Die lobenswerte Stiftung Palazzetto Bru Zane macht sich seit 15 Jahren mit immerhin 1,2 Millionen Euro Budget im Jahr für die Sichtbarkeit und Verbreitung französischer Musik des 19. Jahrhunderts stark. Und das nicht nur in deren Heimatland. Seit einiger Zeit stehen auch hier Komponistinnen im Fokus, die noch mehr vernachlässigt wurden als ihre männlichen Kollegen. Deshalb hat man Symposien und Festivals arrangiert und natürlich auch CDs veröffentlicht.
Eine nicht genug zu preisende Box mit acht CDs widmete sich gleich 20 „Compositrices“ und brachte völlig unbekannte Namen wie Mel Bonis, Marthe Bracquemond, Hedwige Chrétien, Marie-Foscarine Damaschino, Jeanne Danglas, Clémence de Grandval und andere aufs Tapet. Einige, wie etwa Louise Farrenc, werden auch anderweitig bereits wieder gespielt, andere tauchen erstmals dank der Bru-Zane-Recherchen wieder aus der eben nicht mehr klingenden Vergangenheit auf. Dazu gehören auch die in Paris geborene Tochter irisch-schottischer Eltern Augusta Holmès (1847–1903) und Louise Bertin (1805-77). Von denen jetzt innerhalb von wenigen Tagen zwei Opern als deutsche Erstaufführungen in Dortmund und Essen gezeigt wurden.
Holmès’ „La Montagne Noire“, ein lyrisches Drama in vier Akten und fünf Bildern, das aber ganz entschieden ein Grand-Opéra-Nachzügler ist, wurde 1895 an der Pariser Opéra uraufgeführt – als erst drittes Werk einer Komponistin dort – und galt als Flop. Obwohl sich Claude Debussy durchaus lobend über die Musik der auch amourös gut vernetzten, bei César Franck ausgebildeten, von Camille Saint-Saëns als „Muse“ verehrten Künstlerin geäußert hatte. Besonders wurde das angeblich schwache, sich an Wagner wie slawische Mythen anlehnende Libretto der Komponistin kritisiert.
„Der schwarze Berg“ erzählt von den montenegrinischen Kriegern Mirko und Aslar. Aus einer Schlacht gegen die Türken zurückgekehrt, schwören sich die beiden als Blutsbrüder ewige Treue bis in den Tod. Im finalen Sieg über die osmanischen Truppen rettet Mirko die schöne Türkin Yamina. Er verliebt sich, obwohl er eigentlich mit Héléna verlobt ist, in diese typische Opern-Femme-Fatale, verlässt die Freundin und begeht Hochverrat an Montenegro. Aslar verfolgt ihn, um die Ehre seines Bruders wiederherzustellen.
Bedröppelte Machos
Am Theater Dortmund glaubt man an die Qualitäten von Holmès, deren chorumtoste Musik opulent spätromantisch aufschäumt und die gerade als Frau keine Scheu hat, männliche Heldenmythen zu zerstören. Die balkanischen Kerle, sonst ganz besondere Machos, stehen befangen und bedröppelt da. Und am Ende überlebt die Frau, die unbewusst aber willfährig der Grund allen Übels geworden ist, einen Keil in die scheinbar unverbrüchliche Freundschaft getrieben hat.
Am Dirigierpult kocht Motonori Kobayashi das mit vielen Dezibel hoch, hier entfaltet sich pure Leidenschaft, Vaterlandsliebe und Herzschmerz zwischen Volkstänzen und aparten Folklorismen. Emely Hehl besorgte die eher konventionelle Inszenierung mit farbenprächtigen Kostümen (Emma Gaudiano) und einem Kastenbühnenbild (Frank Philipp Schlößmann), das sich, so wie das Innere der Protagonisten, erst langsam öffnet.
In Dortmund spielt man erstmals überhaupt den einst gestrichenen Schluss mit der triumphierenden Verführerin: Aude Extremo als Yasmina, die nach einem farbenprächtig exotischen Fest das Letzte aus ihrer dankbaren Rolle vokalquetscht. Mirko, von der Regie schon vorher auch noch zum Esel herabgewürdigt (Sergey Radchenko ist ein anrührend gebrochener Tenorheld), zieht hingegen den Kürzeren: Er wird um die Ehre, seine Ex-Freundin, ja sein Leben gebracht.
Das durfte selbst Ende des 19. Jahrhunderts im aufkeimenden Symbolismus als Schöpfung einer Frau (noch) nicht sein. Nun aber ist zu sehen und hören, wie der satttönende Bariton Mandla Mndebele als am Ende im feindlichen Kugelhagel sterbender Aslar vorher den Blutsbruder aus einem falsch verstandenen Ehrbegriff heraus tötet und die Kirche den Mord zur Opferung eines angeblichen Helden umdeutet. Der männlich dominierten Operngesellschaft des späten 19. Jahrhunderts hatte man das erspart. Dafür bricht jetzt die famose montenegrinische Gusla-Spielerin und Sängerin Bojana Pekovic die Tableauhaftigkeit und kulturelle Aneignung dieser Epoche.
So abstrakt-naturalistisch sich der „Schwarze Berg“ in Dortmund zeigt, so regietheaterhaft verfremdet geht es in Essen zu, wo Tatjana Gürbaca waltet. Hier, wo man Louise Bertin, die Pariser Opéra-Vorgängerin von Augusta Holmès zu ihrem Recht kommen lässt, muss die Regisseurin auch als Hauptdarstellerin szenisch ran. Die originale Sopranistin ist krank geworden, von der Seite singt unerschrocken gekonnt Netta Or, ihre nicht eben kleine Partie aus den Noten. Und Gürbaca ist Gretchen, spielgewandt im roten Kleidchen, oder besser: Margarita.
An der Essener Aalto Oper spielt man nämlich nicht Louise Bertins „Notre-Dame“-Variation „Esmeralda“, die an der Opéra schon 1837 die Musiktheaterkarriere der querschnittsgelähmten Verlegertochter wieder beendete, sondern deren Überraschungserfolg von 1831 am Théâtre Italien, die erste Oper überhaupt nach Goethes „Faust“ (Spohr komponierte 1816 nach Klinger und Kleist). Dieser „Fausto“ wurde im Juni 2023 vom Palazzetto Bru Zane in Paris eindrücklich konzertant wiederbelebt, in der ursprünglichen Fassung mit Faust als Mezzo. Klanglich ist das eine ganz ihrer Zeit verpflichtete Musik, mit Anklängen an Mozart wie Weber.
Besonders rustikal rumsen lassen kann es der in Essen erst etwas flügellahm, dann flotter taktierende Andreas Spering. An den gleichzeitig herausgekommenen „Robert der Teufel“ von Meyerbeer erinnern die höllisch höhnenden Szenen in der Hexenküche, wo der in Fifties-Outfits eingekleidete Chor spöttisch auftrumpft und Almas Svilpa als Mefitofele diabolisch stimmglitzert. Der lag vorher noch als Toter unter dem Seziermesser des mürrischen Doktors (in Essen singt, wie bei der Uraufführung, ein Tenor: der stimmlich fast unterforderte Mirko Roschkowski). Denn wir sind in einer kühlweißen Klinik/Schwesternschule (Bühne: Marc Weeger); Gürbaca möchte so die geschlossene Atmosphäre der engen Gemeinschaft betonen, die Margarete scheinbar erstickt.
Die vier Akte der Bertin hat 30 Jahre später auch Charles Gounod für sein viel populäreres „Faust“-Szenario übernommen, angereichert um Kirchenszene und Walpurgisnacht. Bei ihr geht es eher spielopernhaft rasch zu. Gürbaca versucht, sich einen satirischen Blick auf die bloßgestellt spießige Bourgeoisie zu bewahren, wo es Fausto ist, der sich alles selbst einbrockt. Ein Kollateralschaden auch hier: der früh getötete Valentino des baritoncharmanten George Vîrban.
Eine Repertoireoper wird „Fausto“ angesichts der thematischen, eben männlichen Musiktheaterkonkurrenz nicht werden. Aber eine bedeutende, interessante Ausgrabung ist er allemal. Und jetzt möchte man gern auch die „Esmeralda“ Bertins und eine der anderen Holmès-Opern kennenlernen. So viel Frauenpower im Opernpott.