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Hexameter |
M. (-s; -, selten -s), im späteren 16. Jh.
entlehnt aus gleichbed. lat. hexameter, einer Substantivierung aus
hexameter (versus) ‘sechsfüßig(er Vers)’ (< griech.
ἑξάμετρος ‘aus sechs Maßen (oder Versfüßen) bestehend’, subst.
ἕξάμετρον ‘sechsfüßiger Vers’, zu ἕξ ‘sechs’ und
μ έτρον ‘Maß’; → Metrum), bis Mitte 18. Jh. auch in lat. (flekt.)
Form.
Poetologischer Terminus, mit dem ein Versmaß ursprünglich wohl der
griechischen Poesie bezeichnet wird, das im Griechischen und Lateinischen durch
die Abfolge von langen und kurzen Silben, im Deutschen dagegen durch die Abfolge
von betonten und unbetonten Silben konstituiert wird und sowohl Bestandteil
epischer Dichtung (bereits des 8. Jhs. v. Chr., „Ilias“, „Odyssee“, Hesiod) ist
als auch gepaart mit dem Pentameter das Distichon bildet, im Mittelalter nur
vereinzelt, im Zuge der sich herausbildenden Klassik dann programmatisch in
verschiedener Weise auf die deutsche Sprache übertragen (u. a. von Klopstock,
Voss, Goethe, Schiller), in jüngerer Literatur aber kaum noch verwendet, in der
Bed. ‘sechsfüßiger daktylischer (oder spondeischer), durch verschiedene Zäsuren
gegliederter Vers’, auch metonymisch für ‘im Versmaß des Hexameters verfasster
Vers, verfasste Dichtung’ (s. Belege um 1600, 1900, 2004), in Wendungen wie
antiker, leoninischer, akzentuierender Hexameter, epische, heroische, düstere
Hexameter, die erste deutsche Dichtung in Hexametern, der Hexameter ist das
Metrum der großen Heldengedichte des Altertums und (selten) in Zss. wie
Hexameterdichtung, -epos, -schmied, -vers.
Dazu seit frühem
18. Jh. die seltene Personenbezeichnung Hexametrist M. (-en; -en) in der
Bed. ‘Verfasser von Versepik oder Lyrik im Versmaß des Hexameters’, seit Mitte
18. Jh. die adj. Ableitung hexametrisch ‘im Versmaß des Hexameters
(verfasst); durch das Versmaß des Hexameters gebildet, hervorgerufen’,
vereinzelt auch mit Bezug auf den Dichter ‘Hexameter verwendend’ (s. Beleg
1759), etwa gleichzeitig die seltene Verbalableitung hexametrisieren V.
(in)trans. ‘ins Versmaß des Hexameters bringen, im Versmaß des Hexameters
dichten’, gleichbed. mit seit Ende 18. Jh. selten nachgewiesenem
hexametrieren V. (in)trans.
Belege
Fischart 1575
Geschichtklitterung 53
Dieweil darauß die Künstlichkeyt der Teutschen sprach
inn allerhand Kermina bescheinet, und wie sie nun auch an stellung des Hexametri
oder Sechsmäsiger Silbenstimmung vnnd Silbenmäsigem Sechsschläg weder den
Griechen noch Latinen (die daß Muß alleyn essen wolten) forthin weichen;
Wedel um 1600 Hausbuch 278
Am 26 tag Octobris hat marggraff Joachim
Friedrich, . . mit 2000 pferden stattlichen einzug gehalten, wie dieser gantze
actus von M. Johanne Pomerio in einem schönen hexametro umbständlich beschrieben
wird;
Opitz 1624 Poeterey 41
der dactylus . . der sich zueweilen . . in
unsere sprache, wann man dem gesetze der reimen keine gewalt thun wil, so wenig
zwingen leßt, als castitas, pulchritudo und dergleichen in die lateinischen
hexametros unnd pentametros zue bringen sind;
Schottel 1645 Vers- od.
Reimkunst 58
Es sind zwar unsere Wörter/ gezwungener weise/ auch wol
etzlicher massen nach der Lateinischen Art zuordnen/ Wie auß diesem Rätzel
welches Clajus setzet/ so lauter Hexametri sein sollen/ abzunehmen (DiBi 125);
Hübner 1712 Poet. Handb. 126
Sonderlich werden viel Elegien geschrieben,
da die männlichen und weiblichen Reime so abwechseln, als wenn es Hexametri und
Pentametri wären;
Breitinger 1740 Dichtkunst II 468
Und verdienet dieser
Vers nicht den Vorzug vor dem neuen Hexameter des Herren Heräus, der keinen
Wechsel der Füße leidet, und allemahl von der Zusammensetzung eines dactylischen
Versgens mit einem gleichthönenden Fallenden besteht?;
Lessing 1759
Literaturbr. (S. Schr. VIII 45)
Man hat gefragt, ob Herr Klopstock der erste
sey, der deutsche Hexameter gemacht habe? . . diesen glaube ich . . in dem
deutschen Uebersetzer des Rabelais entdeckt zu haben;
Wezel 1781 Sprache
21
hätten Opitz und seine Nachfolger in Hexametern gedichtet, so wären die
Exulanten gewiß ungekränkt beibehalten worden, weil sie gute Daktylen machen;
Schiller 1797 S. W. I 251
Der epische Hexameter (Überschr.) Schwindelnd
trägt er dich fort auf rastlos strömenden Wogen,/ Hinter dir siehst du, du
siehst vor dir nur Himmel und Meer (DiBi 125);
ebd. 252
Das Distichon
(Überschr.) Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,/ Im Pentameter
drauf fällt sie melodisch herab (DiBi 125);
Goethe 1822 Schr. z. Lit. (WA I
46,362)
daher ich denn gar gern . . mit Persius endige, der, in
sibyllinische Sprüche den bittersten Unmut verhüllend, seine Verzweiflung in
düstern Hexametern ausspricht;
Mundt 1837 Prosa 231
Die Hexameter in der
Bibelübersetzung hat Luther gewiß unbewußt hervorgebracht, mit Fleiß schon
deshalb nicht, weil man zu seiner Zeit noch nicht daran dachte, dieses Versmaaß
in deutscher Sprache zu produziren, und erst später Fischart bekanntlich den
ersten Hexameter an die Deutschen richtete;
Marx 1849 MEW VI 261
so
bleibt er doch stets rhythmisch, und in der Tat, auf ihre Rechnung kommen fast
alle die unfreiwilligen Hexameter, an denen die Kölnische Zeitung so reich ist;
Marx/Engels 1852 MEW VIII 263
Die Frau Kinkels besuchte ihn im Gefängnis.
Sie empfing ihn hinter dem Gitter mit Versen; er antwortete, wie ich glaube, in
Hexametern;
Rumpelt 1879 Poetik 20
Der Hexameter ist das Metrum der
großen Heldengedichte des Altertums;
Kerr 1900 Br. a. d. Reichshauptstadt
568
Ein Kliniker in Breslau kämpft gegen die Seuche, an der Ulrich von
Hutten gestorben ist. . . Diese Seuche, der Goethe erschreckte Hexameter
widmete;
Th. Mann 1921 Reden u. Aufs. (W. XI 588)
Die in Kritiken viel
erwähnte Holprigkeit der Verse ist meinem besseren Wissen zufolge nur scheinbar.
Liest man die Rhythmen nicht als Hexameter, sondern frei, so lesen sie sich gut;
Kessler 1927 Tagebücher 1918–1937 514 f.
Er [G. Hauptmann] sagte, er habe
zwar den Hexameter zur Grundlage genommen, sich auch an dessen Skandierung
gehalten, aber eigentlich sei der Vers des ‘Till’ etwas Eigenes, Neues. Dies
bestätigte sich auch, als er vorlas. Nichts von der festen, starren Versform des
Goetheschen Hexameters ist übriggeblieben;
Staiger 1966 Grundbegriffe 110
Der epische Hexameter aber ist ein selbständiges rhythmisches Stück, das nicht
im Strom zerrinnt, sondern dasteht und sich behauptet. Den Halt verleiht ihm die
Zäsur;
Zeit 3. 10. 1986
Kam das Bürgerliche Gesetzbuch fast noch mit dem
Hexameter aus: „steht auf der Grenze ein Baum, so gebühren die Früchte, und wenn
der …“, so haben die Länderparlamente wahre Regel-Orgien inszeniert;
taz
14. 5. 2004
Die einzige Spur, die heute noch auf den Verfasser verweist,
sind die 28.000 Hexameter vom Trojanischen Krieg.
Böttiger 1795 Br. an Wolf (Grumach 1980 Goethe IV 137)
Aber daß er
[Goethe] über seinen Reineke gerade so denkt, wie Sie muthmaßen, und das Werk
für eine nach und nach so zusammengefügte Satire auf die damaligen Hofhaltungen
hält, und sie verschiedenen Verfassern zuschreibt, hat er selbst in einer
Einleitung, die er zu seinem hexametrirten Reineke geben wollte, behaupten
wollen;
1827 Jahrb. f. Philol. u. Pädagogik II 308
Und so hexametrirt der
Verf. an sehr vielen andern Stellen ungebührlich und seinem Plane untreu, z. B.
bald drauf, Vers 15;
Apel 1834 Metrik II 157
Er versuchte das Vater Unser
zu hexametriren, und wollte bloss im fünften Fusse den Daktylus brauchen;
Gottschalk 1883 Gebr. d. Artikels 69
Aber jetzt hexametrirt, wenn ich das
sagen kann, Alles, was in Deutschland dichtet und drucken läßt;
taz
1. 8. 1988
Die sonore Stimme heuchelt weiter in wunderbar hexametrierten
Reimen von Höllenpein, Liebe, Gnade und innerer Einkehr;
Frankf. Rundsch.
14. 8. 1999
Und wo der Weimarer „gegenrevolutionär“ Hermann und Dorothea
hexametrierte, scheiterte der Augsburger beim Versuch, das Kommunistische
Manifest ins Homerische zu übersetzen.
Lessing
1750 Rezensionen (W. III 20)
Kann man etwas höckrichters in einer Sprache
hören, als die hexametrische Versart dieser beiden Gedichte? (DiBi 125);
ders. 1759 Literaturbr. (S. Schr. VIII 85)
so heißt unser hexametrischer
Übersetzer;
Herder 1767–1769 Kl. Schriften (S. W. IV 321)
So sind also
die Gedichte Oßians in Hexameter übersetzt – aber würde Oßian, wenn er in
unsrer Sprache sie abgesungen, sie hexametrisch abgesungen haben?;
Ramler
1796 Sprachkunde II 19
in einem hexametrischen Gedichte, die goldene Zeit
betitelt, sind zwey und zwanzig Ausgänge in „en“;
v. d. Hagen 1816 Nibelungen
Lied XIV f.
Auch haben wir noch ein mit den Nibelungen in nahem
Zusammenhange begriffenes, . . nach Deutschen Liedern verfasstes Lateinisches
Werk, in dem hexametrischen Gedichte von Walther von Aquitanien;
Mundt 1837
Prosa 231
Der hexametrische Gang ist jedoch der deutschen Sprache, wie der
Tonwandlung der Prosa überhaupt, so angemessen, daß er sich überall ohne Mühe
unwillkürlich entdecken läßt (DiBi 125);
Gutzkow 1852 Knabenzeit 221
Er
hatte ständig Vossens Übersetzung [der Ilias] zur Seite und geriet infolgedessen
noch mehr in jenen singenden Schwung der Rede, der ihn sogar in gewöhnlicher
Rede hexametrisch sprechen und einen Schüler mit einem Distichon anreden ließ
(DiBi 125);
Sanders 1871 Fremdwb. I 490
hexametrische Übertragung;
Vorländer 1903 Gesch. d. Philosophie o. S.
T. Lucretius Carus . . dessen
in sechs Büchern verfaßtes hexametrisches Lehrgedicht De rerum natura zu dem
Besten gehört, was die Römer in Dichtung und Philosophie geschaffen haben;
Th. Mann 1921 Reden u. Aufs. (W. XI 588)
so gewinnt . . diese Bewußtheit
geradezu den Charakter der Persiflage, wie er etwa in dem hexametrischen
Halbvers „Wasserstoffsuperoxyd“ . . besonders deutlich wird;
Genius 1933
Fremdwb. 398
hexametrisch, in Hexametern geschrieben;
Böschenstein 1967
Idylle 33
F. W. Zachariae unternahm eine minutiöse hexametrische
Beschreibung der „Jahreszeiten im Kleinen“;
FAZ 29. 9. 2003
diese Zeit,
wo . . allen alles gehört, von der Hesiod und Ovid hexametrisch schwärmten.
Schönaich 1754 Ästhetik 247
so geben wir
hiermit, kraft unsers Kunstrichteramtes, allen denen, die nur zum Dichten, und
Hexametrisiren einigen Beruf fühlen, freye Macht und Gewalt;
Nicolai 1755 Br.
(Ndr. III 2,43)
und gleichwohl wollen sie nicht, daß man sie an ihrem
Schreibtische ruhig hexametrisiren lassen . . soll; sondern sie . . begehren
einen Platz . . über die grösten Dichter des Alterthums;
Böttiger 1799
Literar. Zustände I 250
er hatte ganze Sätze aus Montesquieu hexametrisirt;
Preller 1825 Röm. Reich u. Recht 80
wie Lucretius hexametrisiert;
Walzel 1937 Grenzen 43
Richtig stellt Gillies fest, daß der künstlerische
Gegensatz des Ossian zu dem „entkräfteten hexametrisierten Kunstprodukt“, der
Verdeutschung durch Michael Denis, die Grundstimmung eines guten Teils des
„Briefwechsels“ bedingt;
1967 Orbis medievalis 52
daß in der Zeit, da der
Dichter bei der „Achilleis“ war, wieder auch die übrigen „Silven“ hexametrisiert
wurden;
Knape 2000 Humanismus (Gardt 2000 Nation 112)
Das 50. praeceptum
[aus dem Rhetorikteil der „Margarita“ Albrechts von Eyb] schließlich bringt eine
hexametrisierte Figurenlehre.
Gottsched 1725
Sprachk. (W. VIII 715)
Unsere deutschen Hexametristen aber sind hier getreue
Miltonianer, und machen uns fast lauter zerfetzte Zeilen, wie ein poetisches
Fricassee (DiBi 125);
Lessing 1759 Literaturbr. (S. Schr. VIII 82)
Doch
erlauben Sie mir, Ihnen auch durch eine Vergleichung zu zeigen, wie wäßrig,
matt, weitschweifig überhaupt die Sprache dieses Hexametristen ist;
Boie 1770
Ausgew. Gedichte 294
Auf einen Hexametristen// Des niedern Fluges Feind, des
armen Reimes Haßer/ Fliegt dunkel schwülstig in die Höh/ Sein Lied. – Es
schimmert wie der Schnee,/ Doch löse beide auf, was bleibet übrig? – Waßer (DiBi
125);
Jördens 1806 Lex. dtsch. Dichter I 150
das Lustspiel des Hrn.
Weiße, die Poeten nach der Mode, eine Satire auf die Gottschedianer und
Hexametristen;
Apel 1834 Metrik II 21
und oft muss der Wortac[cent] sich
dem Rhythmus des Verses fügen, so dass man eben so viel Mühe hat quantitirende
Versarten nach diesen Accentbestimmungen in der lateinischen Sprache zu lesen,
als die Poesien mancher neuern Hexametristen;
Kehrein 1876 Fremdwb. 237
Hexametrist . . Hexametermacher;
Genius 1933 Fremdwb. 398
Hexametrist . .
Verfasser von Hexametern;
Grimm/Wiedemann 1968 Literatur u. Geistesgesch.
250
Er tritt als Epiker und Hexametrist seinerseits in das Traditionsfeld
der Klassik ein, ein epigonaler Pathetiker des hohen Stils.