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Nützliche Schranke - DER SPIEGEL
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Artikel 66 / 80

BÜCHER Nützliche Schranke

Ein Schüler des Verhaltensforschers Konrad Lorenz attackiert eine der Grundlagen von Freuds Psychoanalyse - den »Ödipus-Komplex«. *
aus DER SPIEGEL 50/1985

Auf nichts bauen Psychoanalytiker bei ihrer Entschlüsselung seelischer Leiden so fest wie auf den »Ödipus-Komplex«. Seit Sigmund Freud setzen sie voraus: Jeder Knabe will insgeheim Inzest mit der Mutter treiben und fürchtet die kastrierende Vormacht des Vaters. Umgekehrt sollen die Mutter-Ängste der Töchter Folge einer unterdrückten sexuellen Rivalität um den Vater sein.

Psychoanalytiker, Gesellschaftsforscher und Dichter schwören darauf, daß es sich da um die Unterdrückung sexueller Energien und um eine Folge von Kultur handelt, während in der wahren, der animalischen Natur, Brüder und Schwestern, Mütter und Söhne, Väter und Töchter unbeschwert kopulieren. Dabei stammt, wie sich nicht länger verbergen läßt, die Inzest-Barriere aus der Natur, und von einem Ödipus-Komplex, so wie Freud ihn erklärt, kann nicht die Rede sein.

Norbert Bischof, 55, streitbarer Lehrer für Allgemeine Psychologie und Biomathematik an der Universität Zürich, beweist das in einer fundamentalen Untersuchung über die »biologischen Wurzeln des Urkonfliktes«, der sich hinter dem, wie er es nennt, »Rätsel Ödipus« verbirgt. _(Norbert Bischof: »Das Rätsel Ödipus«. ) _(Piper-Verlag, München; 624 Seiten; 58 ) _(Mark. )

Inzest-Schranken, das steht danach außer Zweifel, hat es lange vor dem Erwachen der Gattung Mensch in der Natur gegeben, unter Fliegen wie Vögeln, Mäusen wie Pferden.

Anhand zahlreicher biologischer Feldstudien der letzten Jahre macht der deutsche Professor aus Zürich nun plausibel, wie diese Barrieren mit zweigeschlechtlicher Fortpflanzung überall einhergehen. Nur wer seine Naturbetrachtung auf Tiere und Haustiere beschränke, die unter menschlicher Einwirkung den Gesetzmäßigkeiten ihrer ursprünglichen Lebensgemeinschaften entfremdet worden seien, könne sich, meint Bischof, über diese Erkenntnis hinwegtäuschen.

Zur Züchtung freilich sind vom Menschen bevorzugt gerade jene Exemplare einer Tiergattung herangezogen worden, die bereit und fähig zur Inzucht waren. Selbst nach einer solchen gezielten Selektion schlage, versichert der unter anderem von Konrad Lorenz geschulte Bio-Psychologe Bischof, immer wieder spontane Inzest-Verweigerung bei Haustieren und Zuchttieren durch.

Bei jahrelanger Vertrautheit mit Wildgänsen aus dem Seewiesener Forschungsinstitut von Lorenz hat er in den sechziger Jahren seine Skepsis an der Richtigkeit Freudscher Ödipus-Deutung begründet. Von der Geschlechtsreife an sei bei diesen Gänsen plötzlich eine heftige Abneigung gegen alles dagewesen, womit sie zuvor geschwisterlich vertraut zusammengelebt hatten. Abwehrbereit seien sie selbst jenen »primär-vertrauten« Pflegepersonen ausgewichen, die ins Repertoire ihres verwandtschaftlichen Verhaltens einzubeziehen sie schon vom Nest weg gewohnt waren.

Ähnliches berichten Tierforscher von Schimpansen. Innerhalb der familiären Gruppe hängen bei denen Brüder und Schwestern bis zur Geschlechtsreife wie Liebespaare aneinander. Danach werden die Kopulationsspiele der Brüder von den Schwestern mit lautem Kreischen abgewehrt.

Diesem Entwicklungsschema entsprechend verhielt sich auch noch ein Schimpansenmädchen, das in der Familie eines US-Psychologen wie ein eigenes Kind aufgezogen worden war. Von der Reife an bestand es auf strikter Distanz zu den ihm »primär-vertrauten« Bezugspersonen,

dem Hausherrn wie dessen Sohn.

Neben ihnen blieb es nicht einmal mehr auf dem Sofa sitzen, während es sich andererseits dem Briefträger und männlichen Nachbarn mit allen Zeichen der Paarungsbereitschaft schmatzend an den Hals warf.

Jünglinge in einer Schimpansenherde, doch ebenso junge Rhesus-Affen, geben, kaum kopulationsfähig geworden, die bis dahin von ihnen bevorzugte körperliche Nähe zu ihrer Mutter schlagartig auf. Desinteressiert sehen sie, wie diese in den Perioden ihrer Empfängnisbereitschaft sich mit anderen Männchen paart.

Die ererbte Sperre wider den Verkehr mit der Mama funktioniert offenbar nur in Lebensgemeinschaften mit ausreichendem Spielraum. Unter Rhesus-Affen etwa, die zu zahlreich auf einer zu kleinen Insel zusammenlebten, degenerierte die Inzest-Blockade.

Eine besonders strenge Hierarchie von Freß-, Fortpflanzungs- und Platzvorrechten herrscht unter Krallen-Affen (Callithrix jacchus). Bei ihnen bestreitet nur ein Elternpaar in der Gruppe monogam und majestätisch die Fortpflanzung. Bischofs Zunft nennt diese Ordnung »Aristogamie«. Die Erwachsenen unter den Nachkommen üben keine Sexualität aus, sondern helfen bei der strapaziösen Brutpflege. »Psychische Kastration«, wie die Ethnologen sagen, bewahrt ihnen die Unmündigkeit und verhindert bei den Weibchen sogar über Jahre hinaus den Eisprung.

Erst wenn die Gruppe ihre Normgröße von zehn bis zwölf Mitgliedern zu überschreiten droht, wird nach plötzlich einsetzenden Reibereien mit dem Vater das rangnächste Männchen oder nach programmiertem Ärger mit der Mutter deren älteste Tochter aus dem Revier buchstäblich hinausgebissen. Außerhalb können beide unverzüglich mit einem ebenfalls vertriebenen Schicksalsgenossen vom anderen Geschlecht zur Paarung übergehen.

Weiter noch geht die »psychische Kastration« unter Wanderratten. Bei jungen Männchen, die im Harem eines Ratten-Paschas nur als Eunuchen mitexistieren dürfen, wandern sogar die Hoden in den Leib zurück. Der Lohn für diese offenbar durchaus naturgerechte Triebreduzierung: unangefochtene Verlängerung der Geborgenheit in der Gruppe.

Der Biomathematiker Bischof hat Beispiele dafür gefunden, wie bei allerkleinster Abweichung vom genetischen Plan die Inzuchtsperre sich ins Gegenteil verwandeln kann. Die männlichen Nachkommen der Wespenart Perisierola emigrata beispielsweise schlüpfen flugtüchtig aus ihren Kokons, während ihre Schwestern noch eingesponnen dahindämmern. Statt jedoch von ihrer Startfähigkeit Gebrauch und sich auf und davon zu machen, brechen diese Brüder in die Kokons der Schwestern ein und paaren sich inzestuös mit den noch gar nicht richtig zum Leben Erwachten.

Die Nachteile inzüchtiger Fortpflanzung sind gesellschaftlich und wissenschaftlich reichlich erwiesen: Minderung von Fruchtbarkeit, Lebensdauer, Körpergröße und Widerstandskraft sind die Folgen, wo sie konsequent vollzogen wird. Dunkel bleibt, wie die Kenntnis dieses erst statistisch belegbaren Zusammenhangs von der Natur gewonnen und

folglich in die Basis menschlicher Kultur eingelagert worden sein mag.

Fest steht: Die Inzestschranke war vor und außerhalb der Kultur vorhanden, und sie war überaus nützlich. In die Evolution, in der es zuvor nur die Vermehrung durch Selbstteilung und Selbstbefruchtung gegeben hatte, kam mit der Sexualität eine potenzierte Vielfalt genetischer Variationen, und Inzucht hätte diesen Vorteil wieder zunichte machen können. Also habe die Inzestsperre, folgert Bischof, denselben Sinn »wie die Sexualität überhaupt«.

Ein Ausleseprozeß, der auf diese Art Fortpflanzung dringe, könne nicht »zugleich Verhältnisse zulassen, die zu obligatorischer Inzucht führen«. Was dem Menschen so von Natur aus eingeboren und gerade darum rätselhaft war, wandelte sich, das ist Bischofs Erklärung in Sachen Ödipus, aus einer unbewußten Antriebshemmung um in ein emotionales Tabu, eine Scheu, die abzuschütteln der Mensch sich ermächtigen könne.

So erklärt er die jahrtausendelang praktizierte dynastische Inzucht etwa im alten Ägypten, deren Sinn auch in der Reinhaltung einer vermeintlich übermenschlichen Abstammung lag. König Echnaton war Gatte seiner Töchter, eine davon war die Frau und vermutlich auch noch die Schwester seines Nachfolgers Tutanchamun.

Die kulturelle Abwandlung der Inzest-Bewertung reicht jedoch in verwirrender Vielfalt je nach Kultur, Religion und Zeitalter von der Tötung der Inzest-Täter und ihrer Frucht bis zur milden Mißbilligung oder sogar zur Verklärung des ominösen Aktes. In Wagners »Ring« vermischen Siegmund und seine Schwester Sieglinde ihr Wälsungenblut und zeugen den Siegfried.

Schließlich sei, konstatiert Bischof, die alte Inzest-Bremse, kulturell verfremdet, in allen erdenklichen Heirats-Vorschriften von Kasten, Glaubensgemeinschaften und Rassen wiederzufinden, losgelöst von der genetischen Bedeutung. Auch Sigmund Freuds über den Erdball verbreitete Weisheit über den Ödipus-Komplex stellt letztlich eher eine kulturelle Variation des Inzestthemas als dessen Entschlüsselung dar.

Sorgfältige biologische Forschung, versichert Bischof, verbiete es, die primäre Bindung des Kindes an Vater und Mutter nach Art der Freudianer mit sexuellen Antrieben zu erklären. Was Freud als Inzest-Wunsch deute, sei das aus der animalischen Natur bekannte Verlangen nach Geborgenheit, das bei der Antriebs-Balance Vorrang genieße. Absurd sei es, den Menschenvater zum eifersüchtigen Urheber von etwas auszurufen, was die Natur bei Säugern als Verhaltensregulierung vorprogrammiere: »psychische Kastration«, sprich Triebabschaltung als Preis für verlängerte Geschütztheit und Nähe.

Der dabei erzielte Effekt einer Inzestscheu wäre für die Evolution der

menschlichen Kultur nicht mehr von ausschlaggebendem Belang. Allenfalls durch Denken, nicht mehr durch das Lotteriespiel der Gene könnten die ungeheuer beschleunigten Anpassungsprobleme der Menschheit bewältigt werden.

Entsprechend verblassen die Argumente dafür, Inzest zu ächten und zu ahnden. Norbert Bischof meint, »freien Willens« ausgeübter Inzest, genauer, »die sexuelle Beziehung zwischen primär Vertrauten« dürfte kein Anlaß für »strafrechtliche Maßnahmen« sein. Einen krankhaften Vorgang jedoch sieht er in ihnen - ein Problem der Psychohygiene also und entsprechender Behandlung bedürftig.

Gesetzliche Regelungen hätten sich auf Erwägungen der Erbgesundheit und damit zu begründende Verbote von Verwandten-Ehen zu beschränken. Denn unbestreitbar erhöht die Heirat naher Blutsverwandter das Risiko für die Wiederkehr von Erbkrankheiten.

Jenseits der Zuständigkeiten des Rechtsstaates müsse hingegen davor gewarnt werden, das im Menschen weiter schlummernde Inzest-Tabu »aus grauer Vorzeit« bloß deswegen für unwirksam zu halten, weil es der Verstand für funktionslos erkläre. Eingebettet in Gehirnstrukturen, die sich in einer halben Milliarde von Jahren ausgewachsen haben, seien sie noch lange von Einfluß, »blind und unbelehrbar«. So immerhin gibt es auch für Bischof einen »Ödipus-Komplex«.

Dem von Freud vorgezeichneten aber hat er bei sich selber in rund 400 Stunden einer Psychoanalyse auf Spesen der Deutschen Forschungsgemeinschaft eigens noch einmal nachgespürt und nachgeträumt. Von seinem Zweifel an Freud hat ihn das nicht kuriert. _(SPIEGEL-Titel 52/1984. )

Norbert Bischof: »Das Rätsel Ödipus«. Piper-Verlag, München; 624Seiten; 58 Mark.SPIEGEL-Titel 52/1984.

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