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Walhall der Autoren - DER SPIEGEL
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Literaturgeschichte Walhall der Autoren

Wer ist wichtiger, Shakespeare oder Proust? Ein US-Professor sagt, welche Autoren ins literarische Notgepäck gehören.
aus DER SPIEGEL 44/1994

Über zwei der drei Bücher, die er auf die einsame Insel mitnähme, braucht Harold Bloom nicht lange nachzudenken: Shakespeares Werke und die Bibel, in dieser Reihenfolge. Erst beim dritten zögert er. Soll es Dante sein, der Jenseitsvisionär, oder Proust, der erbarmungslose Psychologe, oder gar Kafka? Und wo bleiben dann Cervantes, Tolstoi und Goethe?

Spaßig jedenfalls findet Bloom, 64, die alte Partyfrage keineswegs. »Zerfall greift um sich, das Zentrum hat nicht standgehalten«, schreibt der streitbare Literaturwissenschaftler, der in Yale und New York lehrt, in seinem jüngsten Buch elegisch. »Pure Anarchie wird demnächst über das hereinbrechen, was einmal ,Gelehrsamkeit' hieß.«

Heraufbeschworen hätten die drohende Apokalypse des Bildungssystems seine Fachkollegen, die sich mit vielem anderen wie Emanzipation und Klassengegensätzen befaßten, nur nicht mehr mit den großen Werken der Weltliteratur. Dagegen setzt Bloom, der beängstigend belesene Enthusiast, nun sein höchst persönliches Testament: »The Western Canon«, eine Galerie literarischer Großmeister seit Dante.

Allerdings: Mit nur drei Gestalten mochte sich der für flackernden Witz, gewagte Thesen und konservative Gesinnung berüchtigte Gelehrte nicht begnügen. 26 Autoren immerhin, so viele wie das Alphabet Buchstaben hat, nimmt er auf in seine »Liste der Überlebenden«, die eiserne Ration für jene nicht fernen Tage, wenn »die zeitgenössischen ,politisch' und ,kulturell' orientierten Kritiker« gesiegt haben, »die unser Bildungswesen zugrunde richten«.

Shakespeare allein, so Bloom sarkastisch, könne es zwar schon locker aufnehmen mit dieser politisch korrekten »Schule des Ressentiments«, die sich gegen jeden Lektürekanon sträube - zum Beispiel jene, die aus alten Dichtungen bloß Indizien für das soziale Kräftespiel eines Zeitalters herausläse.

Für ebenso immun gegen das Vergessen aber hält er auch Cervantes und Milton, Joyce und Beckett, Neruda und Borges. Deutschsprachig sind in seinem literarischen Walhall nur Goethe, Kafka und - erstaunlich genug - Sigmund Freud, der laut Bloom als »großer Essayist« überleben wird. Die übrigen Klassiker, ob Ariost oder Sterne, Hölderlin oder Musil, können froh sein, daß sie in einen erweiterten Katalog aufgenommen wurden, nachgereicht am Ende des dicklichen Manifests.

Doch der Streit darum, wer genau die Helden sein sollen, ist für den Polterer gar nicht so entscheidend. Leselisten gibt es viele. Bloom hingegen ist ästhetischer Darwinist: Alle Kunstwerke kämpfen für ihn im Strudel der Tradition gegeneinander ums Überleben. Indem er sagt, welche er für die stärksten hält, möchte er eine Grundsatzdiskussion in Gang bringen.

Denn seine Auswahl, grob sortiert in ein »aristokratisches«, ein »demokratisches« und das heutige, das »chaotische« Zeitalter, ist eine Anklage. Über dem Theoriegeplänkel der vergangenen Jahre, im Wechselbad von Dekonstruktion, Feminismus oder Neuem Historismus, sei die Hauptsache sträflich vergessen worden: der künstlerische Wert an sich. »Originalität«, so Bloom, »ist der große Skandal, mit dem sich das Ressentiment nicht abfinden mag.«

Worin sie besteht, verrät der wortgewaltige Bücherwurm freilich auch nur in ein paar ketzerischen Andeutungen. »Die dümmste Art, den Westlichen Kanon zu verteidigen«, schreibt Bloom etwa, sei die Behauptung, in der Dichtung verberge sich Ethik oder gar ein »Fundus verbindlicher Werte und demokratischer Prinzipien«.

In Wahrheit hätten literarische Werke doch gerade um ihrer subversiven »Seltsamkeit« willen Bestand. »Die größten Schriftsteller des Westens unterlaufen stets alle Werte, unsere und ihre eigenen.« Wer von ihnen Moral lernen wolle, werde sich rasch in ein »Ungeheuer an Egoismus und Ausbeutertum« verwandeln. Lernen könne man aus der Lektüre der Klassiker einzig und allein »die sinnvolle Verwendung der eigenen Einsamkeit«.

Solche Thesen, das weiß Bloom, sind bei vielen Zunftgenossen als elitär verpönt. Sie verteidigen weiter die erzieherische »Relevanz« der Dichtung und plädieren für eine »Öffnung des Kanons«, um endlich auch den bisher ignorierten, von »toten weißen europäischen Männern« verdrängten Autoren - aus Afrika oder Indien beispielsweise - zu ihrem Recht zu verhelfen. Bloom findet das schlimm. Auch jeder Gegen-Kanon bleibe ein Elite-Phänomen. Und überhaupt: Nationen-Proporz statt ästhetischem Rang, das sei doch »sozialer Faschismus, ungeheuerlich«.

Starke Worte. Aber der alte Traditionalist ist Widerspruch gewohnt und gibt mit ingrimmiger Lust Contra. Der »Tod des Autors« etwa, den manche Kollegen noch immer zelebrieren, beeindruckt ihn nicht im mindesten. »Shakespeare hat 38 Stücke verfaßt, davon 24 Meisterwerke. Soziale Energie hat niemals auch nur eine Szene geschrieben.«

Wenn ihm die hochtrabenden Weisheiten seiner Widersacher zu bunt werden, dreht Bloom spaßeshalber einfach mal die Blickrichtung um: »Shakespeare, das vergessen wir gern, hat uns zum großen Teil erfunden. Ohne Shakespeare wären wir nicht wir selbst« - sogar jene, die noch nie eine Zeile von ihm gelesen oder gehört hätten.

Daß Kunstwerke nichts sozial Nützliches seien, falle doch schließlich nicht unter seine Verantwortung. Ein rechter Moralapostel jedenfalls sei er bestimmt nicht, beteuert Bloom. Gegen multikulturelle Lebensformen habe er überhaupt nichts. Und listig fährt er fort: »Wenn Multikulturalismus auch Cervantes bedeuten kann, wer hätte da noch Einwände?« Y

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