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Anwälte, die Sprengstoff zu Terroristen trugen

Leitender Redakteur Geschichte
Sie transportierten Waffen und Informationen für ihre Mandanten: Ein neues Buch redet die Rolle der RAF-Verteidiger in den Siebziger- und Achtzigerjahren schön. An Selbstkritik mangelt es weiter.

Jeder Angeklagte hat Anspruch auf einen selbst gewählten Verteidiger – das gehört zu den Grundsätzen jedes Rechtsstaates. Doch der Anwalt ist stets in einer schwierigen Position: Einerseits muss er die Interessen seines Mandanten vertreten, andererseits ist er als "Organ der Rechtspflege" verpflichtet, nicht gegen Gesetze zu verstoßen. Was schon bei normalen Strafverfahren häufig schwierig ist, erwies sich in den Terroristenprozessen der Siebziger- und Achtzigerjahre als unlösbares Dilemma.

Obwohl die Anwälte der RAF-Mitglieder für die Propaganda und damit für das öffentliche Bild der Terrorgruppe eine entscheidende Rolle spielten, ist die Geschichte ihrer Verstrickung bis heute nicht angemessen aufgearbeitet. Im Gegenteil: Gleich mehrere Rechtsanwälte, die als Verteidiger in RAF-Prozessen ihre ersten Meriten verdient hatten, sind in den vergangenen Jahrzehnten bis in hohe Staatsämter aufgestiegen, wurden etwa Bundesminister oder stellvertretende Ministerpräsidenten. Mit Christian Ströbele amtiert einer von ihnen bis heute als Bundestagsabgeordneter.

Eine rechtswissenschaftliche Dissertation, eingereicht an der Universität Hannover, untersucht jetzt die Rolle der "Verteidiger in den Strafprozessen gegen die Rote Armee Fraktion". Der Autor Andreas Mehlich nimmt darin die "Politische Justiz und politische Strafverteidigung im Lichte der Freiheit der Advokatur" in den Blick. Allerdings geht dieses Buch höchstens den halben Weg, der nötig wäre, um die Rolle von Terroristenverteidigern im Rechtsstaat aufzuklären.

Man nannte sie „Linksanwälte”

Zeitweise gab es mehr als ein Dutzend RAF-Anwälte, die zum Teil deutlich die Grenze zwischen zulässiger Verteidigung und illegaler Unterstützung überschritten. In der liberalen Öffentlichkeit kursierte für sie die halb scherzhaft, halb zynisch gemeinte Bezeichnung "Linksanwälte". Unter ihnen waren nämlich viele, die immer wieder und mit vollem Bewusstsein aus ihrer Ansicht nach politischen Gründen zu Unterstützern, teilweise zu Mittätern der Terroristen wurden.

Wichtig war für die inhaftierten RAF-Mitglieder stets ein eigenes, also unkontrolliertes Informationsnetz. Schon von Sommer 1972 an schmuggelten Verteidiger regelmäßig Kassiber aus den Zellen, und ab 1973 bauten Mitarbeiter der beiden wichtigsten RAF-Kanzleien in Stuttgart und Hamburg ein regelrechtes Netzwerk auf. Getarnt als "Verteidigerpost" kursierten so teilweise viele Seiten lange Botschaften unter den Gefangenen. Für besonders vertrauliche Nachrichten verwendeten Baader und Ensslin auf Transparentpapier geschriebene Notizen, die Anwälte in ihrer Unterwäsche transportierten. Angeblich sollen manche Verteidiger brisante Befehle des RAF-Chefs direkt und mündlich weitergegeben haben, doch das konnte naturgemäß nie bewiesen werden.

Sprengstoff für den Hochsicherheitstrakt

Jede Form dieser Kommunikation war illegal, denn Untersuchungshäftlingen in derselben Sache ist der Austausch von Informationen untereinander verboten. Für die Organisation des so genannten Info-Systems zu Haftstrafen verurteilt wurden die RAF-Anwälte Klaus Croissant (zweieinhalb Jahre), Kurt Groenewold (zwei Jahre auf Bewährung) und Hans-Christian Ströbele (zehn Monate auf Bewährung).

Croissants Stuttgarter Kanzlei war zudem eine Anwerbezentrale für RAF-Nachwuchs: Mindestens fünf seiner ehemaligen Mitarbeiter beteiligten sich direkt an mörderischen Attentaten. Ein halbes Dutzend weitere gingen 1977 oder später in den Untergrund, um den "Kampf gegen den Staat" zu unterstützen.

Mindestens ein RAF-Anwalt transportierte Waffen und Sprengstoff in den vermeintlichen Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stammheim. Arndt Müller nutzte dazu ein von RAF-Sympathisanten ausgetüfteltes Schmuggel-Verfahren, das auf manipulierten Verteidiger-Akten und unauffälligen Austauschaktionen im Gerichtssaal oder den Besucherzellen beruhte.

Drei Pistolen in Stammheim

Da Verteidiger-Akten vertraulich waren und nicht genau kontrolliert werden durften, waren sie ideale "Container" für alles, was sich darin verstecken ließ. Drei Pistolen, aber auch eine Kamera, ein Toaster und ein Radio gelangten auf diese Weise in die Stammheimer Zellen. Vor Gericht behauptete Müller später, er habe nicht gewusst, dass er Waffen transportierte.

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Einige Verteidiger wuchsen in den aktiven Kern der Terrorgruppe hinein und standen sogar zeitweise an der Spitze ihrer informellen Hierarchie. Horst Mahler, der Andreas Baader 1968/69 im Prozess wegen der Kaufhaus-Brandstiftung vertreten hatte, gehörte im Frühjahr 1970 zum Gründungskreis der RAF.

Baaders Wahlverteidiger Eberhard Becker tauchte im Herbst 1973 ab, obwohl er Frau und zwei kleine Kinder hatte. Schon nach wenigen Monaten wurde er in einer konspirativen Wohnung festgenommen, in der auch zahlreiche Waffen, Sprengstoff und Befreiungspläne für die inhaftierten Terroristen gefunden wurden. Becker bekam wegen Unterstützung der RAF viereinhalb Jahre Haft.

Codierte Hinweise auf Anschlagsziele

Noch tiefer verstrickte sich Siegfried Haag, unmittelbar nach seiner Zulassung als Rechtsanwalt 1973 bis 1975 Baaders Verteidiger: Er ging in den Untergrund, nachdem er Waffen für die Besetzung der deutschen Botschaft in Stockholm besorgt hatte und deshalb kurzzeitig festgenommen worden war. Seinen Schritt begründete er, ganz Rechtsanwalt, in einer Erklärung, in der es hieß: "In einem Staat, der Verteidiger mit dem gesamten Arsenal der psychologischen Kriegsführung durch die Massenmedien in Hetzkampagnen diffamiert", könne er nicht mehr länger als Anwalt arbeiten.

Fortan organisierte Haag die "zweite Generation" der RAF, baute eine komplett neue Struktur auf und bereitete die großen Anschläge des Jahrs 1977 vor. Als er im November 1976 zufällig festgenommen wurde, fanden die Ermittler bei ihm codierte Hinweise auf die geplanten Anschlagsziele Siegfried Buback und Hanns Martin Schleyer. Haag weigerte sich zu kooperieren – so konnten die Behörden die beiden Verbrechen mit insgesamt acht Toten nicht verhindern.

These von der „politischen Justiz”

In Mehlichs Buch allerdings ist von solchen Aktivitäten von Rechtsanwälten für RAF-Mitglieder wenig bis nichts zu lesen. Er beschränkt sich ganz auf das Verhalten der Verteidiger innerhalb der Prozesse, vor allem auf ihre zahlreichen Beweis- und Befangenheitsanträge, mit denen sie die Verfahren oft belasteten und in die Länge zogen.

Immerhin stellt der Autor fest: "Die Verteidigungsführung der RAF-Verteidiger ist in Bezug auf die Antragstellung in Teilen rechtsmissbräuchlich." Allerdings sei damit noch keine Aussage über die Zulässigkeit der von den Anwälten eingeschlagenen politischen Verteidigungslinie verbunden.

Das ist der Kerngedanke der Dissertation: Bei den Verfahren gegen die Linksterroristen habe es sich um "politische Justiz" gehandelt. Mehlich führt elf Kriterien an, die für diese Einschätzung sprechen sollen. Dazu zählt er zum Beispiel, dass der Gesetzgeber neue Vorschriften erließ oder bestehende Gesetze so ausgestaltete, dass die "Integrität des Staates seine Institutionen und der Grundordnung unter den Schutz einer strafbewährten Norm gestellt" wurden. Ein weiteres Kriterium soll die Anwendung "weit gefasster, stark auslegungsbedürftiger Tatbestandsmerkmale" sein.

„Prozesserklärungen unterbunden”

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Fast komisch angesichts der Wirklichkeit in den RAF-Prozessen erscheint das Kriterium, dass die Verteidigertätigkeit beschränkt worden sei, indem unter anderem der "Zugang zu Mandanten erschwert"," gestellte Beweisanträge fortgesetzt abgelehnt" und "Prozesserklärungen unterbunden" worden seien.

Gar nicht mehr lustig ist hingegen das zehnte Kriterium für angeblich politische Justiz: "Das Strafverfahren ist insgesamt an Interessen der Machtinhaber ausgerichtet, die es als Mittel im Kampf um politische Macht betrachten, damit politisch unwillkommene Erscheinungen bekämpft werden können." Von einer juristischen Doktorarbeit hätte man sich doch die Differenzierung gewünscht, dass die "Machtinhaber" demokratisch legitimierte Politiker waren, die "politisch unwillkommenen Erscheinungen" dagegen Mord, Geiselnahmen und andere Schwerstverbrechen im Namen einer rücksichtslosen Ideologie.

Das Gesetz des Schweigens

Deshalb ist Mehlichs Buch eine vertane Chance. Notwendig wäre nämlich die – vor allem selbstkritische – Aufarbeitung durch die ehemaligen RAF-Verteidiger. Doch nicht einmal Otto Schily, intellektuell sicher der herausragende Jurist im Stammheimer Prozess und im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen offenbar nicht verwickelt in strafrechtlich relevante Unterstützung von inhaftierten Terroristen, äußert sich dazu nicht – obwohl er jahrelang als Bundesinnenminister konsequent islamistische Terroristen verfolgen ließ.

Mit einer ernsthaften Aufklärung der Rolle der "Linksanwälte" ist bis auf weiteres wohl nicht zu rechnen. Für sie gilt anscheinend ebenso das Gesetz des Schweigens, die "Omertà", wie für ihre ehemaligen Mandanten. Diese Leerstelle in der bundesrepublikanischen Geschichte bleibt.

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