(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Rauch im Kanister - DER SPIEGEL
Zum Inhalt springen
Zur Ausgabe
Artikel 55 / 80

US-JUSTIZ Rauch im Kanister

Die US-Justizbehörden sichern aussagewilligen Kriminellen Straffreiheit und anschließenden Schutz vor Racheakten zu. *
aus DER SPIEGEL 50/1985

Zu der schwerbewaffneten Schutztruppe gehörten 13 Mann, ein Sprengstoff-Hund und fünf Wagenladungen mit elektronischen Apparaturen - Fernsehkameras, Monitore und Alarmanlagen.

Als Spezialfahrzeug stand zudem ein gepanzerter Ford LTD mit schußsicheren Reifen bereit. Das Auto war mit Kanistern beladen, deren Inhalt sich vom Wageninneren aus entleeren ließ: künstlicher Rauch, um Verfolger oder Heckenschützen zu verwirren.

Aufgebot und Ausrüstung galten einem Berufsverbrecher, der in seiner 20jährigen Laufbahn 40mal festgenommen worden war und sich jetzt wegen 76fachen Einbruchs vor Gericht verantworten sollte.

Doch das Verfahren gegen Salvatore Romano ist nicht eröffnet worden. Der Mann dieses Namens existiert nicht mehr: Er bekam neue Papiere, darunter Geburtsschein und Abschlußzeugnis, ausgestellt auf seine neue Identität. Der Staat sorgt für seinen Lebensunterhalt und sichert sein Leben - mehrere Leibwächter schützen ihn Tag und Nacht.

Romano weiß nämlich zuviel. So viel, daß ihn seine ehemaligen Kollegen aus der Unterwelt auf die Abschußliste gesetzt haben, als ihnen klar wurde, daß Romano ins andere Lager wechseln würde. Er hatte dem FBI den entscheidenden Tip über einen geplanten riesigen Juwelenraub gegeben.

Dann bot er sich der US-Justiz als Kronzeuge an und erhielt als Dank die Zusicherung, für seine Unversehrtheit werde künftig gesorgt.

Romano ist einer von Amerikas geschützten Zeugen, von deren Erfahrungen und Einsichten in die Unterwelt US-Staatsanwälte abhängig sind, wenn sie Prozesse mit schwieriger Beweislage gewinnen wollen. Vor allem in jetzt anstehenden Verfahren gegen Mafiosi stützen sich die Staatsanwälte auf solche »Kronzeugen«.

»Man bekommt keine Aussage von Zeugen, die wissen, daß sie getötet werden, wenn sie erst einmal den Gerichtssaal verlassen«, sagt Gerald Shur, Direktor in jener Abteilung des Justizministeriums, die über die künftigen Kronzeugen entscheidet.

Das staatliche »Zeugenschutz-Programm« war 1970 im Zuge der Gesetzgebung gegen das organisierte Verbrechertum gestartet worden. Seither ist der US-Justizminister berechtigt, Zeugen, die wegen ihrer Aussagen Racheaktionen durch den Angeklagten oder dessen Komplicen befürchten müssen, »Gesundheit, Sicherheit und Wohlergehen« zu garantieren.

Im Gegensatz zum amerikanischen schützt das deutsche Recht einen Kriminellen, der die eigenen Kumpane verpfeift, weder vor Strafe noch vor Rache. Lediglich im Staatsschutzbereich, bei Landesverrat oder der Verfolgung terroristischer Vereinigungen, darf der Generalbundesanwalt »tätige Reue« honorieren: Verfahren gegen Täter, die sich nach der Tat zum Wohle der Republik offenbart haben, können eingestellt werden, wenn das Gericht zustimmt.

Im Gerichtssaal darf der Vorsitzende einem gefährdeten Zeugen erlauben, seinen Wohnort zu verschweigen. Ausnahmsweise, falls einem Zeugen Lebensgefahr droht, bleibt auch dessen Name geheim. Und in besonders heiklen Fällen wird der Zeuge gegenüber Angeklagten und deren Verteidigern auch visuell abgeschirmt, mal tritt er gar lediglich akustisch auf - als Geisterstimme aus einem Raum neben dem Verhandlungssaal.

Neue Lebensgeschichten, eine andere Identität haben hilfreiche Zeugen bisweilen auch in der Bundesrepublik erhalten. Doch mit dieser Praxis sind weder Staatsanwälte noch Richter befaßt. Die Legenden besorgt das Bundeskriminalamt, der Verfassungsschutz oder - in Spionagefällen - der Bundesnachrichtendienst.

In den USA ist für den Schutz der Zeugen der dem Justizminister unterstellte U.S. Marshals Service (USMS) verantwortlich. Zu dieser Polizeiexekutivbehörde, 1789 vom ersten Präsidenten, George Washington, gegründet, gehören derzeit 93 Marshals und deren rund 2000 Hilfsmarshals (Deputies).

Sie präsentieren staatliche Haft- und Untersuchungsbefehle, sichern Gerichtssäle, inspizieren Gefängnisse, transportieren Angeklagte, wie den inzwischen ausgereisten Bhagwan, zu verschiedenen Gerichtsorten. Sie jagen von Interpol gesuchte Verbrecher und werden als Leibwächter von Richtern, Staatsanwälten und Zeugen vor und während der Verhandlungen eingesetzt.

Mit jährlich etwa 30 bis 50 gefährdeten Kronzeugen hatten die Behörden zu Beginn des Zeugenschutz-Programms gerechnet. Die Erwartungen wurden weit übertroffen. Mitte der 70er Jahre, während der ersten Welle von Gerichtsprozessen gegen die Mafia, wurden bis zu 450 neue Kronzeugen pro Jahr der Obhut des USMS unterstellt.

Zu den wichtigsten Vorkehrungen der Marshals gehört es, die Zeugen, von denen 95 Prozent vorbestraft sind, möglichen Rächern zu entziehen. Die Kronzeugen wählen sich neue Namen, die von den Marshals genehmigt werden müssen, erhalten die entsprechenden Papiere

und werden dann in einer neuen Umwelt einquartiert, meist weit entfernt von ihrem bisherigen Wohnort und Aktionsgebiet.

Um den geschützten Zeugen Starthilfe zu geben, helfen die Marshals bei der Arbeitsvermittlung. Sie arbeiten mit rund 150 US-Unternehmen zusammen, deren Personalmanagern sie zwar wahrheitsgemäß mitteilen, der Jobsuchende sei ein ehemaliger Gesetzesbrecher. Über dessen Vergehen und wahren Namen jedoch geben die Marshals keine Auskunft. Zeugen ohne Arbeit erhalten eine monatliche Unterstützung: 1000 Dollar für Alleinstehende, 2800 für Ex-Gangster mit Familie.

Anfang Oktober dieses Jahres lebten in den USA insgesamt 4717 Kronzeugen nebst einer nicht genannten Anzahl von Familienmitgliedern. Sie alle stehen unter dem Schutz der Marshals. Jährliche Gesamtkosten des Programms: 30,9 Millionen Dollar.

Nach Ansicht der Justizbehörden lohnt sich solcher Aufwand, ohne den viele Mafia-Mitglieder nie hätten verurteilt werden können, wie etwa Frank Tieri, der verstorbene New Yorker Boß, der durch die Aussage seines Ex-Kollegen Aladena Fratianno ("Jimmy, das Wiesel") überführt wurde.

Gerechtfertigt scheint das Zeugenschutz-Programm auch angesichts der Tatsache, daß Tausende von Amerikanern jedes Jahr aus Furcht vor Vergeltung die Aussage verweigern.

Daß die aussagebereiten Zeugen ohne den Schutz der Marshals tatsächlich gefährdet sind, belegt eine neue Untersuchung aus dem New Yorker Stadtteil Brooklyn, wo im Laufe eines Jahres 109 potentielle Zeugen von Erpressungsversuchen durch Angeklagte berichteten. Bei nahezu jedem vierten wurden die Drohungen wahr gemacht. Und in Florida ist nach Schätzung der Justizbehörden jeder dritte Zeuge, der in einem Drogenprozeß ausgesagt hatte, verschwunden oder gar ermordet aufgefunden worden.

Unumstritten ist das Hilfsprogramm für die Ankläger freilich nicht. Immerhin sind die geschützten Zeugen ehemalige Verbrecher, die sich oft einem Gerichtsverfahren durch ihre Aussagebereitschaft entziehen. Nach Namens- und Wohnortwechsel können bisweilen Dritte ihre Ansprüche nicht mehr einklagen.

Nicht selten tauchen Kronzeugen nach ihrer Umquartierung und Umbenennung nochmals im Untergrund unter. Sie lassen ihre Familien im Stich; was von ihnen bleibt, sind häufig beträchtliche Schulden. Die Aufsichtsbehörde der US-Regierung entdeckte überdies, daß 23 Prozent der Marshal-Schützlinge rück- und straffällig werden.

Der einstige Karriere-Kriminelle Salvatore Romano (USMS-Zeugennummer WC 3668) hat sich bislang tadellos verhalten. Er wird von den Marshals besonders aufmerksam beschattet. In bisher drei Prozessen haben Romanos Aussagen die Verurteilung von angeklagten Mafiosi ermöglicht.

Romanos großer Auftritt steht allerdings noch bevor: Am 14. Januar nächsten Jahres beginnt das Verfahren gegen den vermeintlichen Unterweltboß von Las Vegas, Tony Spilotro. Ihm werden insgesamt elf Vergehen, darunter drei Morde, vorgeworfen. Von Romanos Aussage hängt es ab, ob Spilotro die mögliche Höchststrafe bekommt: 112 Jahre Gefängnis. _(Rechts: Hollywood-Star Dean Martin. )

Rechts: Hollywood-Star Dean Martin.

Zur Ausgabe
Artikel 55 / 80