Wer sich nach Straßenfußballern sehnt, kann in Portugal noch fündig werden. In den Armenvierteln von Europas Südwesten wachsen die Kinder oft unter so prekären Bedingungen auf, dass draußen immer besser ist als drinnen. Für die meisten bleibt es ein Leben lang dabei. Andere kommen irgendwann auf eine Fußball-Akademie, und manchmal wird ihre schwierige Herkunft dann sogar zum Qualitätsmerkmal.
Renato Sanches ist so ein Fall. Der 18-Jährige bringt es sogar schon als Teenager zum Rekordeinkauf des FC Bayern München – denn zu den 35 Millionen Euro Grundablöse kommen noch 45 Millionen Euro an leistungsabhängigen Zusatzzahlungen, wie sein alter Klub offiziell mitteilte, das börsennotierte Benfica Lissabon.
Die portugiesische Sportzeitung „Record“ glänzte am Mittwoch mit Details: 20 Millionen sollen sich auf die Aufnahme unter die Top drei bei der Weltfußballerwahl oder in die Weltelf des Jahres beziehen, 25 Millionen jedoch auf die bloße Einsatzzeit. Alle 25 Pflichtspiele werden demnach fünf Millionen Euro fällig. Die 40 Millionen für Javi Martinez vor vier Jahren an Athletic Bilbao dürften also nicht allzu lange Vereinsmaßstab bleiben.
Er kostete einst 750 Euro Ablöse
Selbst mit der Basissumme ist Sanches schon der teuerste einheimische Profi, den die portugiesische Liga jemals verkauft hat. Und auch wenn am Ende nur die Hälfte der europäischen Großklubs an ihm interessiert gewesen sein mochte, deren Namen sein versierter Staragent Jorge Mendes streuen ließ, gilt der Preis in der Branche nicht als überteuert. Dank Renatos beeindruckender Physis und tadelloser Technik. Dank seiner erstaunlichen Reife. Sowie natürlich: der „street credibility“.
Sanches stammt aus dem Viertel Musgueira hinter dem Lissaboner Flughafen, an den dortigen Klub bezahlte Benfica einst die Ablöse von 750 Euro. Seine Mutter kommt von den Kapverden, der Vater aus Sao Tome. Renato konnte nicht mal sprechen, als der Senior schon wieder weg war. Erst mit fünf wurde er vom Einwohnermeldeamt erstmals registriert.
Da kickte er schon längst. „Er vermischt Professionalismus mit der Freude der Straße“, erklärte also etwa Benfica-Chefcoach Rui Vitoria vor einem guten Monat. „ Wir sollten einen Spieler wie ihn schätzen, denn so etwas gibt es nicht mehr oft. Renato hat Eigenschaften, die den Fans gefallen, weil sie dem Fußball fehlen. Er ist kein normaler Mittelfeldspieler, der Sicherheitspässe spielt, als ob er eine Maschine wäre.“
Wem der Fußball des FC Bayern in den letzten Jahren vielleicht manchmal etwas zu akademisch daherkam, der kann sich also über eine frische Brise Anarchie freuen. Wie auf der Straße geht Renato bis heute auf dem Platz keiner Herausforderung aus dem Weg. Sein Spiel folgt der Prämisse, immer mittendrin zu sein. Und sein Charakter verlangt das auch.
In der Jugend gab es deshalb bei Benfica auch Probleme. Einer seiner Ex-Trainer, Renato Paiva, erzählte gerade der Zeitschrift „Expresso“ die Anekdote, wie er die Mannschaft vor einem Turnier in Irland aufforderte, die Eckbälle kurz auszuführen, um die kopfballstarken, aber unbeweglichen britischen Verteidiger auszuhebeln. Woraufhin Renato Sanches den Mitspielern hinter dem Rücken des Trainers zu verstehen gab, was er davon hielt: „Die Ecken schlagen wir direkt in den Strafraum, wir wollen doch Tore schießen.“
Fährt Sanches noch zur EM?
An Selbstbewusstsein und Führungsqualitäten mangelt es nicht, das betont Paiva: „Wäre er noch ein zweites Jahr bei der ersten Mannschaft von Benfica geblieben, wäre er dort nächste Saison schon einer der Leader in der Kabine gewesen.“ Nun geht er nach nicht mal einer vollen Spielzeit.
Erst im Oktober holte ihn Rui Vitoria von der zweiten Mannschaft in seine damals auf Platz vier dümpelnde Erstligatruppe. Ab seinem ersten Ligaeinsatz von Beginn an bei Sporting Braga begann eine erstaunliche Serie. Mit Renato in der Stammelf hat Benfica von 24 Spielen 22 gewonnen. Ausgerechnet, wo jetzt am letzten Spieltag die Entscheidung im Fernduell um den Titel mit Lokalrivale Sporting ansteht, fehlt er allerdings wegen einer Gelb-Rot-Sperre.
Dauerthema ist er trotzdem. Wegen seines Wechsels, aber auch wegen der Frage, ob ihn Nationaltrainer Fernando Santos nach seinem Länderspieldebüt im März auch mit zur EM nehmen soll. Der Coach hat sich noch nicht festgelegt. Viele Beobachter finden, Renato solle lieber zu den Olympischen Spielen fahren. Wobei die Bayern da jetzt ein Wort mitreden dürfen; eine Abstellungspflicht gibt es nicht.
Debattiert wird auch immer wieder über sein Spiel. Das Plädoyer von Rui Vitoria über den Straßenfußballer, es fiel in diesem Zusammenhang. Kritiker bemängeln, dass er seine Position zu oft verlasse und oft die falsche Passoption wähle. Sie übersehen dabei allerdings oft, dass er für seine Trainer, jedenfalls bisher, nie ein Kandidat für die taktisch so wichtige Position direkt vor der Abwehr war. Diese würde seine Dynamik wohl auch unnötig beschneiden. Renato ist, bisher jedenfalls, ein Box-to-box-Player, wie die Engländer sagen. Ein Achter nach kontinentaleuropäischer Nummernlehre. Oder in Bayern-Terminologie: ein Vidal, kein Xabi Alonso.