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Sisyphus in Bad Salzungen - DER SPIEGEL
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Sisyphus in Bad Salzungen

aus DER SPIEGEL 44/1989

Hemd und Hose legt er auch dann noch ordentlich zusammen, wenn er mal beschwipst ist«, sagt seine Frau. Und als mal Butter knapp war, »da aß mein Hans-Dieter eben wortlos Margarine, obwohl er die für den Tod nicht mag.«

So ist er, der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Hans-Dieter Fritschler, 48, der in seinem Landkreis Bad Salzungen kurz »der Erste« genannt wird und die Verantwortung für alles hat, »vom Nudelholz bis zum Wald«. In seinem 18-Stunden-Arbeitstag kümmert er sich nicht nur um den Parteiapparat, sondern auch um »Bürgersteige, Wohnungen für Liga-Fußballer, Wasserleitungen, Gemüseversorgung, Schlaglöcher, Mülldeponien, defekte Straßenlaternen . . .«

Wie sein neuer Parteichef Egon Krenz kommt Fritschler aus der FDJ, wie dieser hält er sich mit Joggen fit. Beim Laufen flucht er vor sich hin, wenn er sieht, wie Armeefahrzeuge die Wintersaat zerstört haben oder die LPG »Lenin«, eine »Milchviehanlage«, in Jauche, Brennesseln und Schutthaufen zu ersticken droht.

Auch wenn seine guten Absichten täglich zwischen die Mühlsteine der DDR-Widersprüche geraten, hält der Erste fest an seinem Glauben: »Die Partei ist für das Volk da.« Sein Ziel ist: »Die Menschen sollen sich in diesem Lande wohl fühlen.« Gegen seine praktischen Erfahrungen besteht er darauf, »er dürfe keinen Zweifel an den Beschlüssen, Verordnungen und zentralen Weisungen zulassen«.

Genosse Fritschler ist kein sozialistischer Lesebuch-Held, er existiert real und ist zugleich Titelfigur eines Reports, den Landolf Scherzer, Vorsitzender des Aktivs Literarische Publizistik im Schriftstellerverband der DDR, geschrieben hat. Vier Wochen lang hat Scherzer, 48, den Kreissekretär bei seinen Alltagsgeschäften begleitet. Herausgekommen ist dabei, unter dem Titel »Der Erste«, ein Buch, das für die DDR ein Novum ist. Noch nie zuvor hat ein DDR-Autor das Innenleben der SED und die Sisyphus-Arbeit eines leitenden Parteifunktionärs derart hautnah miterleben und protokollieren dürfen.

Scherzer, ursprünglich Journalist, ist Spezialist für »Nahaufnahmen« - so der Titel eines seiner Bücher - und für Recherchen vor Ort, etwa in Mosambik oder Sibirien. Als eine Art Wallraff ohne Maske hat er ganz unten auf einem Fischdampfer malocht und darüber geschrieben ("Fänger & Gefangene«, 1983). Im Augenblick sieht er sich in Gorbatschows Sowjetunion um.

Beim »Ersten« blieb der Autor in seiner engeren Heimat. Fritschlers Landkreis liegt im Süden der DDR an der Werra zwischen Rhön und Thüringer Wald, unmittelbar an der Grenze zur Bundesrepublik. Bad Salzungen, die Kreisstadt, hat 21 000 Einwohner und gehört zum Bezirk Suhl (Thüringen), wo seit über 20 Jahren Hans Albrecht, der älteste der 15 SED-Provinzchefs, regiert.

Gerade weil Scherzer, selbst Parteimitglied, bei seiner teilnehmenden Beobachtung viel Sympathie und Einfühlung entwickelt, beeindruckt das dabei entstandene Bild von dem idealistisch gesinnten Funktionär, der sich in den desolaten Zuständen abstrampelt wie ein Hamster in der Trommel. Das »Protokoll einer Begegnung« (so der Untertitel) dokumentiert, wie die Parteidoktrin täglich an der Wirklichkeit scheitert.

Schon die Vorgeschichte verlief typisch, eben im sozialistischen Gang: Der Autor mußte ganze sechs Jahre anstehen, bis ihm 1986 sein Vorhaben erlaubt wurde, »hinter die Kulissen der Parteiarbeit schauen zu können«.

Als das Buch dann im November 1988 im Greifenverlag in Rudolstadt herauskam, war schnell klar: Es trifft sich mit den neuesten Stimmungen im Osten. Die erste Auflage war sofort vergriffen, ebenso die zweite im März 1989. 60 000 Exemplare sind in der DDR im Umlauf. Für SED-Genossen gehört »Der Erste« inzwischen zur Pflichtlektüre, das Parteiblatt Neues Deutschland stellte das ausverkaufte Buch als »Bestseller« vor. Vielen, die jetzt ihre Frustrationen zu äu* Mit Hans-Joachim Rodewald (r.) als der »Erste« in der Aufführung des Meininger Theaters. ßern wagen, dient es als Beispiel- und Stichwortgeber.

Die neuen Forderungen nach Offenheit und selbstkritischer Diskussion sind in diesem Buch in einem erstaunlichen Maß schon eingelöst. Bevor die Ausbrecher und die Ausharrer den Machtverfall der Staatspartei offenbarten, ist hier ganz konkrete Ursachenforschung an der Basis betrieben worden - ein kleines Avantgarde-Stück Glasnost für die DDR.

Vor gut einem Monat kam eine dramatische Fassung auf die Bühne. Zur Premiere im Meininger Theater reiste auch der stellvertretende Kulturminister Klaus Höpcke aus der Hauptstadt an.

Die Momentaufnahmen in Scherzers Reportage-Buch, das jetzt auch in der Bundesrepublik erscheint, enthüllen nichts Sensationelles, nur die gewöhnlichen Katastrophen der DDR-Misere*. An der Seite des mächtigsten Mannes im Kreis gelangt der Autor mitten in den alltäglichen Wahnsinn, wo Mangel und Mißwirtschaft, Frust und Lustlosigkeit das Leben bestimmen.

An Zement fehlt es insgesamt und speziell da, wo er gebraucht wird. Die HO-Gaststätte »Fortschritt« ist wegen Baufälligkeit eingegangen, für eine Renovierung ist sie zu verrottet, ein Neubau nicht vorgesehen. Die Laternen geben kein Licht, die Duschen in den Kasernen kein Warmwasser. Wohnungen werden dort gebaut, wo keiner hinziehen will; von oben oktroyierte Pläne behindern die Produktion.

Die Funktionäre spüren die Mangelwirtschaft in den eigenen Reihen. Ihnen fehlt es an Nachwuchs: »Keine Leute, keine Kader.« Bei fast allen stoßen sie auf Desinteresse, wenn sie für eine Laufbahn als »Berufsrevolutionär« in Partei und FDJ werben.

»Probleme« gibt es auch mit »Jugendlichen, die unser Land verlassen wollten«. Fritschler bekennt: »Da können wir uns nicht mehr mit Überbleibseln kapitalistischer Moral herausreden«, die »sind erst nach der Gründung der Republik geboren, in unserem Staat aufgewachsen«. Sein Stellvertreter, Jürgen Riese, rät, die Partei solle die jungen Kaninchenzüchter unterstützen: »Wer Karnickel im Stall hat, geht nicht nach dem Westen.« Denkt er.

Die Partei, die immer recht hat, hat sich 40 Jahre immer reichlich in die Tasche gelogen. Damit »das Ideal, das wir vom Sozialismus haben, immer mehr mit unserer Wirklichkeit übereinstimmt«, wurde in Statistiken, Bilanzen und Planzahlen dem schnöden Sein der schöne Schein aufgesetzt.

»Vielleicht«, sinniert der Erste, den von Problemen schweren Kopf in die Hände gestützt, »haben wir als Partei auch selbst schuld, daß wir uns in so viele Alltagsdinge einmischen müssen.«

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