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Dünnes Eis - DER SPIEGEL
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NOBELPREIS Dünnes Eis

Gegen den Protest von Europas Christdemokraten nimmt der Kreml-Arzt Jewgenij Tschasow den Friedensnobelpreis entgegen. Auch beim Nobelkomitee wachsen Zweifel, ob die Entscheidung richtig war. *
aus DER SPIEGEL 50/1985

Seit 18 Jahren hält er das Schicksal mindestens der halben Welt in Händen. Denn er wacht über die Gesundheit der Sowjetführer: Jewgenij Tschasow, 56, Leibarzt dreier KPdSU-Generalsekretäre und Sprecher der »Internationalen Ärzte-Vereinigung für die Verhütung des Atomkrieges«.

Am Dienstag wird er stellvertretend für seine Organisation mit dem Nobelpreis ausgezeichnet - gegen den Protest der Chefs von zehn christdemokratischen Parteien Westeuropas, voran Helmut Kohl und Franz Josef Strauß.

Herzspezialist Tschasow wurde ausgebildet von Professor Wladimir Winogradow, dem einzigen unter den Ärzten des Diktators Joseph Stalin, der seinem Chef - nach dessen Einschätzung - nicht nach dem Leben trachtete. Seit 1967 leitet Tschasow selbst die IV. Hauptabteilung beim Gesundheitsministerium der UdSSR, die für die medizinische Betreuung der Kreml-Mächtigen zuständig ist.

Als Fachmann für Blutgerinnsel und Durchblutungsstörungen fand er da viel Arbeit. Er begleitete Parteichef Breschnew auf seinen Auslandsreisen (und versorgte nebenher auch Ägyptens Nasser und Syriens Assad) und mühte sich auch

um den kranken Breschnew-Nachfolger Jurij Andropow.

Am 21. Oktober 1983 wollte Tschasow seinem Chef in Moskau die Delegation seiner internationalen Friedensärzte, die jetzt mit dem Nobelpreis gewürdigt wurden, persönlich vorstellen. Doch der Patient entschuldigte sich mit seiner Krankheit. Er konnte die Delegierten nur schriftlich begrüßen. Vier Monate später war er tot.

Tschasows neuer Top-Patient, Konstantin Tschernenko, wurde am 8. Februar dieses Jahres vom »Prawda«-Chefredakteur Afanasjew krank gemeldet. Am nächsten Tag dementierte Tschasow auf einem Kongreß in Los Angeles: »Wenn ich Tschernenkos Arzt bin und hier bin, dann geht es Tschernenko gut, weil ein Arzt sonst bei seinem kranken Patienten wäre, oder nicht?« Vier Wochen später war auch Tschernenko tot.

Am meisten Fortüne schien der Kardiologe noch in der Außenwerbung des Regimes zu haben, sogar in der großen Politik. Er wurde Mitglied und - zusammen mit seinem amerikanischen Fachkollegen Bernard Lown - Sprecher des Ärztebundes gegen den Atomkrieg.

Die Bruderschaft der friedfertigen Mediziner, der 145000 Mitglieder in 41 Ländern angehören, bekennt sich zur politischen Neutralität. Jedoch, so räumt Horst Eberhard Richter von der bundesdeutschen Sektion ein, im Osten gebe es Mitglieder, die »total ideologisch fixiert« seien.

Mit der von vielen seiner Freunde im Westen propagierten Idee, im Ernstfall jede Hilfeleistung zu verweigern, hat Tschasow, wie er sagt, nur »gespielt": Solche Befehlsverweigerung würde ihm zu Hause auch schlecht bekommen. Jeder Sowjetarzt muß nach dem Gesetz im Kriegsfall als Arzt im Zivilschutz zur Verfügung stehen. Die meisten Mitglieder der internationalen Ärzte-Initiative dagegen halten Zivilschutz eher für kriegsfördernd.

Immerhin dachte Tschasow anders als Sowjetmarschall Ogarkow, der öffentlich behauptet hatte, der Atomkrieg sei gewinnbar. Inzwischen hat sich nicht Ogarkows, sondern Tschasows Meinung in Moskau durchgesetzt: In einem Atomkrieg könne es keine Sieger geben, sagt nun auch Gorbatschow.

Das hatte schon 1961 der Physiker Andrej Sacharow geäußert. Er hatte als erster einen Teststopp verlangt und sich dafür den Zorn des Regimes zugezogen. Im August 1973 warnte Sacharow West-Journalisten vor einer »Entspannung zu Moskauer Bedingungen«, ohne Beachtung der Menschenrechte. Diese Art von Entspannung, so sagte er, fördere eine abgekapselte Gesellschaft, in der die Wirklichkeit versteckt wird.

Im ganzen Sowjetland brach daraufhin eine Kampagne gegen Sacharow los. Tschasow und 24 Kollegen fühlten sich »beleidigt«. Sie unterschrieben eine Erklärung, in der es hieß, Sacharow diene der Feindpropaganda und arbeite für die »aggressivsten imperialistischen Kräfte«. Darauf sagte Schriftsteller Günter Graß, auch er gegen eine Entspannung »um jeden Preis«, eine Moskau-Reise ab.

Tschasow stieg auf zum Lenin-Preisträger, zum Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Abgeordneten des Obersten Sowjet. Er wurde sogar ZK-Mitglied und schließlich Auslandsreisender in Sachen Frieden. Sacharow empfing zwar den Friedensnobelpreis, wurde aber in die Verbannung geschickt, obwohl die Menschenrechte 1975 in die Schlußakte von Helsinki aufgenommen wurden, wie Sacharow es verlangt hatte.

Fortan denunzierte Tschasow den Verfolgten nicht mehr. Er saß zwar im Obersten Sowjet, dessen Präsidium dem Oppositionellen Sacharow alle Orden und Auszeichnungen aberkannte. Aber er hatte selbst - ebenso wie die anderen Abgeordneten - keinen Einfluß auf die Entscheidung. Als er sich in der Anti-Atom-Bewegung der Mediziner engagieren durfte, warnte Sacharows Akademie- und Leninpreis-Kollege Tschasow in Warrenton (USA) davor, den ärztlichen Appell ans Weltgewissen durch politische Erklärungen zu gefährden.

Tschasow nimmt für seine Ärzte am Tag der Menschenrechte den Friedensnobelpreis in Empfang - und revidiert in Kreml-Sicht damit jene sowjetfeindliche Ehrung, die zehn Jahre zuvor Andrej Sacharow, der immer noch Verbannte, erfahren hatte.

In Oslo mehren sich derweil die Zweifel an der Lauterkeit des Laureaten. Am Freitagabend, vier Tage vor der feierlichen Übergabe, teilte das Nobelkomitee mit, man sei über den Tschasow-Brief in Sachen Sacharow »sehr unglücklich«.

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