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Deutsches Fremdwörterbuch : "Heuristik"
 
Deutsches Fremdwörterbuch
Heuristik
F. (-; -en), fachspr. Neubildung des späteren 18. Jhs. zu griech. εいぷしろんρろーίσκειν ‘finden’ (→ heureka), bis ins spätere 19. Jh. auch in der gräzisierenden Schreibung Hevristik.
Als Fachwort der Philosophie (Erkenntnistheorie) zunächst in weiterer Bed. ‘Fertigkeit, Lehre, auf methodischem Weg Erfindungen zu machen (etwa durch die Kombination logischer Begriffe oder durch experimentelle Forschung)’ (bis ins 20. Jh. auch übersetzt mit Erfindungskunst; vgl. G. W. Leibniz’ ‘Ars Combinatoria“), seit Anfang 20. Jh. spezifiziert zu ‘Gesamtheit tentativer oder provisorischer Verfahren (wie Faustregeln, Vermutungen, Analogien, Modelle, Arbeitshypothesen, Generalisierungen, Gedankenexperimente) auf verschiedenen Wissensgebieten (Wirtschaftswissenschaften, Mathematik, Informatik), die es ermöglichen, auf der Grundlage bruchstückhaften Wissens schnell (und ökonomisch) Schlussfolgerungen zu ziehen, Probleme zu lösen, Beweise oder Widerlegungen zu finden, die jedoch nicht mit Sicherheit zum Erfolg führen’ (im Gegensatz zu fundierteren Verfahren, Beweise oder Widerlegungen zu führen), daneben selten auch für ein Lehrbuch der Heuristik (s. Beleg 1774) oder (kurz) für ein einzelnes heuristisches Verfahren, in Wendungen wie allgemeine, oratorische, rhetorische Heuristik und in (heuristische Verfahren bezeichnenden) Zss. wie Anker-, Anpassungs-, Einstellungs-, Repräsentativitäts-, Verfügbarkeitsheuristik, How-do-I-feel-about-it-Heuristik (vgl. Hyponyme wie Bergsteigeralgorithmus, Illusorische Korrelation, trial and error; → Methode).
Dazu etwa gleichzeitig die adj. Ableitung heuristisch, anfangs auch hevristisch, in der Bed. ‘tentative oder provisorische Verfahren, die schnell, aber nicht mit Sicherheit zum Erfolg führen, nutzend’ (→ provisorisch), gelegentlich konnotiert mit „methodisch minderwertig, ungenau, unsauber, unzulänglich“, häufig in Wendungen wie heuristische Methode, heuristisches Prinzip, Verfahren und bes. heuristische Lehrmethode ‘genetische, analytische Lehrmethode, die darin besteht, daß der Lernende die Wege nachvollzieht, auf dem die Lehren einer Wissenschaft gefunden worden sind oder hätten gefunden werden können’ (s. Belege 1813, 1863, 1879).
Daneben seit spätem 18. Jh. vereinzelt die Personenbezeichnung Heurist M. ‘Person, die heuristische Verfahren anwendet’.

Belege

zu Heuristik (13)
Dommerich 1765 Die Mnemonik und Hevristik nach ihren ersten Zügen entworfen
(Titel);
Herder 1767 Dtsch. Literatur (S. W. I 444)
als Poetische Hevristik wollen wir die Mythologie der Alten studiren;
Schubart 1774 Dtsch. Chronik 86
Wenn doch Flögel nach seinen seithero erweiterten Erkenntnissen seine Hevristik wieder herausgäbe!;
Jean Paul 1804 Vorschule d. Ästhetik (W. V 202)
wenn in dieser allgemeinen Auflösung, wie man sich den Jüngsten Tag außerhalb des Kopfs denkt, . . wenn dieser Dithyrambus des Witzes . . den Menschen mehr mit Licht als mit Gestalten füllt: dann ist ihm durch die allgemeine Gleichheit und Freiheit der Weg zur dichterischen und zur philosophischen Freiheit und Erfindung aufgetan, und seine Findkunst (Heuristik) wird jetzo nur durch ein schöneres Ziel bestimmt (DiBi 125);
Goethe 1827 Maximen u. Reflex. (WA I 49,153)
Mein ganzes inneres Wirken erwies sich als eine lebendige Heuristik, welche, eine unbekannte geahnete Regel anerkennend, solche in der Außenwelt zu finden und in die Außenwelt einzuführen trachtet;
1844 Brockhaus VII 148
Heuristik heißt Erfindungskunst, oder eine Anweisung, auf methodischem Wege Erfindungen zu machen;
Petri 1879 Handb. d. Fremdwörter 398
Heuristik . . die Erfindekunst, Erfind(ungs)lehre;
Dessoir 1906 Ästhetik 27
In seiner ästhetischen Heuristik wendet sich Baumgarten dem Schaffen des Künstlers und den Kunstwerken zu. Er will die ‘Auffindung, Anordnung und Bezeichnung schöner Gedanken’ lehren und beginnt mit der Aufzählung der Bedingungen, die zur Entstehung eines schönen Kunstwerks unentbehrlich sind;
Genius 1933 Fremdwb. 398
Heuristik . . Erfindungskunst, Anweisung zum Auffinden des Richtigen;
Görlitz 1949 Idee 78
Die Heuristik, die Wissenschaft, die sich mit der Aufspürung der Quellen befaßt, ist zu einem besonderen Zweig der Geschichtswissenschaft geworden;
Bromme 1977 Psychologie und Heuristik. Probleme der systematischen Effektivierung von Erkenntnisprozessen
(Titel);
1989 Brockhaus X 50
Heuristik . . die Kunst, wahre Aussagen zu finden, im Unterschied zur Logik, die lehrt, wahre Aussagen zu begründen;
Zeit 31. 12. 2003
Der Mensch ist zudem träge und kommt erst auf Trab, wenn er es mit der Angst zu tun kriegt. . . Hans Jonas hat das die »Heuristik der Furcht« genannt.
zu heuristisch (13)
Lessing 1759 Literaturbr. IV (S. Schr. VIII 192)
Es ist hier nicht die Frage von dem moralischen Nutzen, sondern von einem Nutzen, welchen der Verfasser den hevristischen nennet. Er glaubt nemlich, daß die Erfindung der Fabeln eine von den besten Uebungen sey, durch die ein junges Genie gebildet werden könne. Da aber die wahre Art, wie eine Fabel erfunden wird, vielen Schwierigkeiten unterworfen ist, so räth er vors erste die Fabeln mehr finden als erfinden zu lassen;
Lichtenberg 1793–96 Sudelbücher (Schr. u. Br. II 455)
Ich glaube unter allen heuristischen Hebezeugen ist keins fruchtbarer, als das, was ich Paradigmata genannt habe (DiBi 125);
Jean Paul 1804 Vorschule d. Ästhetik (W. V 24)
Die heuristischen Formeln, welche der Künstler von undichterischen Geschmacklehrern empfängt, lauten alle wie eine ähnliche in Adelungs Buch über den Stil: „Briefe, welche Empfindungen und Leidenschaften erregen sollen, finden in der rührenden und pathetischen Schreibart Hülfsmittel genug, ihre Absicht zu erreichen“ (DiBi 125);
Campe 1813 Fremdwb. 351
Die hevristische Lehrmethode ist diejenige, wobei man die Schüler das Zulehrende selbst finden läßt; also die Findelehre;
1844 Brockhaus VII 149
Etwas ganz anderes endlich, als eine Anweisung, eigentliche Erfahrungen zu machen, ist das heuristische Verfahren in der Darstellung wissenschaftlicher Lehren, d. h. eine Darstellung, welche den Weg geht, auf welchem die Lehrsätze derselben wirklich gefunden worden sind;
Petri 1879 Handb. d. Fremdwörter 398
heuristisch, erfindend, erforschend, erfinderisch; heuristische Methode, die Lehrweise, wodurch der Lernende zum Selbstfinden der Lehrsätze geleitet wird;
Wahle 1906 Mechanismus 271
Es hat den Anschein, als wenn jede von der Peripherie kommende Nervenbahn möglichst weit auslaufen und durch ein gewisses ideales Zentrum im Gehirne durchlaufen wollte; . . Doch lassen die Beziehungen zum Kleinhirn und verschiedene Rückkrümmungen eine eventuelle heuristische Handhabung dieser Anschauung nicht leicht ersprießlich erscheinen;
Borchardt 1928 Handlungen 146
Die Willkürlichkeiten jener großen Männer, die nicht imstande gewesen waren, alles von ihnen behandelte gleichmäßig zu durchdringen, waren bei fortschreitender Spezialisierung entsagungsvoller Exaktheit gewichen, deren heuristischen Methoden die kontrollierende Nachbarschaft der „exakten Wissenschaften“ in wünschenswerter Weise anzumerken war;
Sedlmayr 1948 Verlust 175
Das hier entworfene Gesamtbild . . ist aber noch zu undifferenziert, um den historischen Sachverhalt in seiner ganzen Kompliziertheit richtig wiederzugeben. Es kann nur ein heuristisches Leitbild für künftige Forschungen sein;
1989 Brockhaus X 51
In der Informatik . . sind heuristische Verfahren v. a. im Bereich der künstlichen Intelligenz wichtig, ebenso wie in den Wirtschaftswissenschaften im Rahmen des Operations-Research. Heurist. Verfahren werden dort eingesetzt, wo der erforderl. Rechenaufwand . . zu umfangreich ist oder dieser den Rahmen des Möglichen sprengt. Dabei wird (z. B. beim Schachspiel) die Anzahl der in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten reduziert, indem man aussichtslos erscheinende Varianten von vornherein ausschließt;
Hoyos 1990 Ingenieurpsychologie 469
Heuristische Informationen sind spezielle Annahmen über das zu lösende Problem, die geeignet sind, die Suche nach der Lösung zu vereinfachen. Hierzu gehören intuitive Ansätze, Daumenregeln, allgemein gültige Prinzipien und Plausibilitätsschlüsse;
taz 3. 4. 1992
Heuristische Verfahren kommen vor am Rande jeder Wissenschaft, gelten aber oft als minderwertiger Kunstgriff. Wir kennen das als „nur eine Arbeitshypothese, nur eine heuristische Hypothese“ für zwischendurch, die dann wegfallen soll;
Berl. Ztg. 7. 10. 2003
Es ist also der heuristische Wert einer solchen Perspektive [der folgenden Faustregel], der fraglich bleibt. . . „Behandeln Sie es [ein Kind] am besten, indem Sie so tun, als gehöre es einer fremden Art an“, gibt er dem Leser als Ratschlag mit auf den Weg.
zu Heurist (4)
Kästner 1745 Sinngedichte (Ges. W. I 101)
Wie viel dazu gehört, was Ungethanes zu thun/ Was den Alten schwer gewesen,/ Nennt Hevristes Kinderspiel;/ Hätt’ er etwas mehr gelesen,/ So erfänd’ er nicht so viel [Anm. dazu in
Kästner 1786 Gesch. d. Math. I 19
:] Ich dachte nicht, eine Zeit zu erleben, in der es viel mehr, und viel unbelesenere Hevristen giebt, als ich mir nach damaliger Erfahrung vorstellte. So würden angehende Schriftsteller sich am besten durch Bekanntschaft mit ihren Vorgängern zeigen (DiBi 125);
Schulz 1974 Triptychon 433
langweilig, mag schon sein, den Liebhabern des Schnees vom vergangenen Jahr, langweilig sicher auch den Heuristen;
Podlewski 1982 Rhetorik 2 f.
Unabhängig von umfassenden Sinnkomplexen der Hermeneutiker, doch über die bloße Formanalyse der Heuristen hinaus, verlangt die methodeutische Rhetorik nach einem System der Formen zur Erzeugung erhöhter Bedeutung.