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»Ich spielte auf Zeit« - DER SPIEGEL
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Artikel 52 / 94

»Ich spielte auf Zeit«

Henry Kissingers Memoiren (II): Nahostkrieg 1973 - Drohungen und Diplomatie hinter den Kulissen 1982 Henry A. Kissinger.
aus DER SPIEGEL 10/1982

Es war 6.15 Uhr am Samstag, dem 6. Oktober 1973; ich schlief noch fest in meiner Suite in den New Yorker Waldorf Towers, wo ich mich für die Dauer der Jahressitzung der Uno-Vollversammlung einquartiert hatte.

Plötzlich stürmte Joseph J. Sisco, der energiegeladene Unterstaatssekretär für den Nahen Osten und Südasien, in mein Schlafzimmer. Während ich noch mit meiner Müdigkeit kämpfte, rief er mir mit rauher, lauter Stimme zu, jeden Augenblick könne ein Krieg zwischen Israel und seinen beiden arabischen Nachbarn Ägypten und Syrien ausbrechen.

Er sei allerdings zuversichtlich, daß alles nur ein Versehen sei und beide Seiten die Absichten der jeweils anderen mißverstanden hätten. Wenn ich sie unverzüglich und energisch zurechtwiese, könnte ich den Konflikt unter Kontrolle bringen, noch bevor die ersten Schüsse fielen. Das war zwar sehr schmeichelhaft, aber leider ein Irrtum. 90 Minuten nachdem Sisco mich geweckt hatte, war es aus mit der Ruhe im Nahen Osten.

Sisco war von einer dringenden Depesche unseres Botschafters in Israel, des ehemaligen Senators Kenneth Keating, aufgeschreckt worden, der zwei Stunden zuvor von der israelischen Premierministerin Golda Meir in deren Jerusalemer Büro zitiert worden war.

»Wir könnten Schwierigkeiten bekommen«, hatte sie Keating erklärt. Ägyptische und syrische Truppenbewegungen, die von Israel und den Vereinigten Staaten bis dahin als Manöver interpretiert worden waren, hätten plötzlich bedrohliche Formen angenommen. Die Israelis seien überzeugt, am Spätnachmittag werde eine koordinierte ägyptisch-syrische Offensive beginnen.

Ob die Vereinigten Staaten bitte sofort die Sowjet-Union und Israels arabische Nachbarn unterrichten würden, daß Israel nicht die Absicht habe, Ägypten oder Syrien anzugreifen? Als Keating fragte, ob Israel beabsichtige, den Arabern mit einem Präventivschlag zuvorzukommen, betonte Golda noch einmal entschieden, Israel wolle Blutvergießen vermeiden und werde unter keinen Umständen Feindseligkeiten beginnen.

Wenn sich die Araber wirklich zum Angriff entschlossen hatten, dann, soviel wußte ich, konnte man mit diplomatischen Schritten nichts mehr ausrichten. Aber ich stand immer noch unter dem Eindruck der wiederholten israelischen, von unserer Botschaft bestätigten Berichte, wonach ein solcher Angriff praktisch unmöglich war.

Deshalb stürzte ich mich in eine geradezu hektische diplomatische Aktivität, um einen Zusammenstoß abzuwenden, denn ich war mir fast sicher, daß das Vorgehen Ägyptens und Syriens auf eine Fehlinterpretation israelischer Absichten zurückzuführen war.

Um 6.40 Uhr rief ich den sowjetischen Botschafter in Washington, Anatolij Dobrynin, an. Auch er mußte aus dem Bett geholt werden und war zunächst verschlafen und verwirrt (oder tat zumindest so). Ich bat ihn, Moskau sowie Kairo und Damaskus unverzüglich davon zu unterrichten, daß Israel uns mitgeteilt hätte, es habe nicht die Absicht, offensive Maßnahmen zu ergreifen.

Zunächst behauptete Dobrynin, es müsse sich um ein israelisches Manöver zur Rechtfertigung eines Präventivschlages handeln. Ich erwiderte, mein Anruf diene gerade dem Zweck, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Mit diplomatischer Pedanterie wollte er nun wissen, wer wem etwas mitzuteilen habe. War es eine Zusicherung Israels an die arabischen Länder oder der Vereinigten Staaten an die Sowjet-Union? Ich fiel ihm ungeduldig ins Wort: »Wenn das so weitergeht, fängt der Krieg an, bevor Sie begriffen haben, was ich Ihnen sagen will.«

Aber Dobrynin fand sofort einen weiteren Vorwand, die Angelegenheit zu verzögern. Er bezweifelte, daß er Moskau schnell genug erreichen könne. Ich bot ihm an, den »heißen Draht« zwischen Washington und Moskau zu benutzen; er ließ durchblicken, die sowjetische Empfangsstelle sei zu weit vom Außenministerium entfernt. (Welchen Sinn, fragte ich mich, hätte eine solche Direktverbindung bei einer Krise zwischen den Großmächten?) Schließlich stellte ich Dobrynin die Telephonvermittlung des Weißen Hauses zur Verfügung, wofür er sich mit einigen freundlichen Worten bedankte.

Das war natürlich Spiegelfechterei. Dobrynin verfügte über ausgezeichnete Nachrichtenverbindungen. Er konnte innerhalb weniger Minuten eine Antwort aus Moskau bekommen (was er zu einem späteren Zeitpunkt der Krise auch bewies). Heute nehme ich an, daß er sich ein Alibi gegen den Verdacht zu verschaffen suchte, die Sowjet-Union stecke mit ihren arabischen Freunden unter einer Decke: Er wollte die offene Postleitung benutzen, von der er annahm, daß sie abgehört würde.

Um 6.55 Uhr rief ich den israelischen Geschäftsträger Mordechai Schalev an S.147 und teilte ihm mit, ich hätte die Sowjets von Goldas Zusicherung unterrichtet, Israel werde keinen Präventivschlag führen. Er möge dies nach Jerusalem weitergeben, verbunden mit meiner persönlichen Bitte, nichts Unüberlegtes zu tun.

Um 7.00 Uhr rief ich den ägyptischen Außenminister Mohammed el-Sajjat an, der an der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York teilnahm. Um Zeit zu sparen und auf lange Erklärungen verzichten zu können, las ich ihm die israelische Mitteilung im Wortlaut vor und erklärte ihm, wir würden uns für die Zusage Israels verbürgen.

Als nächsten versuchte ich den stellvertretenden syrischen Außenminister, Mohammed Sakaria Ismail, zu erreichen, der sich ebenfalls in New York aufhielt; aber in der syrischen Uno-Botschaft ging niemand ans Telephon.

Um 7.47 Uhr setzte ich mich noch einmal mit Dobrynin in Verbindung und bat ihn, uns bei der Kontaktaufnahme mit den Syrern zu helfen. Wir hätten »keine faulen Tricks« im Sinn, erklärte ich ihm, sondern würden Moskau vom Inhalt unserer Gespräche mit den Beteiligten unterrichten.

Unterdessen hatte ich meinen Stellvertreter beim Nationalen Sicherheitsrat, General Brent Scowcroft, angewiesen, in meiner Abwesenheit für 9.00 Uhr eine Sitzung der Washington Special Actions Group (WSAG) einzuberufen, um den anderen Mitgliedern der Regierung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Um 8.15 Uhr übermittelte mir Sajjat die Antwort aus Kairo: Er behauptete, Israel habe die Araber »provoziert«. Israelische Flotteneinheiten hätten, von Kampfflugzeugen unterstützt, ägyptische Stellungen im Golf von Suez angegriffen. Der Angriff sei abgewehrt, ein Kommunique veröffentlicht worden.

Das war einfach lächerlich. Es war unwahrscheinlich, daß Israel eine den Vereinigten Staaten erst wenige Stunden zuvor gemachte Zusage brechen würde; es war unvorstellbar, daß Israel ausgerechnet an seinem heiligsten Feiertag Jom Kippur, dem Tag des Versöhnungsfestes, einen Krieg beginnen würde; es war untypisch für Israel, ohne vorherige Mobilmachung loszuschlagen; und es machte absolut keinen Sinn für Israel, Feindseligkeiten ausgerechnet mit einer Flottenoperation weit außerhalb der eigenen Grenzen zu eröffnen.

In sehr kühlem Ton bedeutete ich Sajjat, ich hoffte, Ägypten werde seine militärische »Reaktion« auf den Raum beschränken, wo der »Angriff« stattgefunden habe. Ich würde sofort versuchen, die Lage zu klären.

Um 8.25 Uhr rief ich den israelischen Außenminister Abba Eban an, der sich ebenfalls in New York aufhielt, und berichtete ihm, was mir Sajjat über einen angeblichen israelischen Angriff im Golf von Suez mitgeteilt hatte.

Auch Eban hielt eine solche Aktion an Israels heiligstem Feiertag für ausgeschlossen; er wollte sich aber sofort in Jerusalem erkundigen.

Um 8.29 Uhr rief mich Schalev aus Washington an und teilte mir mit, er habe aus Israel erfahren, daß ägyptische und syrische Flugzeuge seit einer halben Stunde an allen Fronten angriffen. Über eventuelle Bodenoperationen hatte er noch keine Nachrichten; von Israels angeblichem »Angriff zur See« wußte er nichts.

Um 8.30 Uhr schickte ich Blitztelegramme an die Könige von Jordanien und Saudi-Arabien und forderte sie auf, alles zu tun, um den Ausbruch von Feindseligkeiten zu verhindern. Ich hatte nur noch wenig Hoffnung. Wenn der Angriff von langer Hand vorbereitet war, dann konnten auch diese beiden gemäßigten arabischen Staaten ihn nicht mehr aufhalten. Und wenn ein Mißverständnis vorlag, dann konnten sie es auch nicht aufklären. Ihre am späten Abend eintreffenden Antworten machten deutlich, daß sie nur Zuschauer waren.

Um 8.35 Uhr rief ich Alexander Haig, den Stabschef des Präsidenten, an, der S.150 mit Nixon in Key Biscayne, Florida, war, und bat ihn, dem Präsidenten mitzuteilen, daß der Krieg augenscheinlich begonnen habe. Haig und ich tauschten Vermutungen über die Rolle der Sowjet-Union aus, kamen aber zu keinem Schluß. Meine Überlegung war, daß die Sowjets möglicherweise Ägypten empfohlen hatten, ein bißchen Unruhe zu stiften, um so diplomatische Aktivitäten auszulösen, und daß »diese Wahnsinnigen ein bißchen zuviel angerührt haben«.

Um 8.40 Uhr rief ich Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim an und gab ihm einen kurzen Überblick über das, was ich wußte. Er konnte zwar die jetzt laufenden konkreten Gespräche nicht beeinflussen, war aber wohlgesonnen und konnte bei Verfahrensfragen nützlich sein, indem er zum Beispiel, wenn nötig, die Sitzungen des Sicherheitsrats oder der Vollversammlung verzögerte oder beschleunigte.

Und er war eine große Klatschbase. Man durfte sich darauf verlassen, daß er Dinge äußern würde, die man selbst sich zu sagen scheute - versteckte Drohungen oder Kompromißvorschläge, die zu delikat waren, als daß man sie selbst hätte vorlegen können.

Jetzt kam es mir vor allem darauf an, daß er half, die Furcht vor einem israelischen Präventivschlag zu zerstreuen. Ich bat ihn dringend, beschwichtigend auf die Syrer, mit denen wir immer noch keinen Kontakt bekommen hatten, und auf die Ägypter einzuwirken.

Meine nächste Aufgabe war es, Scowcroft Anweisungen für die WSAG-Sitzung zu geben. Wenn dies der Beginn eines regelrechten Krieges war (wir waren uns dessen immer noch nicht sicher), dann standen wir vor zwei Problemen: Was sollten wir tun, und was sollten wir sagen?

Ich rechnete ebenso wie jedermann sonst auch mit einem raschen israelischen Sieg. Aber die Geschichte hatte uns gelehrt, daß sich jeder Nahostkrieg mit der Zeit zu einer internationalen Krise ausweitet.

Von New York aus bat ich Scowcroft, bis zum Mittag zunächst einen Plan für die Verlegung der überall zwischen spanischen und griechischen Häfen verstreuten 6. US-Flotte ins östliche Mittelmeer auszuarbeiten. Zweitens sollten für den Notfall Pläne zur Verstärkung unserer Mittelmeerflotte vorbereitet werden. Bodentruppen sollten nicht verlegt, aber unsere Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt werden.

Um 9.00 Uhr teilte mir Schalev in einem dringenden Telephongespräch mit, daß ägyptische Streitkräfte versuchten, den Suezkanal zu überschreiten. Der Bericht über eine Seeschlacht sei ein ägyptisches »Täuschungsmanöver«.

Um 9.07 Uhr meldete sich Eban und teilte mir dasselbe mit. Daß er sich verhältnismäßig spät meldete, machte er durch seine Beredsamkeit wieder wett: »Die Premierministerin hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, daß der Bericht über eine Aktion unserer Seestreitkräfte im Golf von Suez falsch ist. Sie verfügt über einen sehr großen hebräischen Wortschatz und hat reichlich davon Gebrauch gemacht.«

Um 9.20 Uhr stand nach meiner Meinung außer Zweifel, was geschehen war. Ich erklärte Dobrynin, Ägypten und Syrien hätten einen Überraschungsangriff geführt. Als Dobrynin erwiderte, Sajjat behaupte das Gegenteil, entgegnete ich scharf: »Sie und ich wissen, daß das Unsinn ist. Wenn sie (die Israelis) angreifen wollen, dann bestimmt nicht im Golf von Suez ... Wie kommt es, daß Syrer und Ägypter auf die Minute genau zur selben Zeit an der ganzen Front vorgehen, wenn alles mit einer israelischen Flottenoperation begonnen hat?«

Ich warnte Dobrynin, daß alles, was wir in den Ost-West-Beziehungen erreicht hatten, gefährdet wäre, wenn der Nahe Osten außer Kontrolle geriete.

Es war der Anfang eines langwierigen Duells zwischen Washington und Moskau, bei dem jede Seite ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit beschwor und zugleich versuchte, die Gegenseite zu schwächen, ohne daß es zur offenen Konfrontation kam.

Das größte Rätsel waren die Absichten der Sowjets. Hatten sie gewußt, daß ein Krieg unmittelbar bevorstand? Würden sie mit Waffenlieferungen und diplomatischer Unterstützung zu einer Fortsetzung des Krieges ermuntern? Oder würden sie mit uns zusammenarbeiten, um den Krieg zu beenden?

Wir wissen bis heute nicht, wieweit die Sowjets in die arabischen Pläne eingeweiht waren oder ob sie die Araber zu diesem Krieg ermutigt haben. Ohne Zweifel haben die Sowjets spätestens am Abend des 3. Oktober erkannt, daß ein Krieg bevorstand, denn an jenem Tag war ihr Botschafter in Kairo offiziell unterrichtet worden. Und sie reagierten sofort mit einer Evakuierung der sowjetischen Zivilisten.

Am 5. Oktober liefen sowjetische Flotteneinheiten aus Alexandria und Port Said aus. Rechneten die Sowjets damit, daß wir die Signale verstanden? Versäumten wir, die richtigen Fragen zu stellen? Wollten sie uns auf diese Weise warnen, ohne ihre Verbündeten zu verraten, oder waren es nur Vorsichtsmaßnahmen?

Am 6. Oktober jedenfalls war ich mir noch nicht klar darüber, ob die Sowjet-Union schon vorher etwas gewußt hatte. Wohl aber stand für mich außer Zweifel, was hier geopolitisch auf dem Spiel stand. Etwa 90 Minuten nachdem wir S.152 vom Ausbruch der Feindseligkeiten erfahren hatten und noch fest mit einem raschen Sieg Israels rechneten, sagte ich Haig, er möge Nixon »olgendes ausrichten: Ich glaube, das Schlimmste, was wir tun » » könnten, wäre, solange die Kämpfe dauern, eine neutrale » » Haltung einzunehmen, es sei denn, die Sowjets nehmen auch uns » » gegenüber eine neutrale Haltung ein ... Wenn sich die Sowjets » » eindeutig auf die andere Seite stellen, dann wissen wir, daß » » es sich um einen schlimmen Fall von Kumpanei handelt, und ... » » müssen knallhart bleiben. »

Ich empfahl dem Präsidenten, wir sollten versuchen, die Sowjets im Rahmen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu einem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen. Das würde sie daran hindern, uns mit eigenen Vorschlägen zu belästigen, und könnte möglicherweise Moskau von seinen arabischen Schützlingen abspalten.

Nach meinem Plan sollten die beiden Supermächte nicht die Schuldfrage diskutieren, sondern eine sofortige Rückkehr auf die Linien verlangen, an denen der Konflikt begonnen hatte. Wenn die Sowjets dem zustimmten und die Araber sich das gefallen ließen, dann war der Konflikt beigelegt. Was wir dabei an Einfluß in der arabischen Welt verloren, würde durch entsprechende sowjetische Verluste ausgeglichen, denn die Araber würden ebenso wie 1972 den Eindruck gewinnen, daß die Sowjets den Beziehungen zu Washington den Vorrang geben.

Wenn die Sowjets den Plan ablehnten, was wahrscheinlich war, hätten wir Zeit gewonnen, die Israel brauchte, um den Status quo ante mit militärischen Mitteln wiederherzustellen. Wenn das gelungen war, würden wir uns mit einem einfachen Waffenstillstand einverstanden erklären und verlangen, daß Israel seine Truppen hinter die Vorkriegsgrenzen zurückzog, sofern es sie überschritten hatte.

Ich verlor keine Zeit und legte Dobrynin unseren Vorschlag am 6. Oktober um 9.35 Uhr vor. Wenn die Sowjets unbedacht reagierten, warnte ich, dann hätten wir keine andere Wahl, als den Dingen ihren Lauf zu lassen. Das heißt, wir würden ganz einfach den unvermeidlichen Sieg der Israelis abwarten. »Das«, fügte ich warnend hinzu, »wird auf unsere Beziehungen nicht ohne Einfluß bleiben.« Ich erklärte Dobrynin, wir würden im Sicherheitsrat nichts unternehmen, bevor Moskau unseren Vorschlag beantwortet hätte, und gab der Hoffnung Ausdruck, daß auch Moskau nicht einseitig vorgehen werde.

Dobrynin reagierte kühl und sachlich. Die Sowjet-Union, gestand er, habe für unsere Haltung sehr viel Verständnis.

Uns kam es jetzt vor allem darauf an, Zeit zu gewinnen. Was die Zukunft auch bringen mochte, Amerikas Handlungsspielraum würde sich nach der israelischen Mobilmachung (die in zwei Tagen abgeschlossen sein würde) vergrößern.

Wir befanden uns jetzt in einer günstigen Lage. Wenn die Sowjets auf den Köder eines gemeinsamen Vorgehens anbissen, erklärte ich Haig wenig später, dann werde der Krieg schnell vorüber sein. Wenn sie sich weigerten, dann sollten die Israelis die Araber »ein oder zwei Tage lang verprügeln, und das wird sie zur Vernunft bringen ... Wir sollten in der Sache hart bleiben, aber keine dramatischen Schritte unternehmen.«

Diese selbstgefällige Analyse hatte nur einen Fehler: Die Israelis brauchten weit mehr als zwei Tage, um die militärische Lage unter Kontrolle zu bekommen, und bevor ihnen das gelang, gerieten sie an den Rand der Katastrophe.

Um 14.30 Uhr flog ich von New York nach Washington. Während ich im Flugzeug saß, übergab Dobrynin im Weißen Haus die erste Mitteilung Moskaus seit Beginn der Feindseligkeiten. Es war ein »inhaltemanöver: Die sowjetische Führung hat vom Beginn der » » militärischen Operation im Nahen Osten zur gleichen Zeit » » erfahren wie Sie. Wir unternehmen alles, um uns Klarheit über » » die wirkliche Situation in jenem Gebiet zu verschaffen, denn » » die Nachrichten von dort sind widersprüchlich. Wir teilen » » vollkommen Ihre Besorgnis über die explosive Situation im » » Nahen Osten. Wir haben schon in der Vergangenheit wiederholt » » auf die gefährliche Lage in diesem Gebiet hingewiesen. Wir » » überlegen nun, ebenso wie Sie, welche Schritte unternommen » » werden können. Wir hoffen, bald wieder Kontakt mit Ihnen » » aufnehmen zu können, um unsere Positionen nach Möglichkeit zu » » koordinieren. »

Diese sowjetische Verzögerungstaktik paßte gut in unsere Strategie, erst einmal S.154 abzuwarten, bis Israel die militärische Lage unter Kontrolle bekam. Solange die Sowjets von Koordinierung sprachen, mußten wir nicht befürchten, daß sie uns in den Vereinten Nationen angriffen. Dennoch hielt ich es für das beste, sie auch weiterhin unter Druck zu setzen.

In Washington angekommen, gab ich Dobrynin meine Beurteilung der sowjetischen Note: »Anatol, ich habe Ihre Note erhalten. Ich kann nicht gerade sagen, daß sie ein Muster an Klarheit ist. Sie besagt entweder, daß Sie verwirrt sind oder daß Sie mit ihnen zusammenarbeiten.«

Dobrynin protestierte wortreich, Moskau brauchte nur noch ein paar Stunden, um seinen Kurs abzustecken; in diesem Augenblick berate man darüber.

Als die sowjetische Antwort schließlich gegen 18.00 Uhr eintraf, erkannte ich, daß sie lediglich ein weiteres Verzögerungsmanöver war: Moskau habe immer noch nichts von den Arabern gehört und könne daher auch nicht auf unseren Vorschlag eingehen.

Keine Seite habe bisher den Sicherheitsrat angerufen; die Sowjet-Union würde sich nur selbst in eine peinliche Lage bringen, wenn sie unter diesen Voraussetzungen eine Abstimmung im Sicherheitsrat verlangte. Ebenso wie alle anderen warteten die Sowjets ab, wie sich die militärische Lage entwickelte.

Um 19.20 Uhr erläuterte ich Dobrynin noch einmal die Alternativen. Wir verlangten kein besonderes Entgegenkommen, denn die Zeit »rbeitete für uns: Nach unserer Lagebeurteilung ist der Angriff d"r » Araber zum Stillstand gebracht worden. Jetzt werden sie zum » » Rückzug gezwungen werden, und dieser Vorgang wird sich noch » » beschleunigen, wenn die (israelische) Mobilmachung » » abgeschlossen ist ... Und dann werden wir das gleiche » » erleben, was wir schon früher erlebt haben. »

Dobrynin wiederholte die Besorgnisse Moskaus: »Wie ich unsere Lage sehe, stehen wir jetzt vor dem Problem, daß die Araber versuchen, die von Israel besetzten Gebiete zurückzugewinnen. Sie haben uns das vorgetragen, und es wäre lächerlich, wenn wir ihnen sagen wollten: Ihr dürft eure eigenen Gebiete nicht befreien.«

Er hatte nicht ganz unrecht. Gerade angesichts der Jubel-Stimmung der Araber war es für die Sowjets nicht leicht, sich unserem Vorschlag anzuschließen. Andererseits schienen die Erfolgsaussichten für die Sowjets in den ersten Stunden keineswegs glänzend: Wenn sie nichts unternahmen, würde Israel siegen, und sie würden unfähig wirken.

Wenn Moskau dagegen auf unsere Vorschläge einging, setzte es die Freundschaft der Araber aufs Spiel. Aber die Sowjet-Union konnte ihren arabischen Freunden nicht helfen, ohne selbst in den Krieg hineingezogen zu werden, und damit wiederum wäre die ganze Entspannungspolitik in Frage gestellt.

Das ermutigte mich, Dobrynin am Schluß unseres Telephongesprächs eine Frist zu setzen: Bis zum nächsten Morgen, dem Sonntag, um 9.00 Uhr, sollte er mich wissen lassen, ob wir auf ein gemeinsames Vorgehen im Sicherheitsrat oder auf einen separaten sowjetischen Versuch rechnen könnten, den Krieg bis spätestens Dienstag, den 9. Oktober, zu beenden.

Wenn die eigene Seite gewinnt - oder man das annimmt -, kann man sich ein derart abruptes Verhalten leisten. Aber es darf nicht zur diplomatischen Regel erhoben werden.

Am Ende eines hektischen Tages - es war immer noch der 6. Oktober - sprach ich kurz vor 21.00 Uhr noch einmal mit dem ägyptischen Außenminister Sajjat. Er war nicht gerade begeistert von meinem Vorschlag, die Streitkräfte sollten in ihre Ausgangspositionen zurückkehren; S.155 und noch weniger behagte ihm mein Hinweis, daß Ägypten angesichts des bald zu erwartenden israelischen Vormarsches schon innerhalb weniger Tage von unserem Vorschlag profitieren würde. Zuerst sagte er, meine Ideen kämen ihm »sehr eigenartig« vor, dann, als er sich eingehender damit befaßt hatte, bezeichnete er sie als »Wahnsinn«.

Und dennoch sprach Sajjat nicht im Ton eines Eroberers, er prahlte nicht und behauptete auch nicht, das Nahostproblem ließe sich mit militärischen Mitteln lösen. Ägypten verfolge mit diesem Krieg nur ein begrenztes Ziel. Es wolle Israel demonstrieren, daß dessen Sicherheit durch eine Verteidigungslinie am Suezkanal nicht gewährleistet sei. Die Sicherheit gegenüber einem Land wie Ägypten müsse sich vielmehr auf die gegenseitige Achtung stützen.

Ich entgegnete, dieses Ziel habe Ägypten erreicht, jetzt sei es an der Zeit, sich um den Frieden zu kümmern. Sajjat stimmte zu: »Mir liegt nicht sehr viel an einem Krieg.« Ich betonte, Ägypten und die Vereinigten Staaten dürften, gerade in der Hitze eines Krieges, in dem beide zumindest teilweise auf entgegengesetzten Seiten standen, nicht vergessen, daß wir später, wenn es darum ginge, Frieden zu schließen, zusammenarbeiten müßten.

Sajjat ging auf meine in diesem Augenblick vielleicht etwas eigenartig klingende Erklärung ein und sagte, die Vereinigten Staaten hätten »einen kühlen Kopf« bewahrt, wir sollten einen Vorschlag machen: »Jetzt, da Israel nicht mehr so voller Selbstsicherheit ist wie bisher, haben Sie die Gelegenheit, mit beiden Seiten zu sprechen.«

Damit hatte Sajjat den Kern der Sache berührt. Jeder Krieg endet irgendwie mit einem Frieden, aber nur allzuoft lassen sich die Politiker ihre Pläne von militärischen Operationen diktieren. Sie ignorieren Bismarcks Warnung, der Staatsmann müsse sich davor hüten, am Ende eines Krieges nicht ebenso plausible Argumente zu haben wie an dem Tag, an dem er ihn begann.

Der zweite Kriegstag, der 7. Oktober, war ein Sonntag. Im Lauf der Nacht waren die erbitterten Kämpfe an beiden Fronten weitergegangen. Den Ägyptern war es augenscheinlich gelungen, etwa acht Kilometer jenseits des Suezkanals eine durchgehende Verteidigungslinie aufzubauen; die Syrer hatten auf den Golanhöhen Einbrüche erzielt.

Um 10.15 Uhr lieferte Dobrynin den Vorwand für das diplomatische Spiel auf Zeit, das sowohl nach Israels als auch nach unserer Auffassung im gemeinsamen Interesse lag. Er teilte telephonisch mit, es sei mit einer Stellungnahme der sowjetischen Führung zu rechnen, aber frühestens in zwei Stunden. Wie sich herausstellte, mußten wir fast den ganzen Tag auf die sowjetische Erklärung warten - was unserer Strategie sehr entgegenkam, nichts zu unternehmen, bevor S.156 Israel die Mobilmachung abgeschlossen hatte.

Um 13.00 Uhr war die für 12.00 Uhr zugesagte Botschaft Breschnews immer noch nicht eingetroffen. Ich drängte Dobrynin und sagte ihm, wir hätten alle Bemühungen bei den Vereinten Nationen eingestellt, weil wir darauf warteten, etwas aus Moskau zu hören.

Wir beschlossen, solange die Sowjet-Union nicht an der Beendigung des Krieges mitwirkte, begrenzte Waffenlieferungen an Israel vorzubereiten. Um 13.30 Uhr erklärte ich Verteidigungsminister Schlesinger, er solle Munition und anderes Material - vor allem »Sidewinder«-Raketen - bereitstellen, das dann auf einem abgelegenen Flottenstützpunkt in Virginia von Verkehrsmaschinen der israelischen »El Al« mit übermalten Kennzeichen abgeholt werden könnte.

Um 15.10 Uhr - wir hatten noch immer nichts von Dobrynin gehört - erklärte ich Haig, wir sollten jetzt aus psychologischen und militärischen Gründen wenigstens einen Teil der israelischen Materialanforderungen erfüllen. Die Sowjets sollten wissen, daß sie die Lage ihrer Mandanten durch Verzögerungsmanöver nicht verbessern könnten; die Araber dürften nicht mit Hilfe sowjetischer Waffen gewinnen, denn sonst wären sie nicht mehr ansprechbar. Haig stimmte zu und teilte mir mit, der Präsident sei derselben Meinung.

Um 15.45 Uhr gab Schlesinger grünes Licht. Dieser Schritt fiel uns um so leichter, als wir in der Zwischenzeit, gegen 15.30 Uhr, Breschnews Antwort erhalten hatten: Sie war im wesentlichen nichts anderes als ein weiteres Verzögerungsmanöver. Entweder wußte man in Moskau wirklich nicht, was man unternehmen sollte, oder die Sowjets beurteilten die Lage anders als wir.

Kurz darauf hörten wir zum erstenmal direkt etwas aus Kairo. Der Ton der Botschaft war freundlich, ihr Inhalt war Ausdruck einer Stimmung und nicht eines politischen Kurses. In einem über Geheimdienstkanäle an mich gerichteten Schreiben teilte uns Sadats Sicherheitsberater Hafis Ismail die Bedingungen Ägyptens für die Beendigung des Krieges mit. Es waren dieselben, die man schon im Mai vorgelegt hatte, und sie waren nicht realistischer als damals: Israel sollte sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen; erst nach dem Truppenabzug könnten auf einer Friedenskonferenz weitere Themen behandelt werden. Teil- oder Zwischenvereinbarungen wurden ausdrücklich abgelehnt.

Das war offenbar nur eine Eröffnungsposition. Aus seinen früheren Kontakten mit uns wußte Sadat sehr wohl, daß wir diese Bedingungen für unannehmbar hielten. Ich glaube nicht, daß er in dieser Phase schon eine Vereinbarung anstrebte; er suchte vielmehr den Dialog. Kontakte mit uns waren schon riskant genug. Er konnte dieses Risiko nicht noch dadurch vergrößern, daß er Syrien und möglicherweise auch die Sowjet-Union, auf deren Unterstützung er für die Fortführung des Krieges angewiesen war, durch frühzeitige Zugeständnisse verärgerte. Wichtig war jetzt die Tatsache, daß sich Ägypten direkt mit uns in Verbindung gesetzt hatte, nicht der Inhalt der Botschaft.

Ismails Schreiben war der Beginn eines eigenartigen Dialogs mit einem Land, das unseren Verbündeten angegriffen hatte und dessen Absichten mit Hilfe amerikanischer Waffen vereitelt wurden. Während des ganzen Krieges verging kaum ein Tag, ohne daß der Gedankenaustausch mit Kairo fortgesetzt wurde. Auch als sich das Kriegsglück später aufgrund unserer Luftbrücke für Israel gegen Ägypten kehrte, hielt Sadat sein Versprechen, in der ägyptischen Öffentlichkeit keinen Amerika-Haß zu schüren.

Er wollte uns damit nicht etwa einen besonderen Gefallen tun, sondern nur vermeiden, daß wir uns später, in der Verhandlungsphase, unwiderruflich auf die Seite Israels stellten. Seine Absicht war, Beziehungen zu den Vereinigten Staaten herzustellen, die es uns ermöglichten, nicht nur als offizieller, sondern auch als überzeugter Vermittler aufzutreten und die ägyptischen Ansprüche ebenso zu berücksichtigen wie die israelischen - eine erstaunliche Haltung für den Nachfolger Nassers nach zwei Jahrzehnten Feindschaft.

Bis zu Beginn dieses Gedankenaustausches hatte ich Sadat nicht ernst genommen. Er hatte so oft mit dem Krieg S.159 gedroht, ohne wirklich etwas zu unternehmen, daß ich ihn zunächst eher für einen Schauspieler als für einen Staatsmann hielt. Jetzt begann ich zu begreifen, daß seine großspurigen Gesten Teil einer durchdachten Strategie waren. Sie erst hatten die Überraschung möglich gemacht. Seine Fähigkeit, von der ersten Stunde des Krieges an niemals den Kern seines Problems aus dem Auge zu verlieren, überzeugte mich, daß wir es hier mit einem Staatsmann allerersten Ranges zu tun hatten.

Am gleichen Abend kehrte Botschafter Dinitz von der Beerdigung seines Vaters aus Israel zurück. Um 19.40 Uhr sahen wir uns zum erstenmal seit Kriegsausbruch, und er brachte gute Nachrichten aus Jerusalem mit.

»Wir gehen an beiden Fronten mit denkbar stärksten Kräften vor«, sagte er. Um die begonnenen militärischen Operationen abzuschließen, werde Israel von Montag mittag an (wenn die Mobilmachung beendet sein sollte) noch 48 Stunden brauchen. Ich war sicher, einen von den Vereinten Nationen getragenen Waffenstillstand wenigstens bis Dienstag hinauszögern zu können.

Am nächsten Morgen - Montag, 8. Oktober - traf eine Nachricht von »reschnew ein: Wir haben uns mit den Führern der arabischen Staat"n » wegen der Frage eines Waffenstillstands in Verbindung » » gesetzt. Wir hoffen, in Kürze eine Antwort zu bekommen. Wir » » glauben, in Zusammenarbeit mit Ihnen vorgehen zu sollen, denn » » wir lassen uns von dem allgemeinen Interesse an der » » Aufrechterhaltung des Friedens und der Weiterentwicklung der » » sowjetisch-amerikanischen Beziehungen leiten. Wir hoffen, » » Präsident Nixon wird im gleichen Sinne handeln. »

Als Dobrynin mir die Botschaft Breschnews am Telephon vorlas, glaubte ich, sie käme unseren unmittelbaren Absichten durchaus entgegen.

Ich zögerte daher nicht, Dobrynin zu erklären, wir würden uns im Sinne der Botschaft Breschnews verhalten. Wir würden an diesem Tage keine Resolution einbringen, und wenn wir es täten, würden wir die Sowjet-Union mehrere Stunden vorher unterrichten. Wir würden unseren Uno-Botschafter John Scali anweisen, sich im Sicherheitsrat bedachtsam zu äußern und keine Erklärungen abzugeben, die die Gemüter erregen könnten. Wir erwarteten, daß die Sowjet-Union einen ähnlichen Kurs einschlagen werde. Dobrynin stimmte zu.

Um 17.40 Uhr rief Dobrynin an und teilte mir offiziell mit, die Sowjet-Union werde »im Sicherheitsrat nichts unternehmen. Keine Resolution im Sicherheitsrat. Unser Vertreter im Sicherheitsrat hat Anweisung, sich auf keine Polemik mit dem amerikanischen Vertreter einzulassen. Unterdessen führen wir dringende Konsultationen mit der arabischen Seite«.

Um 18.40 Uhr traf ich mich mit Dinitz. Wir scherzten über die entspannte Atmosphäre im Sicherheitsrat. Dinitz war überzeugt, Ägypten und Syrien würden »in zwei oder drei Tagen« sehr gern auf einen Waffenstillstand an den Vorkriegslinien eingehen.

Als ich wenig später mit Nixon sprach, beschäftigten wir uns vor allem mit den nach Beendigung des Krieges einzuleitenden diplomatischen Schritten. »Wenn wir es schaffen«, sagte ich übermütig, »diese Sache zu Ende zu bringen, ohne daß es mit den Arabern oder den Sowjets zum Krach kommt, wäre das ein Wunder und ein Triumph.«

Nixon ließ sich von der Stimmung anstecken und dachte ebenfalls an »ie Zeit nach dem Krieg: Richtig. Das, worüber wir uns Gedanken » » machen müssen, was Sie und ich wissen, wenn wir in die » » Zukunft sehen, ist, daß die Israelis, wenn sie die Ägypter » » und die Syrer erst einmal verprügelt haben - was sie tun » » werden -, noch schwieriger zu behandeln sein werden als » » vorher, und Sie und ich müssen den festen Vorsatz fassen, » » hier eine diplomatische Lösung zu finden. »

Am Ende des dritten Kriegstages gingen wir in der Erwartung zu Bett, daß sich der Sechs-Tage-Krieg von 1967 wiederholen werde.

Aber die Hybris der Menschen ist eine Beleidigung für die Götter. Sie vertragen es nicht, wenn man es für selbstverständlich hält, daß sich bedeutende Ereignisse nach unseren Wünschen richten. Historische Veränderungen, wie wir sie anstrebten, können nicht durch virtuose Auftritte herbeigeführt werden; es muß eine Realität dahinterstehen. Und von dieser Realität wurden wir mitten in der Nacht eingeholt.

Um 1.45 Uhr, ich war eben eingeschlafen, rief mich der israelische Botschafter Dinitz an und weckte mich mit einer verblüffenden Frage: Was könnten die Vereinigten Staaten in Sachen Nachschub tun?

Ich war verwirrt. Nach seiner erst wenige Stunden alten Prognose sollte Israel etwa zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem entscheidenden Sieg stehen. Was war also los? Was wurde gebraucht, und weshalb die plötzliche Eile?

Einen Augenblick lang hatte ich den bösen Verdacht, die Israelis wollten uns jetzt auf einen Lieferplan festlegen, bevor ihr wahrscheinlicher Sieg der Sache die Dringlichkeit nahm. Ich erklärte Dinitz, wir könnten gleich am Morgen darüber reden, und ging wieder zu Bett.

Um 3.00 Uhr rief mich Dinitz noch einmal an und wiederholte im wesentlichen seine dringende Bitte. Entweder wollte er nur seinem Kabinett beweisen, daß er mich jederzeit aus dem Bett holen konnte, oder aber es mußte tatsächlich irgend etwas nicht in Ordnung sein. Ich S.160 schlug vor, die Angelegenheit am Vormittag zu klären.

Wir trafen uns also am Dienstag, dem 9. Oktober, um 8.20 Uhr im elegant ausgestatteten, aber selten benutzten Kartenzimmer im Erdgeschoß des Weißen Hauses. Dinitz hatte seinen Militärattache, General Mordechai ("Motta") Gur, mitgebracht, der mich über die militärische Lage unterrichten sollte.

Dinitz und Gur kamen sofort zur Sache. Grimmig erklärten sie mir, Israel habe bereits unerwartet hohe Verluste erlitten. 49 Flugzeuge, darunter 14 Phantom-Jäger, seien zerstört worden. Das war sehr schmerzlich, aber nicht völlig überraschend, denn Syrien und Ägypten verfügten über eine große Zahl sowjetischer Flugabwehrraketen. Der wirkliche Schock war der Verlust von 500 Panzern, davon allein 400 an der ägyptischen Front. Dinitz flehte mich an, die Verlustziffern unbedingt vor jedermann, ausgenommen dem Präsidenten, geheimzuhalten.

»Wie konnte das geschehen?« wollte ich wissen. Gur erklärte, eine nennenswerte Zahl israelischer Panzer sei schon auf dem Weg ins Kampfgebiet ausgefallen, weil die schlecht gewarteten Motoren sich in der Wüste heißgelaufen hätten.

Was Dinitz berichtete, erforderte eine grundlegende Überprüfung der Strategie. Unsere gesamte Diplomatie und das Nachschubprogramm für Israel waren auf einen raschen israelischen Sieg gegründet. Diese Annahme war jetzt überholt. Israel stand an der Schwelle eines erbitterten Abnutzungskrieges, den es angesichts der überlegenen Mannschaftsstärke seiner Gegner kaum gewinnen konnte.

Die Israelis waren derart konsterniert, daß Dinitz und Gur nicht genau wußten, was, außer Flugzeugen, Israel am dringendsten benötigte. Panzer, die jetzt vor allem gebraucht wurden, gab es nicht genug, und außerdem war es schwierig, sie rasch nach Israel zu bringen. Gur schlug vor, zumindest einige Panzer aus Europa zu verschiffen, aber auch das würde einige Wochen in Anspruch nehmen.

Wir einigten uns darauf, daß El-Al-Maschinen sofort weiteres Verbrauchsmaterial und elektronische Ausrüstung abholen könnten. Aber die kleine Flotte von sieben Verkehrsmaschinen konnte kein schweres Gerät transportieren.

Gur fragte nach Geheimdienstberichten. Ich wies Scowcroft an, »ihnen alles zu geben, was wir an Geheiminformationen haben«. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß eine durch sowjetische Waffen bewirkte Niederlage Israels für die Vereinigten Staaten eine geopolitische Katastrophe bedeuten würde.

Am Schluß der Unterredung bat mich Dinitz um ein Fünf-Minuten-Gespräch unter vier Augen. Premierministerin Meir, berichtete er mir, sei bereit, persönlich für eine Stunde in die Vereinigten S.161 Staaten zu kommen, um bei Präsident Nixon wegen der dringenden Waffenlieferungen vorstellig zu werden. Ich lehnte den Besuch kurzerhand und ohne Rücksprache mit Nixon ab. Ein solcher Vorschlag konnte nur als hysterische Reaktion oder als Erpressungsversuch gedeutet werden.

Er ließe sich nicht geheimhalten, wir wären gezwungen, massive Rüstungslieferungen anzukündigen, und das würde jede Aussicht auf Vermittlung zunichte machen. Die ganze arabische Welt würde sich empört gegen uns stellen, und die Sowjet-Union hätte freie Hand.

Allmählich kamen mir Zweifel an der Haltung der Sowjets. Sie hatten unsere Verzögerungstaktik mitgemacht, weil sie offenbar besser über die Kriegslage unterrichtet waren als wir. Und auch wenn das nicht so war, so mußten sie doch inzwischen den wirklichen Stand der Dinge kennen und wollten nun eindeutig im trüben fischen.

Mir war klar, daß es nur zu einem Waffenstillstand kommen konnte, wenn es so aussah, als sei Israel im Vorteil. Um das Selbstvertrauen der Israelis wiederherzustellen, mußte die amerikanische Unterstützung konkrete Formen annehmen.

Um 16.45 Uhr gingen Haig, Scowcroft, Pressesprecher Ron Ziegler und ich zu Nixon. Ich erläuterte die Situation. »Wir dürfen nicht zulassen, daß die Israelis den Krieg verlieren«, erklärte Nixon und handelte entsprechend. Er befahl, die Lieferung von Verbrauchsmaterial und Flugzeugen zu beschleunigen. Schweres Gerät würde Israel vor Beendigung des Konfliktes nicht mehr erreichen. Wir würden Israel jedoch Ersatz für die Materialverluste garantieren. Damit brauchte Israel, solange die Kämpfe andauerten, nicht übermäßige Materialvorräte in Reserve zu halten.

Um 18.10 Uhr an jenem Dienstag unterrichtete ich Dinitz von dieser wichtigen Entscheidung des Präsidenten.

Am nächsten Morgen - Mittwoch, 10. Oktober - wurden wir von der unheilvollen Meldung über eine sowjetische Luftbrücke nach Syrien überrascht. Etwa 20 Transportflugzeuge waren unterwegs, mit Kurs über Ungarn und Jugoslawien. Eine Luftbrücke solchen Ausmaßes konnte nicht improvisiert, sie mußte seit Tagen vorbereitet worden sein.

Wollten die Sowjets den Konflikt weiter anheizen oder nur einen Mandanten unterstützen und sich so die Möglichkeit offenhalten, in den Friedensverhandlungen eine Rolle zu spielen? Wollten sie den Arabern in ihrer Unnachgiebigkeit den Rücken stärken oder Vertrauen für den Friedensprozeß gewinnen? Halfen sie ihrem am härtesten bedrängten Verbündeten, um ihn vor einem Zusammenbruch zu bewahren, oder ermunterten sie ihn zu einer neuen Offensive?

Kurz nach 20.00 Uhr rief mich Dobrynin mit einer, wie er sagte, wichtigen S.164 Mitteilung an: Die sowjetischen Konsultationen mit Ägypten und Syrien hätten sich »in die Länge gezogen« und seien »nicht leicht« gewesen. Moskau könne Nixon jedoch mitteilen, daß die Sowjet-Union »bereit ist, die Annahme einer Waffenstillstandsresolution im Sicherheitsrat nicht zu blockieren«.

Mit anderen Worten: Die Sowjet-Union würde sich bei der Abstimmung über eine Resolution für einen Waffenstillstand entlang den erreichten Positionen der Stimme enthalten; sie würde jedoch eine Rückkehr zu den Vorkriegslinien nicht unterstützen - das heißt, sie würde ihr Veto dagegen einlegen. Außerdem erklärte die Note die Bereitschaft der Sowjets, sich »auf der Basis der Befreiung aller von Israel besetzten arabischen Gebiete« für einen Verhandlungsfrieden einzusetzen.

Die sowjetische Initiative für einen Waffenstillstand an Ort und Stelle lag jetzt auf dem Tisch, und zwar unter den für unsere Strategie denkbar ungünstigsten Umständen. Wenn die Sowjets ihren Vorschlag jetzt vorlegten, würden sie dafür nahezu einhellige Unterstützung finden, auch von unseren europäischen Verbündeten. Israel dagegen würde sich einer solchen Regelung widersetzen, solange die Vorkriegslage nicht wiederhergestellt war.

Hätten wir dem sowjetischen Plan zugestimmt und Israel zur Annahme gezwungen, dann wäre der Krieg mit einem eindeutigen Sieg der von den Sowjets ausgerüsteten arabischen Streitkräfte beendet worden. Die Stellung der Vereinigten Staaten in den Friedensverhandlungen nach dem Kriege wäre erheblich geschwächt worden. Die Überzeugung, daß wir als einzige Supermacht Fortschritte erreichen könnten, wäre geplatzt.

Sowjetische Waffen hätten den Erfolg gebracht, und dieser Erfolg würde nun durch die sowjetische Diplomatie geschützt. Ein neuer Krieg wäre sehr wahrscheinlich, weil Israel alles daransetzen würde, die militärische Überlegenheit zurückzugewinnen, und weil die Araber zu der Überzeugung gelangen mochten, daß sie aus jeder Sackgasse in den Verhandlungen durch einen neuen Angriff herauskommen könnten.

Hätten die Sowjets eine klare politische Linie verfolgt, oder hätten sich die arabischen Nationen nicht von der Euphorie hinreißen lassen, dann hätten sie möglicherweise ihre territorialen Gewinne sichern können, indem sie am 10. Oktober auf einem Waffenstillstand an Ort und Stelle beharrt hätten. Uns wäre es dann schwergefallen, dieses Verlangen abzulehnen.

Aber entweder unterschätzten Ägypten und Syrien die Fähigkeit Israels, sich von den ersten Schlägen zu erholen, oder sie konnten das zwischen ihnen bestehende Mißtrauen einfach nicht überwinden. Wahrscheinlich spielte beides eine Rolle.

Ich erklärte Dobrynin deshalb, er möge Moskau mitteilen, daß wir den Waffenstillstandsvorschlag für »konstruktiv« hielten, aber noch Bedenkzeit brauchten.

Am selben Abend rief Kurt Waldheim an und teilte mit, im Sicherheitsrat werde kein Resolutionsantrag eine Mehrheit finden. Weder die Araber noch Israel wünschten offenbar irgendeinen Waffenstillstand. Das paßte uns sehr gut, aber Waldheim machte sich Sorgen: »Ich werde immer wieder gefragt, was unternimmt der (Generalsekretär), um den Kämpfen ein Ende zu bereiten?« Eine sehr verständliche Frage, wenn man bedenkt, daß der Krieg schon fast eine Woche dauerte, ohne daß die Vereinten Nationen offiziell irgend etwas unternommen hatten.

Um 21.45 Uhr rief ich Dobrynin noch einmal an: »Anatolij, wir werden Ihnen vor morgen keine Antwort geben können.« Dobrynin, der sehr wohl wußte, was ich tat, drohte mir gutmütig: »Sie treiben ein sehr geschicktes Spiel. Sie dürfen aber das Thema der russischen Verantwortungslosigkeit nicht überstrapazieren.« Ich warnte ihn noch einmal vor den Folgen der »massiven« sowjetischen Luftbrücke.

Am Dienstag, dem 11. Oktober, wurde deutlich, daß Dobrynin seine Drohungen ernst gemeint hatte. Am frühen Morgen wurden zehn weitere Transportmaschinen auf dem Weg nach Syrien entdeckt.

Mehr noch: Die sowjetische Luftbrücke versorgte nun auch Ägypten und sogar den Irak. Später erfuhren wir, daß S.166 die Sowjets drei Luftlandedivisionen in Alarmbereitschaft versetzt hatten.

Gegen Ende der ersten Kriegswoche wurde deutlich, daß die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen sich zur Fallstudie für Möglichkeiten und Grenzen der Entspannungspolitik entwickelten.

Die Sowjets unterstützten ihre arabischen Freunde mit der gewohnten Lautstärke. Ihre Luftbrücke war beunruhigend. Und jetzt erfuhren wir auch noch, daß sieben und nicht drei sowjetische Luftlandedivisionen alarmbereit waren. Aber mit dieser Hilfe hatte die Sowjet-Union die Grenzen ihrer Möglichkeiten noch lange nicht erreicht.

Nach dem Krieg haben sich alle arabischen Führer bei mir darüber beklagt, daß die sowjetische Luftbrücke nur widerwillig eingerichtet worden sei und der Nachschub zur See sehr lange Zeit in Anspruch genommen habe, als wollten die Sowjets den Arabern deutlich zeigen, wie abhängig sie von ihnen waren.

Außerdem unternahm die Sowjet-Union keinerlei diplomatische Offensive, um uns bei den Vereinten Nationen in eine peinliche Lage zu bringen oder zu isolieren. Ich glaube nicht, daß wir im Urteil der Geschichte als diejenigen dastehen werden, deren guter Wille mißbraucht worden ist. Der Krieg wurde in Grenzen gehalten, und die Vereinigten Staaten haben es mit geschickten Manövern verstanden, den Einfluß der Sowjet-Union im Nahen Osten zu reduzieren.

Diese Sicht der Ost-West-Beziehungen ist wichtig, um zu verstehen, was ich auf meiner ersten Pressekonferenz während des Krieges am Freitag, dem 12. Oktober, gesagt habe. Meine Äußerungen sind kritisiert worden, weil ich mich weigerte, die Entspannungspolitik zu begraben, während ich zugleich die Sowjets warnte, sie näherten sich sehr rasch den Grenzen der Detente. Aber ein verbaler Angriff gegen Moskau hätte die Entwicklungen beschleunigt; in unserem Interesse jedoch lag es, sie zu verlangsamen. Aggressives Verhalten hätte zu einer Zeit eine Konfrontation herbeiführen können, in der die militärische Lage unsere Strategie noch nicht begünstigte. »eshalb habe ich mich bewußt maßvoll und zurückhaltend ausgedrückt« » Wir glauben nicht, daß die bisher von der Sowjet-Union » » getroffenen Maßnahmen so verantwortungslos sind, daß sie die » » Entspannung bedrohen. Wenn dieser Punkt erreicht ist, werden » » wir in dieser Krise wie auch schon in anderen Krisen nicht » » zögern, eine feste Haltung einzunehmen. Aber in diesem » » Augenblick bemühen wir uns noch darum, mäßigend auf den » » Konflikt einzuwirken. Gegenwärtig müssen wir gegen Maßnahmen, » » die wir mißbilligen, und zwar ganz entschieden mißbilligen, » » die relative Zurückhaltung aufrechnen, welche die Medien in » » der Sowjet-Union geübt haben, und die im Verhalten ihrer » » Vertreter im Sicherheitsrat zum Ausdruck kommt. »

Aber Dobrynin wurde jetzt unruhig. Während eines in gereizter Stimmung eingenommenen Mittagessens legte er mir eine nicht unterzeichnete Note vor. Darin zeigte sich die sowjetische Führung darüber überrascht, daß ich mich beschwert hätte, die Sowjet-Union unterstütze mit öffentlichen Erklärungen die Araber. Gaben denn nicht auch wir viele Erklärungen zur Unterstützung Israels ab? (Seine Frage war nicht ganz unbegründet, ließ aber unberücksichtigt, wer die Feindseligkeiten eröffnet hatte.)

Die Note erhob auch Einwände gegen die Verlegung unserer 6. Flotte ins östliche Mittelmeer, wo sie jetzt ebenso wie die sowjetische Flotte in den Gewässern vor Kreta kreuzte. Was Moskau in der Note vorbrachte, war an sich nur ein unbedeutendes Geplänkel, sollte uns aber zeigen, daß die Sowjets ungeduldig wurden.

Dobrynin wurde unzugänglich, als ich den Alarm für die sowjetischen Luftlandedivisionen erwähnte. Nichts irritiert sowjetische Beamte so sehr wie der Beweis, daß unsere Nachrichtendienste etwas leisten können. Das gilt besonders für Diplomaten, wenn sie über militärische S.168 Maßnahmen nicht informiert worden sind.

Dobrynin erwiderte erregt, der Sowjet-Union könnte die Bedrohung von Damaskus nicht gleichgültig bleiben. Wenn Israel seinen Vormarsch fortsetzte, dann könnte die Lage außer Kontrolle geraten. Ich warnte ihn, wir würden uns jeder militärischen Intervention der Sowjet-Union widersetzen, eine Intervention würde das mühsam geknüpfte Netz der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zerreißen lassen.

Um 19.00 Uhr bat mich der sowjetische Gesandte Julij Woronzow um einen sofortigen Termin für Dobrynin, der mir eine »dringende« Botschaft zu übergeben habe. Da Nixon um 21.00 Uhr bekanntgeben wollte, wer sein neuer Vizepräsident werden sollte, mußte ich um 20.30 Uhr im Weißen Haus sein. (Haig hatte mir am Nachmittag gesagt, die Wahl sei auf Gerald Ford gefallen.) Ich konnte Dobrynin um 20.00 Uhr für 15 Minuten empfangen.

Um 19.45 Uhr teilte ich Dinitz mit, daß eine sowjetische Botschaft angekündigt sei. Er sagte mir, Israel sei wegen der versteckten sowjetischen Drohungen, die Dobrynin mir beim Mittagessen übermittelt hatte, in großer Sorge. Golda habe ihn ermächtigt, mir zu sagen, wenn ich es für klug hielte, sollte ich die Waffenstillstandsresolution noch am gleichen Abend einbringen. Das lehnte ich ab.

Niemand würde bereit sein, sich so kurzfristig auf dieses Verfahren einzulassen, und jede plötzliche Demonstration amerikanischer Besorgnis würde neue Pressionen herausfordern. Vor allem aber: »Wenn man einmal bedroht worden ist, dann ist es besser, an dem eingeschlagenen Kurs festzuhalten.«

Das war eine Grundregel, die ich, wenn möglich, stets zu befolgen suchte. Ein Staatsmann, der dafür bekannt ist, daß er sich einschüchtern läßt, fordert weitere Einschüchterungsversuche heraus. Wenn er jedoch den Ruf hat, angesichts von Drohungen hart zu bleiben, lassen sich zwar nicht alle Versuche, ihn unter Druck zu setzen, vermeiden, aber seine Gegner werden nur so weit gehen, wie sie es für unbedingt erforderlich halten.

Jetzt spitzten sich die Dinge wirklich zu. Entweder rechneten die Sowjets mit einem unmittelbar bevorstehenden Sieg, oder sie fürchteten die Demoralisierung ihrer Mandanten. Bevor Dobrynin zu mir ins Büro kam, lag schon die erste öffentlich ausgesprochene Drohung Moskaus auf meinem Schreibtisch. Die sowjetische Nachrichtenagentur Tass griff das »kriminelle Vorgehen des israelischen Militärs« bei der Bombardierung ziviler Ziele in Syrien und Ägypten an, wobei es angeblich auch zu sowjetischen Verlusten gekommen sei. In der Tass-Meldung hieß es, die Sowjet-Union könne diese Aktionen nicht »gleichgültig« hinnehmen.

Als Dobrynin in bester Laune in meinem Büro erschien, brachte er nicht eine, sondern zwei Noten zum gleichen Thema mit. Die erste verurteilte die »barbarischen Bombenangriffe der israelischen Luftstreitkräfte auf friedliche Bevölkerungszentren in Ägypten und Syrien, einschließlich Damaskus«. In drohendem Ton hieß es dann, auch die israelischen Bevölkerungszentren würden nicht auf ewig immun bleiben.

Die gleiche Note protestierte scharf gegen einen Angriff israelischer Torpedoboote auf ein sowjetisches Handelsschiff in einem syrischen Hafen und kulminierte in einer weiteren Drohung: »Die Sowjet-Union wird selbstverständlich die nötigen Maßnahmen ergreifen, um ihre Schiffe und andere Transportmittel zu verteidigen.«

Die zweite sowjetische Note war eine reine Unverschämtheit. Die Sowjet-Union hatte im Rahmen ihrer Luftbrücke nach Syrien und Ägypten innerhalb von drei Tagen etwa 84 Flugzeuge eingesetzt. Ich hatte seit dem 10. Oktober immer wieder dagegen protestiert. Das hinderte die Sowjets jedoch nicht daran, uns vorzuwerfen, daß wir Israel mit Waffen belieferten.

Sie bezogen sich dabei, wenn überhaupt auf irgend etwas, auf die sieben El-Al-Maschinen, die zwischen den Vereinigten Staaten und Israel hin- und hergeflogen waren, um Kriegsmaterial nach Israel zu bringen. Die geplanten massiven amerikanischen Rüstungslieferungen waren noch gar nicht angelaufen.

Ich wies den Protest in kühlem Ton zurück und warnte Dobrynin, daß jede militärische Intervention der Sowjets - gleichgültig unter welchem Vorwand - durch amerikanische Streitkräfte beantwortet werden würde. (Zu jeder anderen Zeit wäre eine solche Drohung glaubwürdiger gewesen. Denn gerade an diesem Tag hatte der Kongreß den sogenannten War Powers Act verabschiedet, ein Gesetz, mit dem die Vollmachten des Präsidenten für den Einsatz amerikanischer Streitkräfte eingeschränkt werden sollten.)

Ich hatte gerade noch genug Zeit, um Dinitz kurz vom Inhalt der sowjetischen Noten zu unterrichten. Ich sagte ihm, wir würden einen weiteren Flugzeugträger ins Mittelmeer schicken, und wir würden auch - das war meine persönliche Meinung, die ich noch nicht mit dem Präsidenten abgestimmt hatte - intervenieren, wenn »sowjetisches Personal, Flugzeuge oder Bodentruppen in das Gebiet verlegt werden«.

Um 23.20 Uhr am Freitag erschien Dinitz in meinem Büro im Weißen Haus und eröffnete eines der entscheidenden Gespräche dieser Woche. Das Ergebnis war eine rein militärische Luftbrücke der Vereinigten Staaten für Israel.

Zunächst gab Dinitz mir einen Überblick über die militärische Lage und bekräftigte dann die Bereitschaft Israels zu einem Waffenstillstand in den erreichten Stellungen. Es dauerte ein paar Minuten, bis wir die verschiedenen Orte auf der Karte gefunden hatten. Aber dann erkannte ich plötzlich, daß die israelischen Streitkräfte während des Tages nicht sehr weit vorangekommen waren. Meine Verzögerungstaktik auf diplomatischer Ebene war umsonst gewesen. Das führte zum folgenden Dialog: S.170 » KISSINGER: Wollen Sie, daß wir noch heute abend (mit den » » Verhandlungen) beginnen? Sind Sie heute zur Offensive » angetreten? Ich habe nicht den Eindruck.

DINITZ: Nein.

» KISSINGER: Wenn ich gewußt hätte, daß die Offensive heute » nicht beginnt, dann hätte ich früher angefangen.

» DINITZ: Ich muß Ihnen sagen: Die Entscheidung, ob wir eine » » neue Offensive beginnen oder nicht, hängt von unseren » » Fähigkeiten ab. Wir dachten, die erforderlichen Waffen, die » » Bomben, die Raketen und so weiter wären inzwischen » eingetroffen.

» KISSINGER: Das habe ich auch geglaubt. Woran liegt das? »

Dinitz antwortete, er habe um 18.00 Uhr ein schwieriges Gespräch mit Schlesinger geführt, und der Verteidigungsminister habe ihm keine klare Zusage für Waffenlieferungen gegeben. Das war merkwürdig. Um 17.40 Uhr hatte Schlesinger mir vorab mitgeteilt, er werde Dinitz ein umfangreiches Paket von Ersatzlieferungen im Wert von 500 Millionen Dollar anbieten, darunter 16 Phantom F-4, 30 Maschinen vom Typ A-4 Skyhawk, 125 Panzer (darunter 65 des Modells M-60), die Ausrüstung mit »Hawk«-Raketen für drei Bataillone und »eine Menge anderes Material«.

Jetzt beklagte sich Dinitz darüber, daß das schwere Kriegsmaterial zu spät eintreffen würde und daß die Charterflugzeuge, die Verbrauchsmaterial heranbringen sollten - das für die Gegenoffensive benötigt wurde -, um drei Tage verspätet seien. Dinitz wies besonders darauf hin, daß die Munition knapp würde. Wenn nicht sofort Nachschub käme, würde Israel seine Vorräte in zwei oder drei Tagen verbraucht haben.

Ich rief sofort bei Schlesinger an, der einfach nicht glauben wollte, daß eine Armee plötzlich, ohne Vorwarnung, ihre Munition verschossen haben könnte. (Wenige Stunden später erklärte er Haig, er halte das Ganze für ein Manöver mit dem Ziel, uns noch fester an Israel zu binden, nicht aber für eine militärische Notwendigkeit.)

Aber darauf kam es jetzt nicht mehr an. Nur entschlossenes Handeln konnte die schleichende sowjetische Eskalation stoppen und die Araber zu einer Regelung bewegen, bevor sich der Konflikt auf andere Staaten ausdehnte.

Um 0.50 Uhr beschlossen Schlesinger und ich, nach Rücksprache mit Haig, drei vorläufige Maßnahmen: Wir wollten zehn Transportflugzeuge vom Typ C-130, die wir Israel schon zugesagt hatten, mit Munition beladen und auf den Weg bringen. Weiteren Nachschub wollten wir auf die Azoren schaffen, wo die Israelis das Material abholen konnten. Damit verkürzte sich die Entfernung, die ihre Flugzeuge zurücklegen mußten, und sie konnten eine größere Ladung mitnehmen, weil sie weniger Treibstoff brauchten. Schließlich wollten wir uns auch weiterhin um Charterflugzeuge bemühen.

Als ich mit Nixon über die Luftbrücke sprach, zeigte er seine gewohnte Entschlossenheit. Das Pentagon hatte inzwischen drei riesige Düsen-Transportflugzeuge vom Typ C-5A ausfindig gemacht, die sofort verfügbar waren und jeweils eine Ladung von 60 bis 80 Tonnen direkt nach Israel fliegen konnten. Nixon stimmte dem Vorschlag sofort zu. »Nichts wie los!« drängte er.

Am Sonntagmorgen schließlich - 24 Stunden nach Beginn der Luftbrücke - empfahlen wir Nixon, die ganze Aktion als offene amerikanische Militäroperation aufzuziehen. Nixon geriet, wie immer, durch eine Krise in Schwung. »Wir werden so oder so Vorwürfe zu hören bekommen, ob wir nun drei oder 300 Flugzeuge einsetzen«, sagte er mir, als wir über die C-5A sprachen. Er hatte recht.

Wir mußten eine militärische Lage schaffen, welche die Hauptbeteiligten S.172 zwang, ihre Haltung zu überdenken. Wenn die Bemühungen um einen Waffenstillstand scheiterten, erklärte ich Haig, müßten wir die Luftbrücke auf den größtmöglichen Umfang steigern und alle verfügbaren Flugzeuge einsetzen, ohne Rücksicht auf mögliche Konfrontationen.

Unterdessen hatte die ägyptische 21. Panzerdivision - bislang sorgsam in Reserve gehalten - den Suezkanal überschritten. Wenigstens eine zweite Panzerdivision machte sich bereit, ihr zu folgen.

Die Würfel waren gefallen. Wir waren an einem Punkt, an dem jedes weitere Manövrieren selbstmörderisch sein und jedes Zögern katastrophale Folgen haben konnte. Es war nicht möglich, die Gegner zur Beendigung des Krieges zu veranlassen, indem man sie aufforderte, ihre Interessen abzuwägen, und auch die Sowjets waren nicht bereit, uns darin zu unterstützen.

Alles, was wir noch tun konnten, war, eine neue Lagebeurteilung durch die Beteiligten zu erzwingen. Wir würden also massiven Nachschub liefern. Wir würden eine Konfrontation riskieren. Wir würden erst wieder verhandeln, wenn kein Zweifel mehr daran bestand, daß eine Lösung nicht aufgezwungen werden konnte.

Wir hatten keine Wahl. Wenn die von den Sowjets bewaffneten Staaten den Krieg gewannen, dann würde die Sowjet-Union den Verlauf aller diplomatischen Bemühungen nach dem Krieg diktieren. Wenn Israel keine Entscheidung erzwang, dann würde es in einem Zermürbungskrieg zerrieben werden, in dem sogar israelischer Mut und Erfindungsgeist nichts gegen eine dreißigfache Überlegenheit würde ausrichten können.

Aber die Ereignisse der vergangenen Woche hatten auch gezeigt, wie unsicher der Grund war, auf dem unsere Diplomatie stand. Wenn wir eine Entscheidung erzwangen, würden wir mit Israel allein dastehen und in den Vereinten Nationen isoliert sein. Was wir auch von der Doppelzüngigkeit oder Unaufrichtigkeit der Sowjets halten mochten - und im Augenblick war unser Urteil nicht besonders freundlich -, bisher hatten sie noch nicht versucht, uns in eine wirklich unangenehme Lage zu bringen. Sie hatten die ägyptische Forderung, den Waffenstillstand mit der Rückkehr zu den Grenzen von 1967 zu verknüpfen, bislang nicht als Antrag eingebracht - was uns gezwungen hätte, gegen eine für die Araber heilige Forderung ein Veto einzulegen.

Das Verhalten der Sowjet-Union blieb rätselhaft. Hatten die Sowjets uns nur hingehalten und niemals wirklich die Absicht gehabt, einen Waffenstillstand herbeizuführen? Hatten sie mit ihren Manövern den Krieg verlängern wollen?

Dobrynin bestritt das und fragte mich, was die Sowjets denn mit einer solchen Taktik hätten bezwecken können. Das fragte ich mich auch. Und deshalb behauptete ich, ohne selbst davon überzeugt zu sein: Am nächsten Tag sei mit einer ägyptischen Offensive zu rechnen. Ich wußte, daß das wenig Sinn machte. Wir hatten 72 Stunden lang auf Zeit gespielt, um den Israelis bei ihrer Offensive in Syrien zu helfen; die Sowjets waren bereit gewesen, am Mittwoch zur Sache zu kommen.

Dobrynin, der sich nie etwas vormachen ließ, hatte unsere Strategie durchschaut. Ob ich etwa sagen wolle, fragte er, die Sowjet-Union habe die Dinge verzögert, damit Israel die Syrer schlagen könnte? »Das ist eine sehr interessante Annahme.«

Es ist falsch, das strategische Verständnis des Gegners zu überschätzen, aber ebenso gefährlich, es zu unterschätzen. Zu Beginn hatten die Vereinigten Staaten und die Sowjet-Union tatsächlich vergleichbare strategische Ziele verfolgt. Beide wollten ihre Freunde in die Lage versetzen, auf dem Schlachtfeld die Oberhand zu gewinnen. Als sich ein militärisches Patt entwickelte, unterstützten beide ihre Freunde mit Kriegsmaterial.

Zwei Punkte jedoch sprachen für uns. Unser Verbündeter war letztlich stärker und konnte das gelieferte Material besser nutzen. Und wir waren bereit, mehr zu riskieren als Moskau. Als das militärische Patt deutlich wurde - entweder durch sowjetische Planung oder durch sowjetische Konfusion -, gingen wir entschlossen und sogar brutal vor, um die Entscheidung zugunsten Israels zu erzwingen.

Im nächsten Heft

Eine Einladung nach Kairo, eine nach Moskau - Sadat bittet um Hilfe gegen Israel - Alarmbereitschaft für Amerikas Streitkräfte

S.152

Ich glaube, das Schlimmste, was wir tun könnten, wäre, solange die

Kämpfe dauern, eine neutrale Haltung einzunehmen, es sei denn, die

Sowjets nehmen auch uns gegenüber eine neutrale Haltung ein ... Wenn

sich die Sowjets eindeutig auf die andere Seite stellen, dann wissen

wir, daß es sich um einen schlimmen Fall von Kumpanei handelt, und

... müssen knallhart bleiben.

*

Die sowjetische Führung hat vom Beginn der militärischen Operation

im Nahen Osten zur gleichen Zeit erfahren wie Sie. Wir unternehmen

alles, um uns Klarheit über die wirkliche Situation in jenem Gebiet

zu verschaffen, denn die Nachrichten von dort sind widersprüchlich.

Wir teilen vollkommen Ihre Besorgnis über die explosive Situation im

Nahen Osten. Wir haben schon in der Vergangenheit wiederholt auf die

gefährliche Lage in diesem Gebiet hingewiesen. Wir überlegen nun,

ebenso wie Sie, welche Schritte unternommen werden können. Wir

hoffen, bald wieder Kontakt mit Ihnen aufnehmen zu können, um unsere

Positionen nach Möglichkeit zu koordinieren.

*

S.154

Nach unserer Lagebeurteilung ist der Angriff der Araber zum

Stillstand gebracht worden. Jetzt werden sie zum Rückzug gezwungen

werden, und dieser Vorgang wird sich noch beschleunigen, wenn die

(israelische) Mobilmachung abgeschlossen ist ... Und dann werden wir

das gleiche erleben, was wir schon früher erlebt haben.

*

S.159

Wir haben uns mit den Führern der arabischen Staaten wegen der Frage

eines Waffenstillstands in Verbindung gesetzt. Wir hoffen, in Kürze

eine Antwort zu bekommen. Wir glauben, in Zusammenarbeit mit Ihnen

vorgehen zu sollen, denn wir lassen uns von dem allgemeinen

Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der

Weiterentwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen leiten.

Wir hoffen, Präsident Nixon wird im gleichen Sinne handeln.

*

Richtig. Das, worüber wir uns Gedanken machen müssen, was Sie und

ich wissen, wenn wir in die Zukunft sehen, ist, daß die Israelis,

wenn sie die Ägypter und die Syrer erst einmal verprügelt haben -

was sie tun werden -, noch schwieriger zu behandeln sein werden als

vorher, und Sie und ich müssen den festen Vorsatz fassen, hier eine

diplomatische Lösung zu finden.

*

S.166

Wir glauben nicht, daß die bisher von der Sowjet-Union getroffenen

Maßnahmen so verantwortungslos sind, daß sie die Entspannung

bedrohen. Wenn dieser Punkt erreicht ist, werden wir in dieser Krise

wie auch schon in anderen Krisen nicht zögern, eine feste Haltung

einzunehmen. Aber in diesem Augenblick bemühen wir uns noch darum,

mäßigend auf den Konflikt einzuwirken. Gegenwärtig müssen wir gegen

Maßnahmen, die wir mißbilligen, und zwar ganz entschieden

mißbilligen, die relative Zurückhaltung aufrechnen, welche die

Medien in der Sowjet-Union geübt haben, und die im Verhalten ihrer

Vertreter im Sicherheitsrat zum Ausdruck kommt.

*

S.170

KISSINGER: Wollen Sie, daß wir noch heute abend (mit den

Verhandlungen) beginnen? Sind Sie heute zur Offensive angetreten?

Ich habe nicht den Eindruck.

DINITZ: Nein.

KISSINGER: Wenn ich gewußt hätte, daß die Offensive heute nicht

beginnt, dann hätte ich früher angefangen.

DINITZ: Ich muß Ihnen sagen: Die Entscheidung, ob wir eine neue

Offensive beginnen oder nicht, hängt von unseren Fähigkeiten ab. Wir

dachten, die erforderlichen Waffen, die Bomben, die Raketen und so

weiter wären inzwischen eingetroffen.

KISSINGER: Das habe ich auch geglaubt. Woran liegt das?

*

S.159Generalstabschef Schasli (l.), Kriegsminister Ismail.*

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