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Anna Lührmann über EU-Reformen: »Dann machen wir es eben allein« - DER SPIEGEL
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Grünen-Europastaatsministerin Anna Lührmann »Dann machen wir es eben allein«

Grünen-Europastaatsministerin Anna Lührmann, 40, überdie Notwendigkeit, die EU zu reformieren – notfalls auch mit radikalen Maßnahmen.
Ein Interview von Markus Becker
aus DER SPIEGEL 39/2023
Lührmann

Lührmann

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FUNKE Foto Services / IMAGO

SPIEGEL: Die EU will die Westbalkanländer, dazu Moldau und sogar die Ukraine aufnehmen. Aus 27 würden 35 Mitglieder. Würde sich die EU damit endgültig lahmlegen?

Lührmann: Nicht, wenn wir sie reformieren. Und diese Debatte hat ein Momentum entwickelt, das noch vor einem Jahr kaum jemand für möglich gehalten hätte. Wir reden jetzt in den zentralen Ministerräten darüber, welche Reformen wir brauchen, um erweiterungsbereit zu sein. Diese Notwendigkeit erkennen inzwischen selbst die skeptischen Mitgliedsländer an.

SPIEGEL: Eine Expertengruppe, die Sie gemeinsam mit Ihrer französischen Kollegin Laurence Boone eingesetzt haben, hat diese Woche Reformideen vorgestellt. Was gibt es Neues?

Lührmann: Wichtige Reformen wie die Abschaffung des Einstimmigkeitszwangs, schärfere Werkzeuge gegen Rechtsstaatssünder, mehr direkte Demokratie – das alles wird seit Jahren diskutiert. Der Bericht schlägt allerdings nicht einfach vor, die Einstimmigkeit in der Außen- oder Sicherheitspolitik abzuschaffen und überall Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit einzuführen. Er sagt auch, wie das gelingen kann. Etwa indem zugleich ein »Souveränitäts-Sicherheitsnetz« eingebaut wird. Wenn ein Staat glaubt, dass seine zentralen nationalen Interessen von einer Entscheidung berührt sind, kann er das Thema in den Rat der Staats- und Regierungschefs weiterleiten.

SPIEGEL: Die entscheiden wiederum grundsätzlich einstimmig. Ist das eine Sackgasse?

Lührmann: Nein. Die Experten der Gruppe raten, dass es zudem die Möglichkeit sogenannter Opt-outs geben soll: Mitgliedsländer könnten in Politikbereichen, in denen Mehrheitsentscheidungen neu eingeführt werden, entscheiden, sich zurückzuziehen. Die anderen Mitgliedsländer hätten dann die Möglichkeit ohne sie voranzugehen.

DER SPIEGEL 39/2023

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SPIEGEL: Dafür und für andere Vorschläge wären aber wohl Änderungen an den EU-Verträgen notwendig, die als schwierig bis unmöglich gelten, da sie einstimmig beschlossen werden müssen.

Lührmann: Deshalb hat die Expertengruppe auch vieles vorgeschlagen, was ohne Vertragsänderungen ginge …

SPIEGEL: … aber für tiefgreifende Reformen kaum ausreichen würde. Welchen Ausweg sehen Sie?

Lührmann: Es wäre ein großer Fortschritt, wenn wir den Spielraum, den die aktuellen Verträge bieten, ausschöpfen würden. Der Bericht schlägt außerdem vor, dass eine Koalition der Willigen im Zweifel alleine vorangehen könnte.

SPIEGEL: Wäre es vorstellbar, dass Deutschland bei so etwas mitmacht?

Lührmann: Das müsste man sich gründlich anschauen. Etwas Ähnliches gibt es jetzt schon, zum Beispiel beim Euro oder beim Schengen-Raum. Wenn manche Länder nicht vorangehen wollen, kann sich eine Gruppe zusammenfinden und sagen: Dann machen wir es eben allein. Nur muss das immer im Rahmen der EU stattfinden und für alle offen sein. Die Europäische Union trägt ihren Namen nicht umsonst. Konsens ist ihr Wesenskern.

SPIEGEL: Das gilt nicht für alle Länder. Polen und Ungarn etwa stellen sich immer wieder offen gegen EU-Recht. Warum sollten sie ihren Vorschlägen folgen?

Lührmann: Weil sie proeuropäische Bevölkerungen haben. Und weil sowohl Polen als
auch Ungarn großes Interesse an einer Erweiterung der EU haben. Aber die EU kann nicht einfach über Nacht auf 35 Mitglieder anwachsen, sie muss sich mit Reformen darauf vorbereiten.

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