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Die gefälschte Hitparade - WELT
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Die gefälschte Hitparade

Redakteur Feuilleton
Ein Produzent soll massenhaft CDs seiner Sängerin gekauft haben, um ihren Marktwert zu steigern

Am 31. Januar 2005 wurde die Single "Run & Hide" an sämtliche Elektromärkte ausgeliefert und in die CD-Regale einsortiert. Nach einer Woche fand der Titel sich schon auf Rang 20 in den Hitparaden wieder. Für die 22-jährige Gracia Baur ein erstaunlicher Erfolg. 2003 war sie beim Fernsehcasting "Deutschland sucht den Superstar" an Alexander Klaws und Daniel Küblböck gescheitert, auch wenn die Juroren ihr tatsächliches Talent bescheinigten. Sie nahm ein Album auf, das nicht gut lief. Dann spielte sie mit David Brandes, einem Schweizer Produzenten, "Run & Hide" ein. Ein beherztes Stückchen sogenannten Power-Pops. Und offenbar verkaufte sich die Single stürmisch.

Weil das Werk also unter den besten 40 in die Charts kam, Stichtag war der 8. Februar, durfte sich Gracia noch um die Teilnahme zum Eurovision Song Contest bewerben. Sie gewann den Vorausscheid des NDR. Nun wird sie "Run & Hide" im Mai in Kiew beim Grand Prix vortragen. Ihre Single allerdings stürzte zuvor bedenklich in der Hitparade ab. Schon Anfang März verschwand sie aus den Charts, kam nach dem Auftritt wieder, um in dieser Woche ganz daraus verbannt zu werden. Der Bundesverband der phonographischen Wirtschaft, der die Charts ermitteln läßt, hat Gracia hinausgeworfen: Ihre Plattenfirma Bros Music des Produzenten David Brandes wird verdächtigst, auf massive Weise Singles aufgekauft zu haben. Ende März bereits waren Enthüller für Sat 1 und dessen Magazin "Akte 05" bei einigen CD-Händlern auf auffällige Kassenquittungen gestoßen. Die Belege hatten sie Thomas M. Stein gezeigt, dem einstmals mächtigsten Musikmanager Deutschlands, der den Manipulationsverdacht bestätigte. Ein Mann gestand, in Brandes' Auftrag wöchentlich ein paar hundert CDs gekauft zu haben. Deutschlandweit. Nicht nur von Gracia, auch von Brandes' Schützlingen Vanilla Ninja und Virus Incorporation. Hits der Gruppen wurden gleichfalls suspendiert vom Phonoverband und den Chartermittlern Media Control. Karl Heinz Kögel, Geschäftsführer bei Media Control, spricht von mafiosen Strukturen. Hartmut Spiesecke vom Phonoverband erklärt bekümmert, es gehe um den guten Ruf der Hitparaden.

Charts sind immer noch die beste Werbeplattform der Musikwirtschaft. Wer oben steht, braucht keine künstlerischen Argumente. Insbesondere gilt das für den Gruppendruck um Teenageridole wie die Mädchenband Vanilla Ninja. David Brandes wurde fündig auf dem Billiglohnmarkt Estlands. Sein Quartett wurde mit "When the Indians Cry" vom Schweizer Fernsehen ebenfalls für Kiew nominiert. In Deutschland lag Vanilla Ninja mit "I Know" zuletzt auf Platz 23.

Allerdings sind auch die Hitparaden nicht mehr, was sie einmal waren. Die betrüblichen Verkaufszahlen der andauernden Branchenkrise haben keinem Markt so zugesetzt wie dem der Singles. Eine Einkaufstüte halbvoll mit CDs berechtigt nun bereits zum Einstieg in die Charts. Auch wenn die großen Plattenfirmen über wahre Zahlen äußerst ungern Auskunft geben: Schon mit ein paar Tausend Singles, die über den Kassenscanner schweben, läßt sich in den wechselhaften Hitparaden-Wochen schon einmal ein Nummer-eins-Hit landen. Das lädt geradezu zu Hamsterrückkäufen durch Produzenten ein. Die Praxis ist kaum jünger als die Plattenindustrie. Allein die lautstarke Vertreibung aus dem Paradies der Charts ist neu. Die deutsche Phonoindustrie will ihre Hitparaden wieder ernst genommen wissen.

In der großen Zeit der Singles, in den fünfziger und sechziger Jahren, galten Aufkäufe als offenes Geheimnis. Hitfabriken in Amerika wie Motown oder Stax wurde ein wahrer Kaufrausch nachgesagt. Brian Epstein soll als Manager der Beatles emsig die Verkaufszahlen auf diese Art frisiert und Hits befördert haben. Das war so geläufig, daß sich harte Zahlen eher als Popmythen erweisen. Sogar beim berüchtigten Payola, dem Bestechen aufgeschlossener Radio-DJ, kam es selten zu tatsächlichen Skandalen. 1960 wurde der beliebte DJ Alan Freed verurteilt für "Beraterhonorare" einer Plattenfirma. Noch vor einem Jahr wurde die einflußreichste HipHop-Firma Def Jam deswegen verklagt. Und seit Oktober sieht sich der New Yorker Generalstaatsanwalt Eliot Spitzer Unterlagen der vier Großkonzerne mit gesteigertem Interesse an, um mutmaßlich grassierendes Payola zu beenden. Auch CD-Aufkäufen will sich Spitzer widmen. Sisyphos im Popgewerbe.

1980 wurde "Breaking Glass" gedreht. Ein legendärer Spielfilm über eine hoffnungsvolle Sängerin und ihren Manager, der weniger mit redlichem Betreuen seine Zeit zubringt als mit dem Aufkaufen der eigenen Platten. So erzählt der Film darüber, daß es selbst den Punk als industriefeindlichen Trend niemals gegeben hätte ohne zweifelhafte Manager. In Deutschland gab es vor drei Jahren etwas Aufregung um Jeannette Biedermann. Die Seifenoper-Heldin strebte damals gerade ins ein wenig anspruchsvollere Fach des singenden Popstars. Aus einem Berliner Tonträgergeschäft wurden an einem Tag angeblich unglaubwürdige Verkaufszahlen für ihr Debüt gemeldet. Glimpflich ging es aus, weil sich die Chartermittler nicht erschrecken ließen. Seit den frühen Neunzigern basieren Hitparaden nicht mehr auf den Nennungen der Händler, sondern werden an 2 000 Kassen deutschlandweit exakt erhoben. Unerwartet massenhafte Plattenkäufe werden schlichtweg als nicht lauter ignoriert. So mußte Jeanette Biedermann mit einer realistischen Plazierung leben. Das Skandälchen, ein fast untrügliches Chartsystem und die Gelassenheit der Ordnungshüter damals zeigen auch: Wie David Brandes dem Verdacht nach nun für Gracia und Vanilla Ninja sorgen wollte, ist für jemanden, der an ein frommes Popgewerbe glaubt, erschütternd, kommt aber vermutlich selbst in Deutschland vor. Dazu sagt Gracia heute: "Mein Produzent wird zum Bauernopfer gemacht. Fast jeder in der Branche kauft eigene Platten - wer nicht, ist dumm." Ihr Produzent gibt zu, zur "Distributionsprüfung" Singles aufgekauft zu haben. Brandes inszeniert sich mit der kleinen Firma Bros Music als Schweizer David, der vom Goliath des deutschen Industrieverbandes rachsüchtig von seinen Chartplätzen verjagt wird. Und beklagt das Los seiner begabten Künstler.

Wenn es nach dem NDR geht und dem Song-Contest-Befugten Jürgen Meier-Beer, wird Gracia in Kiew für Europa singen. Zwar stehe Teilnahme unter dringenden Verdacht der Manipulation. Doch schließlich habe hier das Volk votiert. "Es ist nicht erkennbar, warum die Zuschauerentscheidung hätte anders ausfallen sollen, wäre Gracia ohne Chartplazierung angemeldet worden", meint Meier-Beer. Als Gracia in Berlin ihr "Run & Hide" für den Grand Prix gesungen hatte, schoß die Single wieder in die Charts. Das ging dann wohl mit rechten Dingen zu. Die Deutschen eilten in die Läden, griffen die CD, bezahlten sie am Tresen und die Kassen meldeten es an die Hitparade.

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