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Deutschland Sexuelle Gewalt gegen Kinder

34.000 Aktenschränke menschlicher Abgrund

Korrespondent
Zerstörte Kindheit: Die Ermittlungskommission "Berg" in Köln deckt immer weiter ein weitverzweigtes Missbrauchsnetz auf Zerstörte Kindheit: Die Ermittlungskommission "Berg" in Köln deckt immer weiter ein weitverzweigtes Missbrauchsnetz auf
Zerstörte Kindheit: Die Ermittlungskommission „Berg" in Köln deckt immer weiter ein weitverzweigtes Missbrauchsnetz auf
Quelle: pa/dpa/Guido Kirchner
Der Missbrauchskomplex in Nordrhein-Westfalen ist in seinem Ausmaß kaum noch zu greifen. Polizisten bekommen Einblicke, die die „Vorstellungskraft der meisten Menschen sprengen“. Und die Fallzahlen dürften weiter steigen.

Die Spezialeinheit schoss mit einer Schrotflinte die Haustür auf und überwältigte einen Mann im Wohnzimmer. Es musste am 13. Mai dieses Jahres in Baden-Württemberg schnell gehen, deshalb hatte sich die Polizei für diesen ungewohnt gewaltsamen wie überraschenden Einsatz entschlossen. Die Beamten sollten verhindern, dass der Tatverdächtige noch in letzter Sekunde wichtige Beweismittel vernichtet – Fotos, Videos oder Chats löscht.

Der Mann wurde am selben Tag dem Amtsrichter vorgeführt und aufgrund der Beweislage gleich in Untersuchungshaft genommen. Die vorläufige Festnahme ist ein weiterer Fahndungserfolg für die Ermittlungskommission „Berg“ der Polizei Köln, die seit sieben Monaten ein weitverzweigtes Netz von Kinderschändern in Deutschland aufdeckt. Der überwältigte Baden-Württemberger könnte eine zentrale Rolle als Administrator bei Chats im Internet gespielt haben, in denen die Täter Aufnahmen von selbst verübten Verbrechen und auch Vergewaltigungsfantasien austauschen – und weitere Taten planen.

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Inzwischen haben die Kölner Ermittler unter Leitung von Kriminaldirektor Michael Esser bundesweit 72 Tatverdächtige identifiziert. 44 Opfer im Alter von drei Monaten bis 14 Jahren sind bekannt, teilweise wurden sie von ihren eigenen Vätern missbraucht. Die Menge an sichergestellten Videos und Fotos umfasst nach aktuellem Stand 85 Terabyte.

Die Staatsanwaltschaft hat bisher sieben Anklagen erhoben. Das erste Urteil im Missbrauchskomplex hat das Landgericht Kleve gegen einen 27-jährigen Bundeswehrsoldaten gesprochen. Der Verurteilte Bastian S. muss für zehn Jahre in Haft und wird in die Psychiatrie eingewiesen. „Es ist wahrscheinlich, dass sich die Fallzahlen noch deutlich erhöhen werden“, sagte der Kölner Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer am Mittwoch auf einer Pressekonferenz mit Polizeipräsident Uwe Jacob und dem Leiter der Ermittlungskommission, Esser, in Köln.

Der Angeklagten Bastian S. während des Prozesses
Der Angeklagten Bastian S. während des Prozesses
Quelle: dpa/Roland Weihrauch

Die Staatsanwaltschaft prüft nun auch, ob ein bandenmäßiges Beschaffen von Missbrauchsabbildungen teilweise in Betracht kommen könnte. Dadurch würde sich der Strafrahmen erweitern. Es offenbare sich insgesamt „nicht nur ein Abgrund, der verstört, sondern ein Kriminalitätsphänomen, das wir zu Beginn der Ermittlungen in Umfang, Ausprägung und Intensität so nicht erwartet hätten“, sagte Bremer.

Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) hatte zuvor am Mittwochmorgen in einer Unterrichtung des Düsseldorfer Landtags große Versäumnisse der Sicherheitsbehörden und der Politik eingestanden. „Wir haben das Problem lange Zeit nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Auch mir war nicht bewusst, was für ein gesellschaftlicher Abgrund sich hier auftut“, sagte der Christdemokrat.

Beim Missbrauchsskandal in Lügde, der Anfang 2019 bekannt wurde, hatten Polizei und Jugendamt nicht konsequent auf Missbrauchshinweise reagiert. Zwei mittlerweile verurteilte Männer konnten auf einem Wohnwagencampingplatz jahrelang Kinder vergewaltigen. Dem Haupttäter wurde sogar ein Mädchen zur Pflege anvertraut. Reul sprach bereits früh von „Behördenversagen an allen Ecken und Kanten“. In der Unterrichtung des Parlaments betonte der Christdemokrat nun: „Durch Lügde konnten wir die Versäumnisse von Jahrzehnten aufarbeiten.“

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Die Ermittlung von Kindesmissbrauch ist ein kriminalpolizeilicher Schwerpunkt in NRW geworden. 30 Millionen Euro werden nach Reuls Angaben bis zum nächsten Jahr im Landeshaushalt bereitgestellt. Die Zahl von Ermittlern und Auswertern wurde aufgestockt, neue Technik angeschafft, und das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen übernimmt für alle 47 Kreispolizeibehörden Auswertung und Analyse von beschlagnahmtem Datenmaterial.

„Einblicke, die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen sprengen“

Die Menge der zu überprüfenden Fotos und Videos ist in Zahlen kaum noch zu fassen, doch Reul versuchte es mit einem Beispiel: In einem Fall wurden 26 Terabyte an Material gefunden, dies entspräche etwa 169 Millionen DIN-A4-Seiten oder 34.000 Aktenschränken. Im vergangenen Jahr hat die Polizei allein in NRW 2805 Missbrauchsfälle registriert, 380 mehr als ein Jahr zuvor, 84 Prozent konnten bisher aufgeklärt werden. Zahlreiche Fälle sind noch nicht abgeschlossen.

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Im Herbst 2019 kam die Polizei Köln einem Missbrauchskomplex auf die Spur, der den Schrecken von Lügde noch vergrößert. Die Polizei gründete eine „Besondere Aufbauorganisation“, so werden Sonderkommissionen in NRW bezeichnet, und nannte sie „Berg“. Damit bezog man sich auf den Wohnort des ersten identifizierten Tatverdächtigen Jörg L. aus Bergisch Gladbach, der inzwischen angeklagt ist und sich ab Mitte Juli vor dem Landgericht Köln verantworten muss. Der 43-jährige L. stand in engem Austausch mit dem verurteilten Bundeswehrsoldaten Bastian S. Mit den beschlagnahmten Daten von L. stießen die Ermittler nach und nach auf weitere Tatverdächtige sowie Tausende Chat-Teilnehmer, von denen noch nicht klar ist, ob sie sexualisierte Gewalt begangen haben.

Bei allen dürfte zumindest ein Anfangsverdacht wegen des Besitzes oder Verbreitens von Missbrauchsabbildungen vorliegen. „Wer hätte gedacht, dass wir in der gesellschaftlichen Mitte auf derartige sexuelle Gewalt mitten in Deutschland stoßen“, sagte Kölns Polizeipräsident Jacob bei der Pressekonferenz. Die Ermittler hätten „Einblicke gewonnen, die das Vorstellungsvermögen der meisten Menschen sprengen“.

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Die Belastungen für die Ermittler sind enorm, weil sie die Chat-Verläufe lesen und bewerten müssen. Dazu sind Computerprogramme und künstliche Intelligenz bisher nicht ausreichend in der Lage. Die Auswerter werden psychologisch unterstützt. Einige von ihnen haben die Arbeit dennoch nicht verkraftet und sind seit Längerem krankgeschrieben. Sie wollen „Kinderschänder“ ermitteln, wie Polizeipräsident Jacob sagt. Vor allem aber geht es ihnen darum, weiteren Missbrauch von Kindern zu verhindern.

So wie bei dem Einsatz in Baden-Württemberg. Nach dem Einsatz der Spezialeinheit sichteten unmittelbar angereiste Auswerter der Polizei Köln die Handys des Tatverdächtigen. Sie fanden einen Chat-Partner, der sich an einem dreimonatigen Baby verging. Der Mann wurde innerhalb weniger Stunden identifiziert und festgenommen.

NRW-Innenminister Reul – „Wir sehen immer noch nur die Spitze des Eisbergs“

In den Missbrauchsfällen auf dem Campingplatz von Lügde und in einem Einfamilienhaus in Bergisch-Gladbach verdichten sich Hinweise auf einen Zusammenhang: „Die Verbindungen sind nach aktuellem Stand verwandtschaftlich“, sagt Herbert Reul, Innenminister von NRW.

Quelle: WELT

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