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Meinung Konservatismus

Der Satz „Merkel muss weg!“ ist der Gipfel der Ohnmacht

Merkel wird von manchem Konservativen vorgeworfen, treibende Kraft einer "linken Revolution der Eliten" zu sein Merkel wird von manchem Konservativen vorgeworfen, treibende Kraft einer "linken Revolution der Eliten" zu sein
Merkel wird von manchem Konservativen vorgeworfen, treibende Kraft einer "linken Revolution der Eliten" zu sein
Quelle: picture alliance / Kay Nietfeld/
Die Gegner der Bundeskanzlerin in der Union verkennen, dass die Partei in der Mitte mehr Stimmen gewinnt, als sie am Rand verliert. Ein erfolgreicher Konservatismus muss mit der Zeit gehen – ohne dabei seine Werte über Bord zu werfen.

Der große Liberale Ralf Dahrendorf sagte einmal: „Eine Welt ohne Grenzen ist eine Wüste, eine Welt mit geschlossenen Grenzen ein Gefängnis. Die Freiheit gedeiht in einer Welt offener Grenzen.“

Am Streit über Grenzen wäre die Union fast zerbrochen. Die Flüchtlingskrise ist zur Krise der letzten deutschen Volkspartei geworden. Was wird aus CDU und CSU? Spaltet sich nach dem linken auch das konservativ-bürgerliche Lager mit nicht absehbaren Folgen für die Parteiendemokratie?

So, wie es einst war, wird es nicht wieder werden. Die Wertewelt des politischen Konservatismus ist gespalten. Während das eine Lager sein Heil in der Vergangenheit sucht, ist das andere den Bürgern zu weit voraus. Es fehlen Antworten auf die neue Entfremdung zwischen Parteien und Bürgern und eine gemeinsame Vorstellung von der Zukunft.

Integrativ, unitarisch und progressiv – das war der dreifache Auftrag der Unionsparteien nach dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus. Die konfessionelle Spaltung überwinden, die Einheit des bürgerlichen Lagers bewahren und den rechten Rand klein halten.

CDU/CSU entstanden aus den Trümmern einer diskreditierten konservativ-rechtsgerichteten Tradition. Ohne ihre gesellschaftliche Integrationsleistung hätte die Geschichte der deutschen Demokratie nach 1945 einen anderen Verlauf genommen. CDU/CSU hatten damals keine andere Wahl, als den Konservatismus in Deutschland neu zu erfinden.

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Heute, bald 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, versucht die CSU einseitig den Markenkern der Union neu zu definieren. Nach dem historisch schlechten Abschneiden bei der Bundestagswahl im Herbst letzten Jahres hat ihre Führung dazu aufgerufen, die rechte Flanke zu schließen. Nicht mehr „konservativ-liberal“, sondern als „Mitte-rechts-Partei“ soll sich die CSU positionieren.

„Rechts von der CSU (darf es) keine demokratisch legitimierte Partei geben“ – die Parole von Franz Josef Strauß, auf die sich die Parteispitze beruft, stammt jedoch aus der Zeit eines durch eine klare Lagerstruktur geprägten Parteiensystems. Heute ist dieses weitgehend entideologisiert.

Die Folgen dieses Trends – die Stammwähler werden weniger, die Volatilität steigt – sind aber auch eine Chance. Verluste an den Rändern können durch Zugewinne in der Mitte mehr als ausgeglichen werden. Der Wertewandel ist kein Nullsummenspiel für eine Volkspartei. Im Gegenteil. Er wird zum Positivsummenspiel für Parteien, die mit der Zeit gehen, ohne dabei ihre Werte über Bord zu werfen.

Die CSU hat diesen Wertewandel verschlafen. Sie verliert besonders stark ihre gesellschaftliche Bindekraft. Bei der letzten Bundestagswahl konnte sie nur ein Drittel und nicht wie früher fast die Hälfte der Wahlberechtigten zur Stimmabgabe bewegen.

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Im Unterschied zu SPD und CDU war der Einbruch der CSU bei der letzten Bundestagswahl mit mehr als zehn Prozentpunkten der höchste. Die CSU ist zum Gejagten eines Machtanspruchs geworden, der sich ohne absolute Mehrheit nicht behaupten kann. Ihre Strategie, sich auf den Übergangsbereich von eigenen Hardlinern zu potenziellen Abwanderern zur AfD zu konzentrieren, geht nicht auf. Wer Hase und wer Igel ist, zeigen aktuelle Umfragen.

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Gestärkt wird die AfD, die viele für das Original in Sachen Ausländerfeindlichkeit und nationaler Abschottung halten. „Wir halten, was die CSU verspricht“, plakatiert die neue Rechte in Bayern. Stark war sie zuletzt in jenen Regionen, wo sich die Union mit klarer Kante konservativ gab: in Bayern und Sachsen.

Während die sächsische CDU mit ihrem neuen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer inzwischen einen anderen Kurs eingeschlagen hat, steuert die CSU weiterhin auf den Untergang zu. Sie hat ihr Gespür für die Wähler und ihre Fähigkeit, in weiten Linien zu denken, verloren. Ihr Anspruch, alles rechts von der Mitte integrieren zu können, passt nicht mehr in eine Zeit, in der Kategorien wie „links“ und „rechts“ diffundieren.

Das gilt nicht nur für die CSU, sondern für das gesamte alte bürgerliche Lager. Angefangen von der AfD bis hinein in Teile der FDP, CDU und CSU ist die Merkel-CDU um Annegret Kramp-Karrenbauer, Ursula von der Leyen, Armin Laschet, Daniel Günther und Volker Bouffier für das Lager des rechts-nationalen Konservatismus längst zu „links“ beziehungsweise „linksgrünversifft“.

Die „konservative Revolution“ richtet sich gegen die „linke Revolution der Eliten“ (Alexander Dobrindt) – und zu dieser wird auch die Merkel-CDU gezählt. Ihr Kern ist das Gefühl, im eigenen Land fremd zu sein und von Gutmenschen und Moralaposteln majorisiert zu werden. Die große Mehrheit der sich abgehängt Fühlenden sind Männer im mittleren Alter. Der Gipfel ihrer Ohnmacht ist der Satz „Merkel muss weg!“.

Und dann ist alles wieder gut? Die „Sozialdemokratisierung“ der CDU wird seit Langem von vielen in der Union, der FDP und einigen altkonservativen Publizisten für die Ursache allen Übels gehalten. Ihre verbreitete Auffassung, dass alles halbwegs gut lief, bis Merkel im Jahr 2015 Flüchtlinge zu Hunderttausenden unkontrolliert ins Land ließ, ist eine Legende. Die Grenzen waren nie geschlossen.

Weder die Flüchtlingskrise noch die „Sozialdemokratisierung“ der CDU sind die Ursachen für die neue Spaltung. Die Abwanderer, die der CDU zu Millionen in den letzten Jahren den Rücken kehrten, sehen sich laut einer Analyse des Demoskopen Manfred Güllner nicht rechts von der CDU, sondern eher links von den CDU-Stammwählern.

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Die Unionsparteien wurden bislang überdurchschnittlich stark von Frauen gewählt. Die Wähler der CSU unterscheiden sich in ihren gesellschaftspolitischen Einstellungen auch nicht von denen in anderen westlichen Bundesländern. Das zeigt auch der Erfolg der neu gegründeten Plattform „Union der Mitte“. Fast jeder zweite ihrer Unterstützer kommt aus Bayern. Der CSU-Wähler lebt zwar in Bayern, aber nicht in einer anderen Welt.

Der deutsche Konservatismus steht an einer Zeitenwende. Der britische Publizist David Goodhart hat diese Wende in seinem 2017 erschienenen Buch „The Road to Somewhere“ beschrieben. Er sieht zwei Wertewelten, die sich unversöhnlich gegenüberstehen: die Welt der Bürger und die der Eliten. Während Letztere als „Anywheres“ beinahe überall auf der Welt zu Hause sind, sind Erstere als „Somewheres“ auf ihre lokale Heimat festgenagelt.

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Die Anywheres gehören zur meinungsbildenden Elite, verfügen über einen hohen Bildungsstand und ein auf ihrem beruflichen Erfolg beruhendes Selbstbewusstsein. Die Somewheres lehnen den permanenten Wandel ab und bejahen den Satz: „Das Land hat sich in letzter Zeit bis zur Unkenntlichkeit verändert. Es fühlt sich manchmal wie ein fremdes Land an, was in mir Unwohlsein auslöst.“ Gegenüber Migration, dem Wandel der Geschlechterrollen und der Überbetonung höherer Bildung sind sie weit skeptischer. In einem kosmopolitischen, liberalen und weltoffenen Land fürchten sie den Verlust ihrer kulturellen Sicherheit. Wo sich die Anywheres zu den Gewinnern zählen, fühlen sich die Somewheres als Modernisierungsverlierer.

In Deutschland fällt die Kluft zwischen den Wertewelten nicht so drastisch aus. Laut einer Allensbach-Studie umfasst das Lager der Weltoffenen, die Zuwanderung und Globalisierung positiv bewerten, 20 Prozent, während die Abschotter, die Freihandel und Flüchtlinge ablehnen, circa zehn Prozent ausmachen. Das heißt, mehr als 70 Prozent der Deutschen ordnen sich keiner dieser beiden Wertewelten zu, sondern verorten sich in der politischen Mitte. Zwei Drittel der Deutschen fürchten laut einer aktuellen Umfrage einen Rechtsruck und beklagen eine zunehmende Verrohung der Sprache in der Politik. Dieser großen Mehrheit macht derzeit keine Partei ein überzeugendes Angebot. Nicht die Ränder, die Mitte ist in Deutschland heimatlos.

Ein Konservatismus, dessen Kern die Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ ist, ist nicht zukunftsfähig. Das Gefährliche an ihm ist seine Neigung, die tatsächliche mit einer idealen Heimat zu verwechseln. Der im letzten Jahr verstorbene Philosoph Zygmunt Bauman spricht in seinem letzten Buch von „Retropien“: Visionen, die sich aus einer verlorenen Vergangenheit speisen. Ein Konservatismus, der an der Vergangenheit mehr Freude hat als an der Zukunft, ist alt und hat sich überlebt. Die Zeiten homogener Gesellschaften, traditioneller Familien und von Parteien, die alles zusammenhielten, sind passé. Die alte Welt ist versunken, eine neue erst in Umrissen erkennbar.

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Ein zukunftsfähiger Konservatismus muss Antworten auf die neuen Herausforderungen einer älter und bunter werdenden Gesellschaft geben. In einer komplexen Welt hilft nur komplexes Denken. Einfache Lösungen führen zu weniger und nicht zu mehr Sicherheit. Wo der alte Konservatismus das „starke Deutschland“ allein in der Vergangenheit sucht, verfolgt der neue eine Balance aus gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Liberalität und konsequenter Sicherheitspolitik. Der moderne Konservative beklagt nicht den Untergang des Abendlandes und zieht sich nicht auf das Eigene zurück, sondern ist weltoffen, liberal und neugierig auf die noch fremde Zukunft.

In einer Welt offener Grenzen muss der neue Konservatismus insbesondere die Frage nach Heimat und Zusammenhalt beantworten. „Das Rendezvous der Deutschen mit der Globalisierung“ (Wolfgang Schäuble) vor drei Jahren traf die Deutschen unerwartet. Die Bundeskanzlerin hat (zu) lange versucht, die Bürger vor den neuen Herausforderungen zu bewahren. Dabei ist die Wahrheit den Bürgern durchaus zuzumuten. Afrika und die arabische Welt sind unsere neuen Nachbarn. Nachbarn, um die wir uns kümmern müssen, auch aus aufgeklärtem Eigeninteresse. Fluchtursachen zu bekämpfen und Wohlstand auch außerhalb von Europa zu ermöglichen wird nur in einer Welt offener Grenzen funktionieren.

In den nächsten Jahren wird es darum gehen, Demokratie und Vielfalt zu verbinden. Nur wenigen Gesellschaften ist es gelungen, beides zu sein: multiethnisch und demokratisch, schreiben die beiden US-Professoren Steven Levitsky und Daniel Ziblatt in ihrem aktuellen Bestseller „Wie Demokratien sterben“.

Mit der Integration der Arbeiterklasse in die liberale europäische Demokratie ist vor hundert Jahren eine ähnliche Leistung gelungen. In den USA wurden Generationen an Einwanderern aus Italien, Deutschland und Asien erfolgreich integriert. Viele Unternehmensgründer im Silicon Valley haben einen Migrationshintergrund. „Unsere Unterschiede vereinen uns“, steht auf den Trikots des neuen Fußball-Weltmeisters Frankreich.

Es geht darum, zu verhindern, dass die Demokratie, die wir bislang für selbstverständlich hielten, von innen, von uns selbst zerstört wird. Dafür braucht es einen modernen Konservatismus, der das Feuer an die nächste Generation überträgt – und nicht seine Asche anbetet.

Autor Daniel Dettling ist Zukunftsforscher. Zuletzt erschien: „Wie wollen wir in Zukunft leben? Eine Agenda für die Neo-Republik“.
Autor Daniel Dettling ist Zukunftsforscher. Zuletzt erschien: „Wie wollen wir in Zukunft leben? Eine Agenda für die Neo-Republik“.
Quelle: pa/ZB/Johannes Eisele

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