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Neue Stunde - DER SPIEGEL
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FRANKREICH Neue Stunde

Wie seine Vorgänger will sich auch Staatschef Mitterrand durch kulturelle Großbauten verewigen, vor allem in Paris.
aus DER SPIEGEL 10/1982

Als am Nachmittag des 14. Juli 1789 das Volk von Paris die Bastille stürmte, war der Widerstand nur von kurzer Dauer. Aus den Kerkern der achttürmigen Stadtfestung taumelten sieben Gefangene, es waren keine Volkshelden, sondern gemeine Kriminelle.

Dennoch wurde der Sturm zur Symboltat gegen Fürstenwillkür und der 14. S.142 Juli deshalb Nationalfeiertag der Franzosen.

Minuten nur nachdem die Computer am 10. Mai 1981 den Wahlsieg des Sozialisten Francois Mitterrand verkündet hatten, sammelte sich das Pariser Volk spontan an der geschichtsträchtigen Stelle.

Von einer »neuen historischen Stunde« sprachen Politiker in der Wahlnacht 1981, als »Rebellion« des Volkes interpretierten sie die Abwahl des Präsidenten Giscard d'Estaing, als sei die Monarchie ein zweites Mal gestürzt worden. »Wir werden die Nation verändern«, versprach der neue Staatschef Mitterrand.

In diesen Wochen nun wird deutlich, daß er damit nicht nur Verstaatlichung und Arbeitszeitverkürzung, Streichung von Privatbetten in staatlichen Krankenhäusern oder der Erste-Klasse-Abteile in der Pariser Metro meinte, sondern auch der »Kultur neue Impulse geben will«, wie sein Kulturminister Jack Lang, ein Theatermann, bestätigte.

So wird denn die Place de la Bastille, schon mit Blick auf den 200. Jahrestag der Großen Revolution, renoviert, das verfügte der Präsident persönlich. An die Stelle eines 1969 stillgelegten Bahnhofs, der zum Abbruch vorgesehen ist, wird eine Volksoper gebaut.

Und weiter: Für 1989 will Frankreich versuchen, eine Weltausstellung in Paris zu organisieren, entlang der Seine vom Quai de Javel im Westen bis zum Quai de Bercy im Osten. Geschätzte Gesamtkosten: zehn Milliarden Francs.

Drei Jahre danach, so Mitterrands Pläne, könnte Paris die Olympischen Spiele von 1992 veranstalten. Für Marseille ist eine nationale Tanzschule geplant, eine Musikhochschule wird in Lyon errichtet. Im Oktober sollen die Umbauarbeiten an einer Planungsruine beginnen, die als eine der größten Fehlinvestitionen der Fünften Republik zu schmählichem Ruhm kam: der Pariser Schlachthof La Villette.

120 000 Tonnen Fleisch pro Jahr sollten dort aus getöteten Tieren geschnitten werden, über eine Milliarde Francs wurde investiert. Doch nur wenige Säue ließen in La Villette ihr Leben. Nun wird der stillgelegte Schlachthof zu einem Museum für Wissenschaft und Technik umgestaltet. Im anliegenden - geplanten - Park entsteht ein Musikzentrum mit einem Auditorium für 4000 Hörer.

»Jeder Präsident scheint sein Interesse darauf zu richten«, urteilte der oppositionelle rechte »Figaro«, »den nachfolgenden Generationen ein Zeugnis seines Handelns in Stein zu hinterlassen.« Mitterrands konservative Amtsvorgänger erteilten ihre Zustimmung zu gigantischen Projekten wie »La Defense«, dem Hochhauskomplex im Westen von Paris, oder der »Tour Montparnasse«, die das historische Bild der Stadt erheblich schädigten. Und Staatschef Mitterrand fühlt sich nach eigenen Worten »in jeder Stadt als Kaiser oder Architekt«.

Er will von Gigantismus trotz der riesigen Ausgaben nichts wissen, sondern sucht seine »Bezüge auch in der Geschichte«. So sollen sich denn seine Minister für Finanzen und Haushalt neue Büroräume suchen - die 40 000 Quadratmeter, die beide Ministerien derzeit im Louvre belegen, werden dem dort untergebrachten Museum übergeben.

Gegenüber dem Louvre, in der ehemaligen Gare d'Orsay an der Seine, entsteht gegenwärtig das »Museum des 19. Jahrhunderts«. Die Baulücken auf dem Areal, wo bis 1972 die berühmten Pariser Zentralmarkthallen standen, werden nun gefüllt, so besprachen es Stadtchef Jacques Chirac und Staatschef Mitterrand letzten Monat: Neben dem halb unterirdischen Einkaufszentrum »Forum« sollen eine olympische Schwimmhalle und - wahrscheinlich - ein Delphinarium sowie Gärten und Spielplätze angelegt werden.

Der Eiffelturm, Sensation der Weltausstellung von 1889, ist bei diesem Pariser Frühjahrsputz nicht vergessen: Neue Fahrstühle ersetzten die veralteten, bei starkem Frost unbenutzbaren Aufzüge, S.143 die Restaurants werden renoviert. Wichtiger noch: Leichtbauteile an Stelle alter Betondecken specken das Wahrzeichen der Stadt ab. Gewichtsverlust: 1000 Tonnen.

Um die historische Bastille können sich die Sozialisten nicht bemühen. Vor den Mündungen der zehn Straßen und Boulevards, die auf die heutige Place de la Bastille stoßen, ist durch farbige Steine ein Stück des Grundrisses der Festungsanlage festgehalten. Vom Staatsgefängnis selbst steht kein Stein mehr: Ein tüchtiger Bauunternehmer hatte das nach dem Sturm von 1789 demolierte Symbol der Willkürherrschaft Stück für Stück an Andenkensammler verkauft.

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