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»Aus Buschhaus nichts gelernt« - DER SPIEGEL
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»Aus Buschhaus nichts gelernt«

Rau und der »größte Stickoxid-Stinker des Landes« *
aus DER SPIEGEL 50/1985

Gerd Wendzinski, dem SPD-Fraktionsvize im Düsseldorfer Landtag, schwant Schlimmes für die bevorstehenden Wahlkampf-Auftritte des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Johannes Rau. Wann immer SPD-Politiker über das Thema Umweltschutz reden, warnte Wendzinski vergangene Woche im Fraktionsvorstand, »werden die Leute 'Ibbenbüren' sagen«.

Ibbenbüren - der Name des ostwestfälischen Städtchens mit dem tiefsten Steinkohle-Bergwerk der Welt (1400 Meter) - steht für den bislang tiefsten Image-Einbruch des SPD-Spitzenmannes. Seit der Ministerpräsident dort am Freitag vorletzter Woche ein Kohlekraftwerk, das Umweltschützer als den »größten Stickoxid-Stinker des Landes« bezeichnen, feierlich eingeweiht und auch noch als Beleg für »Umweltschutz auf dem neuesten technischen Stand« angepriesen hat, ist Rau für viele zu den Öko-Buhmännern der Nation aufgerückt.

»Kohl und Rau machen Wälder grau«, protestierten »Robin Wood«-Mitglieder, die zur Einweihungsfeier verdorrte Fichtennadeln wie Konfetti verstreuten. »Greenpeace« lastet dem Ministerpräsidenten einen »Fehltritt ersten Ranges« an, und die Hamburger »Zeit« urteilte: »Seine Umweltkompetenz ist dahin.«

Während sich die Bonner Regierungsparteien wie auch die Grünen am Donnerstag

letzter Woche in einer Aktuellen Stunde des Bundestages auf den (abwesenden) Ministerpräsidenten einschossen, fragten sich Genossen fassungslos, was ihren Kanzlerkandidaten bloß zu seinem Ibbenbürener Auftritt veranlaßt haben könnte, den Freund wie Feind als Ausdruck von »Kaltschnäuzigkeit« ("Frankfurter Rundschau") empfanden.

Denn mit seiner Präsenz bei der Eröffnungsfeier für das Gemeinschaftskraftwerk von Preussag und RWE (Grünen-Spott: »Rest-Wald-Erlediger") gab Rau zwei Betreibern die Ehre, die eine schier unvorstellbare Menge umweltschädigender Stickoxide (NOx) durch den hohen Schornstein jagen, statt die Abgase wirksam zu entgiften: bei Vollbetrieb je nach Berechnungsart 17000, 26000 oder 32000 Tonnen pro Jahr, jedenfalls mindestens halb so viel Abgase, wie sämtliche bundesdeutschen Autofahrer nach Regierungsangaben vermeiden könnten, wenn Tempo 100 eingeführt würde.

Daß das ähnlich schädliche Schwefeldioxid - anders als im niedersächsischen Kraftwerk Buschhaus - weitgehend herausgefiltert wird, »hilft Rau wenig«, wie die »Süddeutsche Zeitung« kommentierte. Denn aufgrund der Tempo-100-Diskussion sei »zur Zeit eben NOx das aktuelle Gift«. Dies verkannt zu haben deute darauf hin, daß Rau »sämtliche Sensoren abhanden gekommen sind«.

Nach Ansicht von Raus ehemaligem Agrarminister Hans Otto Bäumer ist der Sündenfall von Ibbenbüren gar »schlimmer als dieser geradezu skandalöse Vorgang Buschhaus, weil es sich um eine Wiederholungstat handelt«. Raus Auftritt zugunsten des entschwefelten, aber nicht entstickten RWE/Preussag-Kraftwerks zeige, so Bäumer bitter, »daß man aus Buschhaus nichts gelernt hat«.

Wie die 1978 genehmigte Schwefelschleuder Buschhaus, die das Dreißigfache der bei Neuanlagen zulässigen Giftkonzentration emittieren darf, rangiert der 1980 bewilligte Kraftwerksneubau von Ibbenbüren rechtstechnisch als »Altanlage«. Der mit 770 Megawatt weltgrößte Kohlekraftwerksblock darf daher den letztes Jahr von der Umweltministerkonferenz beschlossenen Stickoxid-Grenzwert für Neuanlagen (200 Milligramm pro Kubikmeter) um mehr als das Zehnfache überschreiten.

Zwar hatten »gute Freunde« dem Ministerpräsidenten, wie er in der Feierstunde verriet, eindringlich empfohlen: »Geh da nicht hin, das macht dein Image kaputt.« Doch Rau, »Image hin oder her«, wollte partout »ja zu Ibbenbüren« sagen, sich vor Ort als guter Kumpel präsentieren und als Retter von 4500 Arbeitsplätzen feiern lassen. Daß es im angeblich, modernsten Kohlekraftwerk der Welt keinerlei Entstickungsanlage gibt, scheint aus seiner Sicht eher ein Schönheitsfehler: »Zugegeben, die NOx-Emissionen sind noch zu hoch.«

Dieser Mangel stellt sich für Rau als zwangsläufige Folge einer Kette von Sachzwängen dar. Als Anfang der siebziger Jahre in der strukturschwachen Region zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge die Stillegung der unrentablen Ibbenbürener Zeche drohte, drängten Bund und Land die Preussag zur Einrichtung eines völlig neuen Bergwerks, 600 Meter unter der damaligen Abbauzone.

Der Absatz der dort, aus den tiefsten Stollen der Erde, geförderten, extrem schwer brennbaren Anthrazit- und Ballastkohle aber konnte nur durch ein neues Kraftwerk garantiert werden, gegen dessen Bau die auf Atomanlagen fixierte Energiewirtschaft sich zunächst jahrelang sträubte.

Als die Landesregierung 1978 der RWE mit finanziellen Zusagen die Bauentscheidung abgerungen hatte, mit der die Existenz von 20000 Menschen gesichert wurde, galten die Düsseldorfer Regierenden in Ibbenbüren als Volkshelden. »Jede andere Entscheidung«, so ein Belegschaftssprecher bei der Einweihungsfeier, »hätte unsere weitere Region zum Armenhaus werden lassen.«

Umweltschutz-Vorkehrungen wurden damals vernachlässigt - obwohl sie gerade für Ibbenbüren notwendig gewesen wären: Die Eigenart der dort geförderten, laut Kumpel-Schnack »feuerfesten« Kohle erforderte den Bau einer sogenannten Schmelzkammerfeuerung mit enorm hohen Betriebstemperaturen (etwa 1600 Grad Celsius) und entsprechend starker Stickoxid-Entwicklung.

Daß die Landesregierung bei der Erteilung der Baugenehmigung im November 1980 keine Entstickungsanlage vorschrieb, versuchen Rau und seine Kabinettskollegen heute mit Unkenntnis zu erklären. Zu jener Zeit seien die Stickoxide als Schadstoffe »überhaupt noch nicht bekannt« gewesen, behauptete letzte Woche auch Ex-Sozialminister und SPD-Fraktionschef Professor Friedhelm Farthmann - ein umweltpolitisches Armutszeugnis sondergleichen.

In Wahrheit hatte bereits 1978 der Bonner Umwelt-Sachverständigenrat in einem damals vielbeachteten Gutachten die »Reduzierung der Stickstoffoxidemissionen« als »dringlich« bezeichnet, »vor allem bei Verbrennungsprozessen«.

Denn bei Stickoxid-Mittelwerten, »wie sie auch in belasteten Gebieten der Bundesrepublik auftreten«, werde eine »erhöhte Häufigkeit von akuten Atemwegserkrankungen beobachtet«, schrieben die Gutachter 1978. Außerdem bewirkten die Stickoxide zusammen mit Schwefeldioxid »Schäden an Pflanzen« (siehe auch Seite 106).

Solche Einsichten hatten die US-Regierung bereits vor 14 Jahren zur Festlegung eines Stickoxid-Grenzwertes für Steinkohlekraftwerke veranlaßt, der schon damals um mehr als 50 Prozent unter den für Ibbenbüren genehmigten Emissionen lag. Japanische Kraftwerke werden ebenfalls seit den siebziger Jahren mit Entstickungsanlagen ausgestattet. Ende letzten Jahres waren dort bereits 160 Kraftwerke mit Katalysatoren ausgerüstet.

Während sich die USA und Japan durch umweltpolitische Vorsorge einen technologischen Vorsprung von mindestens zehn Jahren sicherten, galt in Nordrhein-Westfalen, dem größten

deutschen Kohleland, ökologische Ignoranz geradezu als schick. Die Landesregierung propagierte als Patentlösung eine »Politik der hohen Schornsteine«, die den Dreck fein über ferne Wälder verteilte. Die Schwerindustrie bestritt jeglichen Zusammenhang zwischen Emissionen und Umweltschäden. Und die industriefromme IG Bergbau gab die Parole aus: »In Kraftwerkskaminen kann kein Blumenkohl gezüchtet werden.«

Derweil versäumte es die NRW-Regierung, auf die Entwicklung spezieller Entstickungstechniken für Kraftwerke mit Schmelzkammerfeuerungen zu drängen, die in der Bundesrepublik vorherrschen - anders als in Japan, das leichter zu entstickende Öl- und Gas-Kraftwerke sowie sogenannte Trockenfeuerungen betreibt, in denen Kohle bei vergleichsweise niedrigen Temperaturen verstromt wird. Folge: Die japanischen Katalysatoren sind in Anlagen wie in Ibbenbüren nicht ohne weiteres einsetzbar.

»Wenn der Wald kaputtgeht, und es werden die Schuldigen gesucht«, kommentiert der frühere Landwirtschaftsminister Bäumer die unwelt- und technologiepolitischen Versäumnisse der NRW-Regierung, »sehen wir Nordrhein-Westfalen traurig aus.«

Zwar erklärte Rau letzte Woche, nach bundesweiten Protesten, er habe sich mit den Betreibern nun auf eine Drosselung des Kraftwerkbetriebs und einen beschleunigten Einbau von Entstickungsanlagen geeinigt. Doch das Mammut-Kraftwerk ist so wenig umweltfreundlich konzipiert, daß Nachbesserungen, wenn überhaupt, nur schwer realisierbar sind.

Zwar läßt sich in Kohlekraftwerken im Prinzip schon durch spezielle Feuerungstechniken ("Primärmaßnahmen") der Stickoxid-Ausstoß mindern. Bei entsprechenden Versuchen aber hat es im Mammutkraftwerk Ibbenbüren, wie RWE-Vorstandsmitglied Franz Josef Spalthoff sagt, »unvorhergesehene Schwierigkeiten« gegeben: »Eine weitere Verringerung der Stickoxid-Emissionen durch feuerungstechnische Maßnahmen ist bei der Ibbenbürener Anlage nicht möglich.«

Bliebe die - von Rau favorisierte - Chance, das Kraftwerk mit Hilfe sogenannter Sekundärmaßnahmen, dem Einbau von Katalysatoren, nachzubessern. Doch dieses Verfahren ist aus Sicht der RWE »noch nicht Stand der Technik«. Ingenieur Spalthoff vermochte bei der Einweihung nicht einmal zu sagen, »ob wir überhaupt einen Katalysator einsetzen können«.

Die Bonner Grünen sind bei alledem der Ansicht, daß das gerade feierlich eröffnete Kraftwerk schleunigst stillgelegt werden müßte - jedenfalls so lange, bis eine funktionierende Entstickungstechnik entwickelt ist; die Kohle aus Ibbenbüren sollte derweil (anstelle südafrikanischer Importkohle) in umweltfreundlicheren Kraftwerken verfeuert werden. Rau freilich mag sich zu einem solchen Eingeständnis umweltpolitischer Unfähigkeit nicht bereit finden.

Der Kanzlerkandidat hofft offenbar, daß sein Ibbenbürener Auftritt wenigstens auf einen Teil jener Arbeitnehmer Eindruck macht, die bislang die Union gewählt haben, weil ihnen die SPD als zu grünenfreundlich erschien. Johannes Rau, sagt ein Düsseldorfer SPD-Vorstandsmitglied, habe nun »klargemacht, für was er steht und welch große Bedeutung Arbeitsplätze für ihn haben«.

Rau selber hatte schon vor ein paar Wochen erklärt, der Wähler wünsche sich gar keine perfekten Politiker: »Zum Bild, das es von mir gibt, gehört es auch, daß ich mal Bockmist mache.«

Denkbar ist allerdings, daß Rau mit noch mehr umweltpolitischem Bockmist die Geduld ökologisch orientierter Genossen überfordert - mit dramatischen Folgen bei der nächsten Wahl.

Schon 1979 war der damalige Agrar- und Umweltminister Diether Deneke aus dem NRW-Kabinett zurückgetreten, weil Rau auf dem Bau einer Autobahn durch das Rothaargebirge bestanden hatte. 1983 legte Hans Otto Bäumer ebenfalls wegen umweltpolitischer Differenzen mit Rau sein Ministeramt nieder.

Bäumers Nachfolger Klaus Matthiesen, der Raus Gang nach Ibbenbüren letzte Woche im nachhinein verteidigte, hatte ihm zuvor vertraulich von der Reise abgeraten - vergebens.

Noch einmal, so scheint es, wird Matthiesen kaum zurückstecken. Der nächste Konflikt ist schon programmiert: Wenn in Kalkar der Schnelle Brüter ans Netz geht, muß Rau mit dem Rücktritt des SPD-Linken rechnen - der Ministerpräsident hätte dann, binnen sieben Jahren, drei Umweltminister verschlissen.

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