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Die Mumie vom Roten Platz - DER SPIEGEL
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Die Mumie vom Roten Platz

Der in seinem Mausoleum am Roten Platz aufgebahrte Leichnam des 1924 verstorbenen Revolutionsführers Lenin ist für die Moskauer Soziologin Larissa Lissjutkina, 44, »ein makabres Denkmal des Terrors, mehr Lästerung denn Verehrung«. Sie empfiehlt im Zeichen des neuen Denkens, dem Totenkult ein Ende zu machen.
aus DER SPIEGEL 44/1989

Jedes Volk kennt Grabmäler, vor denen es kniefällig vergangener Großtaten gedenkt. In Paris darf man sich sogar zwischen dem Pantheon und der Kommunarden-Mauer entscheiden, zwischen mehreren Helden und verschiedenen Traditionen der eigenen Geschichte. Grabstätten russischer Zaren kann man in der Peter-Paul-Festung von Leningrad oder in der Erzengelkathedrale in Moskau sehen - nur wurden sie niemals bewundert.

Am Roten Platz aber, im Zentrum Moskaus und der Sowjetunion, liegt die Mumie eines Mannes, von dem es hieß, er sei nicht gestorben, sondern »lebendig in Ewigkeit«.

Wie konnte es geschehen, daß die Bevölkerung eines Landes mit so vielen Nationalitäten und Konfessionen die befremdliche, ja furchteinflößende Tatsache hinnahm, daß Lenins Leichnam nicht beerdigt, sondern in der Mitte des Landes zu öffentlicher Besichtigung ausgestellt wurde?

Diese legitime Frage durfte jahrzehntelang öffentlich nicht gestellt werden. Erst in diesem Frühjahr wurde das Lenin-Mausoleum gleich zweimal Gegenstand kritischer Diskussionen: im Fernseh-Jugendprogramm »Blick« und bei den parlamentarischen Debatten der Volksdeputierten.

Das Echo in der Bevölkerung war überwiegend zornig: Die einen sahen das Andenken Lenins beleidigt, weil das Zentrum des Zentrums angegriffen wurde, die anderen sprachen endlich aus, daß ihnen die Staatsgruft schon lange eher als eine Form der Lästerung denn der Verehrung erscheint.

Doch niemand versuchte der paradoxen Tatsache auf den Grund zu kommen, warum gerade eine Revolution, die eine totale Welterneuerung anstrebte und der Religion den Kampf auf Leben und Tod angesagt hatte, mit der Mumifizierung ihres Führers einen Kult wiederbelebte, den die menschliche Gesellschaft schon vor Jahrtausenden aufgegeben hatte. Eine Revolution zudem, deren Ahnherr Friedrich Engels mit gewohnten Beerdigungsbräuchen brach und seine Asche ins Meer versenken ließ.

Pathetisch bestand die Oktoberrevolution darauf, »eine neue, unsere Welt zu erbauen«. Diese Zeile aus der Hymne der Revolution war die Zielvorstellung der Sieger. Aufbau aber hieß zugleich Vernichtung des politisch-ökonomischen Systems der Zarenzeit, auch der historisch gewachsenen soziokulturellen Beziehungen, die den bekämpften Zivilisationstyp und sein Entwicklungsmodell ausmachten. Wenige stellten sich die Frage, wie eine solche Kulturdemontage gelingen konnte, ohne daß das Land dabei in einen vorkulturellen Zustand, in die Barbarei zurückversetzt würde.

Kultur ist unter anderem ein Modus vivendi zwischen Individuen und ihrer Gemeinschaft, in Jahrhunderten gewachsen und auf ihren Bestand gerichtet. Diesem Ziel dienen religiöse, ethische sowie rechtliche Verhaltensnormen und Verbote. Das erste unter ihnen lautet: Du sollst nicht töten. Wie entwickelt, wie reif eine Zivilisation ist, beurteilt man zuvörderst danach, wie viele Abweichungen von diesem Grundsatz toleriert werden - Krieg, Todesstrafe, Blutrache, Blutopfer und weitere legalisierte Usancen des Mordens. Je breiter die Palette der akzeptierten Mordmöglichkeiten, um so niedriger der humane Status einer Zivilisation.

In Revolutionen werden die kulturellen Schranken des »Du sollst nicht töten« teilweise niedergerissen, ähnlich wie in Stammesgesellschaften während * Meuterei der Matrosen von Petrograd. - Nach einem zeitgenössischen Gemälde. sakraler Feierzeiten Tabus gebrochen wurden. In diesen alten Zivilisationen jedoch sorgte der zeremoniale Zyklus dafür, daß anschließend Tabus wieder konfliktfrei akzeptiert werden konnten.

Nach der Oktoberrevolution war die Gesellschaft daran gehindert, die während der Revolution gebrochenen moralischen Tabus wiederaufzurichten.

Vielmehr diente das alltägliche, offizielle Morden der Rechtfertigung allgemeiner Wohlfahrt und eines künftigen ewigen Lebens: Überlieferungen aus jener Zeit bestätigen, daß die Revolutionäre für die kommunistische Endzeit auch auf einen Sieg über den Tod hofften. Und je mehr Tod sie um sich säten, um so dringlicher benötigten sie anschauliche Symbole künftiger Unsterblichkeit.

»Der Gedanke, Lenins Leichnam müsse erhalten bleiben, stammt aus der Mitte der Volksmassen«, berichtet uns Professor Boris Iljitsch Sbarski, Mitglied jenes Teams, das die Leiche des Revolutionsführers einbalsamierte. Eine Gruppe von Eisenbahnern aus Kiew beispielswiese verlangte - damals: »Spezialisten sollen umgehend beauftragt werden, ein Verfahren zu entwickeln, mit dem die sterbliche Hülle des teuren Wladimir Iljitsch für Jahrtausende erhalten werden könnte.«

Schüler aus Rostow am Don fanden, »Beerdigung« sei »ja keine Seltenheit; doch Aufbewahrung für viele Jahre - das ist etwas, was nur die kommunistische Partei vermag«. Eine weitere Forderung nach Lenins Tod lautete: »Der Leichnam von Iljitsch darf nicht in der Erde verschwinden, sondern muß einbalsamiert und in einem zentralen Museum ausgestellt werden. Damit erhalten die Arbeiter kommender Jahrhunderte die Möglichkeit, den Führer des Proletariats zu sehen.«

Die Zeitzeugnisse belegen, mit welcher Konsequenz überkommene Normen außer Kraft gesetzt waren, in welchem Maße kulturelle, auf den Zusammenhalt menschlicher Gemeinschaft gerichtete Riten ihre Bedeutung eingebüßt hatten. Alle Dämme waren gebrochen, aus dem Unterbewußtsein stieg Archaisches auf.

Nur so - »in der Mitte der Volksmassen« - konnte der ungeheure Gedanke entstehen, den Leichnam des Revolutionärs zu präparieren und auszustellen. Lenins Witwe Nadeschda Krupskaja hat bekanntlich gegen diese naturalistische Verewigung ihres Mannes protestiert. Bekannt ist aber auch, daß Nachfolger Stalin der eigensinnigen Frau mehrfach damit drohte, »für den Genossen Lenin eine andere Witwe einzusetzen«.

Hat sich Nadeschda Krupskaja jemals in das Mausoleum getraut, an den Sarkophag, in dem der Leichnam ihres Mannes »wie lebendig« zur Schau gestellt war? So etwas wäre nicht einmal Hitchcock eingefallen. Doch im Januar 1944, berichtete die Iswestija, hätten Wissenschaftler »mehrere Besserungen im Zustand der sterblichen Hülle Lenins erzielt«. Er lebt, er wird leben!

Vergleicht man das Lenin-Mausoleum mit ähnlichen Bauten, so fällt auf, daß die anderen allemal für den eigenen Bedarf errichtet wurden, von Menschen also, die um ihren postmortalen Ruhm besorgt waren. Insofern ist das Bauwerk am Roten Platz eine Ausnahme: Es wurde ohne Lenins Zustimmung und gegen den Willen seiner Frau aufgerichtet.

Wer brauchte es, und wozu? In erster Linie wohl sein Erbe - primitiv, grausam und »asiatisch«. In diesem Sinne ist das Mausoleum ein Denkmal des Großen Terrors, Fundament einer neuen Kultur, die den Tod demonstrativ negiert. Aber niemals und nirgends zuvor, vielleicht mit Ausnahme der großen Pestepidemien in Westeuropa, bestimmte der Tod so gebieterisch den Verlauf des Lebens eines jeden.

Deshalb war ein Symbol für die angebliche Unsterblichkeit so unentbehrlich: zur Rechtfertigung für das Auslöschen von Millionen Menschen. Beide Seiten brauchten es gleichermaßen, die Vernichteten ebenso wie ihre Mörder - als habe zwischen Opfern und Henkern über den Sinn dessen, was damals geschah, eine Art Konsens bestanden. Anders ist kaum zu erklären, daß in kurzen zeitlichen Abständen der Rollentausch stattfand, daß der Terror fast 30 Jahre anhalten und weitere 30 Jahre überschatten konnte.

Der lebende Leichnam blieb kein Unikum. Mit den Methoden der sowjetischen Wissenschaftler wurden auch die Leichen des bulgarischen Kommunistenführers Georgi Dimitroff (1949) und seines vietnamesischen Kollegen Ho Tschi-minh (1969) präpariert. Wir Russen sind nicht kleinlich, doch mit der Vervielfältigung sank der sakrale Wert des Moskauer Mausoleums. Die Umquartierungen, die sich der »Vater aller Völker« Josef Stalin nach seinem Tode gefallen lassen mußte - erst ins Allerheiligste und dann wieder hinaus -, trugen zur allgemeinen Ernüchterung bei.

Jedes Jahr besichtigen 2,5 Millionen Menschen den wächsernen Wladimir Iljitsch, an Wochentagen sind es bis zu 12 000, seit 1924 machten ihm über 100 Millionen ihre Aufwartung. Eine soziologische Untersuchung der »Staatsschlange Nr. 1« wurde niemals vorgenommen, leider. So wissen wir nicht, wie viele Moskauer sich in sie einreihen, wie viele Gäste aus der Provinz und welche Altersgruppen am stärksten vertreten sind. Und auch auf die wichtigste Frage kennen wir vorläufig keine ehrliche Antwort: Warum gehen sie alle dorthin?

Bringt der sowjetische Provinzler, nachdem er sich in der Hauptstadt durch sämtliche Schlangen für Wurst, Wodka und Kinderstrumpfhosen gekämpft und weitere sechs Stunden Anstehen »zu Lenin« auf sich genommen hat, noch jenes Maß an religiöser Begeisterung auf, das sein Vater und Großvater empfanden? Oder kommt er aus der Gruft mit einem zufriedenen »verdammt echt, wie lebendig« zurück, was er nach einem Besuch bei Madame Tussaud wohl auch gesagt hätte - ohne Enttäuschung, aber auch ohne eine Spur von Pietät?

Wäre dem so, so wiese es endlich einen Ausweg aus der Falle, die wir uns mit der Errichtung des Mausoleums gebaut haben. Sich einen Götzen zu schaffen ist unendlich viel leichter als ihn zu stürzen. In der Zeit, die wir gebraucht haben, um uns des Zusammenbruchs unserer Kultur bewußt zu werden, ist das Mausoleum selbst zum verbindenden Zentrum rituellen Verhaltens der Bürger geworden. Eine gefühllose Säkularisierung des Mausoleums könnte unabsehbare Folgen haben, durchaus jenen vergleichbar, die einst seine Entstehung begleiteten.

In der Kultur darf nichts zerstört werden, erst recht kein Heiligtum. Wir sollten uns auch hier kein Beispiel an den Bolschewiki nehmen, die mit barbarischer Entschlossenheit aus den orthodoxen Kirchen die Reliquien hinauswarfen, um ihrem archaischen Götzentempel das Monopol zu sichern.

Michail Gorbatschow hat auch dies ausgesprochen, »daß es für uns darum geht, zivilisierte Menschen zu werden«. Wer aber in der zivilisierten Gesellschaft akzeptiert werden will, muß offen und öffentlich zum Wesen des Mausoleum-Phänomens vorstoßen, das zum Symbol der Neuen Welt sowjetischen Typs geworden war: Ihr Wesenskern ist der Tod, der zur allgemeinen Besichtigung ausgestellt wird, weil er sich lehrhaft für das Leben ausgibt.

Diese Täuschung ist der Ursprung aller weiteren Unwahrheiten. In einer totalitären Gesellschaft ist die Persönlichkeit von vornherein vernichtet, auch wenn man biologisch weiterlebt. Das Leben * Massengrab bei Tscheljabinsk im Ural. des Despoten ist bar alles Menschlichen und hat deshalb exemplarisch die Grenze zwischen Sein und Nichtsein annulliert. In Orwells Roman »1984« wissen nicht einmal die höchsten Mitglieder der »inneren Partei«, ob der Große Bruder tot ist oder noch lebt, ob da ein Mensch existiert oder eben nur noch ein Symbol.

Das ist ja auch bedeutungslos angesichts der Massengräber, in denen die Millionen namenlosen Revolutionsopfer ruhen. Die eine Waagschale beschwert das Mausoleum, in der anderen liegen die unzähligen Toten an der Kolyma, auf den Solowezki-Inseln, in Workuta und Kasachstan. Das sind die Heiligtümer, die mit Füßen getreten wurden. Die Rettung eines Volkes, die Vergebung seiner Sünden werden davon abhängen, ob es den Weg zu diesen Heiligtümern findet.

Was soll werden mit dem Mausoleum? Es ist Teil unserer Geschichte, Denkmal einer Zeit, von der wir uns verabschieden. Ausdrucksvoll ist es und anschaulich, weil es politische Realität reflektiert: Einer absoluten Machtkonzentration entspricht die Bündelung der Riten auf ein monströses Zentrum des Todeskults.

Das Mausoleum zu zerstören wäre gegenwärtig wenig sinnvoll, mit religiösem Anspruch den Bau künstlich aufrechtzuerhalten wäre verbrecherisch. Einstweilen würde schon genügen, mit dem Massenbewußtsein Schritt zu halten, in dem eine Entzauberung längst im Gange ist.

Es gilt, den Zeitpunkt nicht zu versäumen, zu dem es möglich sein wird, ohne Beleidigung der Besuchergefühle dieses Etablissement zu kostendeckenden Preisen umzufunktionieren: Dann soll man dort ruhig Eintrittskarten an Voyeure verkaufen, wie dies auch von Madame Tussaud mit Gewinn praktiziert wird.

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