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Muammar al-Gaddafi - wie ein Erzschurke sich zum Friedensbotschafter wandelt

Muammar al-Gaddafi galt als Erzschurke und skurriler Diktator im Beduinenzelt. Jetzt kehrt er mit Gedichten und Friedensbotschaften in die Zivilisation zurück

Es hat ihn einige Milliarden Dollar und mehrere Kotaus gekostet. Aber jetzt ist der dienstälteste Regierungschef Afrikas und des arabischsprachigen Raumes da, wo er nach vielen Irrungen und Wirrungen doch lieber wieder hinwollte. Der diplomatische Ritterschlag aus Washington macht aus dem libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi (63) endgültig ein voll rehabilitiertes Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft.

Danach sah es sehr lange nicht aus. Gaddafis Libyen galt vor allem in den 80er und Anfang der 90er Jahre als Synonym für weltweiten Terrorismus. La Belle, Lockerbie und Niger - Stichworte für Mord und Terror unter der Regie libyscher Geheimdienste. Gaddafi alimentierte weltweit Terroristen, die er Befreiungskämpfer nannte: Die Irisch-Republikanische Armee (IRA) ebenso wie die Muslimrebellen der Moro-Front auf den Philippinen oder die Sandinisten in Nicaragua. Aber auch die Anti-Apartheid-Bewegung von Nelson Mandela gehörte zu Gaddafis Schützlingen, was die etwas skurrile Freundschaft zwischen dem südafrikanischen Friedensnobelpreisträger und dem beduinischen Wirrkopf erklärt. Im Wüstenort Rabita wollte Gaddafi angeblich eine Giftgasfabrik bauen, ein "Auschwitz im Wüstensand", wie die "New York Times" aufgeregt titelte.

Der Sprengstoffanschlag auf die Berliner Diskothek "La Belle", bei dem am 5. April 1986 zwei Amerikaner und eine Türkin getötet und 230 Menschen verletzt wurden, ließ zehn Tage später US-Präsident Ronald Reagan Luftangriffe auf Tripolis und Bengasi anordnen. Die zweijährige Adoptivtochter des Revolutionsführers, Hana, starb im Bombenhagel auf Tripolis. Gaddafi selbst schlief in dieser Nacht - wie so häufig - in einem Beduinenzelt.

Spätestens nach den Attentaten auf ein amerikanisches Passagierflugzeug über dem schottischen Lockerbie 1988 (270 Tote) und auf eine französische DC10 über Niger ein Jahr später (171 Tote) war Gaddafi als vermuteter Drahtzieher ein Paria der internationalen Politik. Die folgenden UN-Sanktionen bremsten den verdächtigen Beduinensohn, der sich in seinen an Größenwahn grenzenden Ambitionen dereinst aufschwang, aus dem ölgesegneten Libyen einen islamischen Musterstaat zu machen.

Gaddafi ist verrückt, hieß und heißt es noch immer - auch und vor allem unter seinen arabischen Brüdern. "Bizarr" ist wohl das treffendere Adjektiv für den Mann, der sich mit einer Leibgarde schöner, schlagfertiger libyscher Soldatinnen umgibt und auf jeder Dienstreise sein Beduinenzelt mitführt, um im Garten des jeweiligen Gastgebers zu übernachten. Gern empfängt er hohe Staatsgäste in der Wüste und zelebriert beduinische Gastfreundschaft, gern aber läßt er sie auch im Vorzelt warten - den ehemaligen EU-Nahostgesandten und heutigen spanischen Außenminister Miguel Moratinos einmal zehn Stunden.

Am 1. September 1969 ließ ein bis dato weitgehend unbekannter 27 Jahre junger Hauptmann das libysche Volk über den Radiosender Benghasi wissen: "Im Namen von Freiheit, Sozialismus und arabischer Einheit - Die Revolution hat gesiegt." Ein unblutiger Putsch unter seiner Führung hatte kurz zuvor König Idriss al-Sanussi entmachtet, der ins türkische Exil ging. Der kraftvoll auftretende Soldat und studierte Historiker, Sproß einer Berberfamilie in der Nähe von Sirte, gab sich als glühender Nationalist und Anhänger des ägyptischen Präsidenten Gamal Abd al-Nasser. Er verfolgte eine klar formulierte, panarabische Vision und schmückte wegen seiner phantasievollen Uniformen aus der Werkstatt des Modedesigners Pierre Cardin die Titelseiten der Gazetten.

Doch der operettenhafte Paradiesvogel wechselte sehr bald ins ernste Fach. In seinem "Grünen Buch", einer Art politischer Marschrichtung zur Basisdemokratie libyschen Zuschnitts, verriet er seine Vorstellungen eines politischen Systems, das nicht wie in Europa unter dem "Deckmantel einer vorgetäuschten Demokratie die Diktatur einführen" sollte. Denn, so ist es im Grünen Buch, das so etwas wie ein Verfassungsersatz für Libyen darstellt, nachzulesen: "Die tyrannischsten Diktaturen, die die Welt gekannt hat, existieren im Schatten der Parlamente." Die ganze Macht müsse dem Volke gehören, weshalb er 1977 die sozialistische Volks-Dschamahiriya ausrief, was abgeleitet von dem Wort "Dschumhuriya" (Republik) so viel wie "Volksmassenstaat" bedeutet - eine neue arabische Wortschöpfung.

De facto aber landete Gaddafi letztlich bei der Diktatur, wenn auch mit einigen interessanten Sonderregelungen: Allen Einwohnern stehen Schulbildung, Gesundheitsfürsorge, Wohnungen und subventionierte Grundbedarfsartikel zu. Frauen dürfen ihre Berufe frei wählen und dienen in den Streitkräften. Es steht ihnen frei, Schleier oder Jeans zu tragen. Für die Heirat mit einer im Islam erlaubten Zweit- Dritt- oder Viertfrau muß die Erlaubnis der ersten Frau eingeholt werden. Die harten Strafbestimmungen des islamischen Rechts (Scharia) gelten nicht. Libyen ist dennoch ein Polizeistaat. Amnesty International prangert willkürliche Festnahmen, Folter und Hinrichtungen von Oppositionellen an.

Außenpolitisch verfolgte Gaddafi das Ziel, die arabisch-islamische Glaubensgemeinschaft (Umma) zu einen und selbst so etwas wie deren moderner Kalif zu werden. Doch die Bruderländer verfolgten egoistische Ziele, waren weniger an seinen Visionen als an seinen Petrodollar interessiert. Ägypten lehnte 1972 die fast verzweifelten Offerten Gaddafis dankend ab, Syrien 1970 und 1980, Tunesien 1974, Marokko 1984, der Sudan 1969 und 1985, der Tschad 1981.

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Enttäuscht wandte sich Gaddafi einem anderen Ziel zu: Der Einigung und Erstarkung des afrikanischen Kontinents von Tripolis bis zum Kap der Guten Hoffnung - im Idealfall ebenfalls unter seiner Ägide. Aber auch dieses Projekt zeitigte nicht den gewünschten Erfolg, weshalb er in den vergangenen Jahren verstärkt versöhnliche Signale an den Westen aussandte.

Das letztlich ausschlaggebende Moment seiner mindestens äußerlichen Läuterung war seine Generalbeichte vor drei Jahren, auf Massenvernichtungswaffen zu verzichten und alle diesbezüglichen Programme einzustellen. Dieses Bekenntnis markierte den Abschluß einer beachtlichen Metamorphose. Der selbstherrliche Revolutionsführer gab auf - weil sein marodes und von jahrelangen Sanktionen gebeuteltes Land zu einer technologischen Hochleistung wie dem Bau von Atomwaffen nicht in der Lage war oder weil er nicht das Schicksal seines diktatorischen Pendants im Irak teilen wollte.

Schon vor seiner Beichte hatte "Bruder Oberst" die beiden Verdächtigen des Lockerbie-Attentates ausgeliefert, damit sie in den Niederlanden vor ein schottisches Gericht gestellt werden konnten. Er zahlte hohe Entschädigungssummen an die Hinterbliebenen der beiden Flugzeugabstürze von Lockerbie und Niger. Er vermittelte in Geiselnahmen, etwa im Jahr 2000, als die deutsche Familie Wallert durch libysches Krisenmanagement - und mutmaßlich 25 Millionen libysche Petrodollar - aus der Hand muslimischer Rebellen auf der philippinischen Insel Jolo befreit werden konnte.

Es mag bei der beschleunigten Rehabilitierung des ehemaligen Schurkenstaates zudem hilfreich gewesen sein, daß dieser über die achtgrößten Ölvorkommen der Welt sowie eine vollkommen marode Fördertechnik verfügt. Vor allem US-Amerikaner und Europäer stehen Schlange, um Verträge über die Förderung und Erschließung der riesigen Öl- und Gas-Ressourcen Libyens abzuschließen. Ölmultis wie ConocoPhilipps und Marathon Oil, die Oasis Gruppe und Amerada Hess wollen das lukrative Geschäft in der libyschen Wüste wieder aufnehmen, nachdem sie 1986 das Land verlassen mußten.

Vielleicht findet Muammar al-Gaddafi jetzt ja sogar einen Verleger für seine belletristischen und pseudo-philosophischen Werke. Denn weniger bekannt ist, daß der Mann aus Tripolis auch dichtet. 1995 legte er sein Erstlingswerk vor mit dem vielsagenden Titel: "Das Dorf, das Dorf, die Erde, die Erde und der Selbstmord des Astronauten." In dem dünnen Bändchen finden sich zwölf Essays über das sozial entwurzelte Leben in der Großstadt, die Größe der göttlichen Schöpfung und die Tyrannei der Massen, die dazu neigen, ihre Führer in die Wüste zu schicken.

Der selbsternannte Romantiker sinnierte in einem weiteren Machwerk nicht mehr über das plagvolle Diesseits, sondern widmete sein poetisches Augenmerk dem Tode. Die Frage, ob der Tod männlichen oder weiblichen Geschlechts sei, bewegt Gaddafi besonders. Der Tod sei "wild und kühn, aber auch listenreich und feige", schreibt er. Seine Macht liege in der "teuflischen Fähigkeit, die Kraft all der Speere und Pfeile, die ihn treffen, zu verringern - und sie liegt in seinem teuflischen Blutdurst", teilt Oberst Gaddafi seinen Lesern mit. Und: "Der Tod ist das Ende aller Freuden. Ihm liegt nichts an friedlicher Koexistenz." Vor allem aber sei der Tod weiblich, weil sein eigener Vater sich ihm "kampflos" ergeben habe.

"Wie wunderbar ist das Dorf. Verlaßt schnell die Stadt, den Friedhof der sozialen Bindung", schrieb Gaddafi in seinem kleinen Gedichtband. Der ehemalige Schrecken der freien Welt übt sich in Altersmilde und offenbart, was er eigentlich von Anfang an war und bis heute geblieben ist: ein Sohn der Wüste.

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