filbinger, »kann heute nicht Unrecht sein.«

Sein politischer Kontrahent Erhard Eppler bescheinigte Filbinger daraufhin ein »pathologisch gutes Gewissen«, und selbst seine Parteifreunde wendeten sich nun ab: Konservative, denen er im Ländle stets als Bollwerk gegolten hatte - gegen die Reform des Abtreibungsparagrafen 218, gegen den Grundlagenvertrag mit der DDR, für den sogenannten Radikalenerlass. Schließlich musste Filbinger auch wegen des Drucks aus der Union als Ministerpräsident zurücktreten. Er sah sich als Opfer einer »Rufmordkampagne«.

Dabei waren es eindeutige Dokumente, die ihn um seinen Posten und seinen Ruf brachten - etwa die Papiere über das Schicksal der beiden deutschen Hafenschutzboote »NO 31« und »NO 21«.

Im Morgengrauen des 15. März 1945 war »NO 31« aus dem norwegischen Oslofjord ausgelaufen. Ziel: das neutrale Schweden. Die Mannschaft wollte in den aussichtslosen letzten Kriegswochen desertieren - nicht aber der Kommandant. Daraufhin erschoss ihn einer seiner Matrosen, ein Marineobergefreiter, mit einer Maschinenpistole.

Die deutsche Militärjustiz erfuhr davon, weil einer der Männer anschließend kalte Füße bekam, zurückkehrte und plauderte. Daraufhin wurde der Obergefreite in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das Todesurteil verhängte Marinestabsrichter Dr. Hans Karl Filbinger.

Wenig später floh auch das Hafenschutzboot »NO 21« mit 15 Mann Besatzung nach Schweden. Die Deserteure kamen heil durch. Die Deutschen verurteilten den Kommandanten, einen Obersteuermann, in Abwesenheit zum Tode. Auch dieses Urteil verhängte Filbinger.

Als das ARD-Magazin »Panorama« die Dokumente über den Fall »NO 21« im Juli 1978 veröffentlichte und der SPIEGEL ein zentrales Papier gar auf dem Titelbild druckte, war klar, dass Filbinger noch kurz zuvor die Unwahrheit gesagt hatte. Auch wenn er die verhängnisvollen Urteile dann als »Phantom-Urteile« abtun wollte - weil sie ja in Abwesenheit gefällt worden seien. Es half ihm nichts mehr, im August musste er abtreten.

Der Historiker Wette glaubt, dass Filbinger aber letztlich nicht nur wegen seiner harten Urteile gestrauchelt sei, sondern auch wegen seines Umgangs »mit diesen

historischen Fakten in einer politisch sensibilisierten Öffentlichkeit«. Hätte er Reue gezeigt, hätte er die Diskussion wohl aushalten können - doch Fehler einzugestehen habe offenkundig nicht »in der Natur dieses autoritären Machtpolitikers« gelegen.

All das hätte Günther Oettinger im Kopf haben können, als er das von der Staatskanzlei vorbereitete Manuskript am Mittwochvormittag vergangener Woche noch einmal durchging. Er entschied sich, die umstrittenen Passagen vorzutragen. Er habe dann während der Rede öfter Augenkontakt zu Filbingers Witwe gesucht, berichten Anwesende. Es sei ihm ein Anliegen gewesen, den Angehörigen deutlich zu machen, dass man den Toten in guter Erinnerung behalte, sagen Oettinger-Vertraute.

Seine Leute in der Stuttgarter Staatskanzlei räumen unter der Hand ein, dass ihr Chef wohl auch den rechten Flügel seiner Partei im Auge hatte, als er zur Rede ansetzte. In der noch immer machtvollen Rechtsaußengruppe der Südwest-CDU steht Oettinger nämlich unter permanentem Liberalitätsverdacht. Erst kürzlich erntete er Unmut, als er über die Möglichkeit einer islamischen Bekenntnis-Sendung nach dem Muster des »Worts zum Sonntag« im öffentlich-rechtlichen Fernsehen spekulierte.

Nicht zu unterschätzen sei aber auch, wie sehr Mommsens Feigheitsvorwurf ihn »gekitzelt« habe. Aus Feigheit, sagen seine Vertrauten, habe Oettinger in seiner Karriere noch nie geschwiegen. Als Landeschef der Jungen Union forderte er mal den Rücktritt von Kanzler Helmut Kohl, später attackierte er Regierungschef Erwin Teufel.

In seinem Telefongespräch mit CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla riet ihm der nun aber, die Notbremse zu ziehen und sich öffentlich von der Rede zu distanzieren. Immer wieder haben sie in der vergangenen Woche in der Stuttgarter Staatskanzlei zusammengesessen und entsprechende Formulierungen gesucht. Dann aber entschied der Chef, wie schon in den Tagen zuvor, auch am Freitagabend, den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass der Sturm vorüberzieht - alles andere sehe doch sonst wie ein Einknicken aus. Und das ist Oettingers Sache nicht.

Stattdessen meldete sich in Berlin die baden-württembergische CDU-Landesgruppe im Bundestag: Jedes Wort Oettingers sei richtig gewesen, »da kann man nur fünf Ausrufezeichen dahinter machen«, verkündete Landesgruppenchef Georg Brunnhuber - und engte damit Oettingers Spielraum für einen Rückzug weiter ein. Man werde jetzt »jeden Tag neu die Lage sondieren und dann entscheiden, was zu tun ist«, gab ein Oettinger-Vertrauter vorigen Freitag die Marschroute für die kommenden Tage vor. MATTHIAS BARTSCH,

UDO LUDWIG, RENÉ PFISTER, MARKUS VERBEET

* Oben: im Wahlkampf 1972, rechts von ihm sitzend Altkanzler Ludwig Erhard, Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel und Rheinland-Pfalz-Ministerpräsident Helmut Kohl; unten: mit US-Soldaten im April 1945.

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