(Translated by https://www.hiragana.jp/)
Ägypten: Brutale Vergewaltigungen im Schatten des Tahrir - WELT
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Ägypten: Brutale Vergewaltigungen im Schatten des Tahrir

Ausland Ägypten

Brutale Vergewaltigungen im Schatten des Tahrir

Ein Mann protestiert auf dem Tahrir-Platz gegen sexuelle Übergriffe Ein Mann protestiert auf dem Tahrir-Platz gegen sexuelle Übergriffe
Ein Mann protestiert auf dem Tahrir-Platz gegen sexuelle Übergriffe
Quelle: Getty Images/MA/mb
Der Tahrir-Platz in Kairo, einst ein Ort, der für Frieden stand, ist für Frauen zum Ort des Grauens geworden. Sexuelle Übergriffe sind alltäglich. Oppostionelle sehen dahinter eine perfide Strategie.

„Wir müssen unsere Frauen schützen“, sagt Sharif, rückt die schwarz umrandete Brille zurecht und kneift die Augen zusammen. „Sonst haben wir die Revolution endgültig verloren.“ Sharif, ein schlaksiger Mittzwanziger, steht vor einem unverputzten Bürogebäude im Kairoer Stadtteil Garden City und zieht hastig an seiner Zigarette, seine Stimme zittert.

„Einst war der Tahrir-Platz ein Symbol des Friedens“, sagt er. „Nun ist er ein Ort des Grauens.“ Und dann erzählt der Student von den organisierten Vergewaltigungen im Zentrum von Ägyptens Hauptstadt, die immer häufiger und immer brutaler werden, von der Gewalt, die sich in immer größerer Maßlosigkeit gegen die weiblichen Demonstranten richtet.

In der Tat: Der Tahrir-Platz, auf dem Protestler vor knapp anderthalb Jahren den damaligen Präsidenten Husni Mubarak stürzten, wird für Frauen immer gefährlicher. Allein am 25. Januar, dem zweiten Jahrestag der Revolution, sind laut ägyptischen Menschenrechtsorganisationen mindestens 25 Frauen auf dem Tahrir-Platz angegriffen worden.

Selbsthilfeorganisation gegen sexuelle Gewalt

Wie viele genau Opfer der teils extrem brutalen Übergriffe wurden, weiß niemand. Männer haben die Frauen, so heißt es, von der Menge isoliert und ihnen die Kleider vom Leib gerissen. Eine 19-Jährige, die in eine Seitenstraße gezerrt, ausgezogen und mit einem Messer vergewaltigt wurde, liegt noch immer mit schweren Schnittwunden im Genitalbereich im Krankenhaus.

Auch deshalb ist Sharif an diesem Mittwochabend nach Garden City gekommen. Er möchte zumindest versuchen, den Frauen zu helfen, es sei, sagt er, eben seine Pflicht.

Und so ist er wieder einmal, wie rund 200 weitere Aktivisten, der wöchentlichen Einladung der im November gegründeten Selbsthilfeorganisation Operation Anti-Sexual Harassment (OpAntiSH) gefolgt: Es soll über persönliche Erfahrungen gesprochen werden, aber auch, und vor allem, so die Organisatoren, über konkrete Maßnahmen, um die Frauen in Zukunft besser zu schützen.

„Wir alle waren auf dem Tahrir-Platz, wir alle haben Freundinnen, die begrapscht oder gar von dem Mob vergewaltigt wurden“, sagt die Sprecherin von OpAntiSH, Salma Eltarzi. „Was auch immer hier gerade passiert: Wir müssen uns dagegen wehren.“

Oppositionelle verdächtigen Muslimbrüder

Und da sind sie, junge Männer und Frauen in Röhrenjeans und mit Kastenbrillen. Sie sitzen im Schneidersitz auf dem blauen Teppich, stehen dicht an dicht an der weiß getünchten Wand. Das Neonlicht erzeugt Kantinenstimmung, es ist stickig. Ein stämmiger Mann mit Bart, nennen wir ihn Mohammed, ergreift das Wort.

Mit dunkler Stimme erzählt er davon, welche elementare Rolle die Frauen noch während der ersten Protestwelle spielten, wie sie dann aber, nach dem Rücktritt Mubaraks, schnell wieder an ihren gewohnten untergeordneten Platz in der Gesellschaft zurückkehren sollten. Und das, so Mohammed, mit aller Gewalt.

Anzeige

Immerhin: Nicht wenige Oppositionelle behaupten, dass Militär und Muslimbrüder hinter den Attacken gegen die Frauen stecken, zu gezielt, sagen sie, griffen die Täter auf dem Tahrir-Platz zu, zu schnell organisiere sich der Mob, oft bis zu 200 Männer an bestimmten Orten, um die Frauen innerhalb weniger Minuten in ein Zelt zu zerren, um dann im Minutentakt nacheinander über sie herzufallen.

„Vergewaltigungsecken“ nennen die Aktivisten die zwei Stellen auf dem Tahrir-Platz, wo es beinahe jeden Abend zu sexuellen Übergriffen kommt. Viele Aktivisten sind überzeugt davon, dass der Staat die Attacken organisiert, als Abschreckungsmaßnahme, um die Frauen, wie sie sagen, aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen. Um die Frauen wieder unsichtbar zu machen.

Angreifer reißen Journalistinnen Kleider vom Leib

Das ist in Ägypten natürlich kein neues Phänomen. Auch wenn die Regierung dieses Thema lange tabuisiert hat: In Ägypten gehören sexuelle Übergriffe auf Frauen – auch auf ausländische – zum Alltag. In den internationalen Fokus geriet das Thema zunächst vor zwei Jahren bei den Aufständen gegen den damaligen Präsidenten Husni Mubarak.

Am 11. Februar 2011, als die Ägypter Mubaraks Rücktritt auf dem Tahrir-Platz feierten, umzingelten etwa 250 Männer die südafrikanische Kriegsreporterin Lara Logan, stürzten sich auf sie und vergewaltigten sie „mit ihren Händen“, wie Logan später zu Protokoll gab. Ähnliches widerfuhr der ägyptisch-amerikanischen Journalistin Mona el-Tahawy, die von Polizisten festgenommen und sexuell missbraucht wurde.

Sie konstatierte später auf Twitter: „Fünf oder sechs umzingelten mich, betatschten meine Brüste und meinen Intimbereich. Ich habe den Überblick darüber verloren, wie viele Hände in meine Hose wollten.“

Die französische Reporterin Caroline Sinz berichtete im November 2011, sie sei von einer Gruppe Jugendlicher und Erwachsener verprügelt worden. Die Angreifer hätten ihr die Kleider vom Leib gerissen und sie in einer Art und Weise sexuell belästigt, die einer Vergewaltigung gleichkomme.

„Vergewaltigung ist fast zum Trend geworden“

Für weltweite Empörung sorgten auch die „Jungfrauentests“ an ägyptischen Demonstrantinnen, bei denen Ärzte unter Androhung oder Anwendung von Gewalt festgestellt haben, ob die Frauen noch Jungfrauen seien.

Anzeige

Und doch: Waren es kurz nach der Revolution noch eher vereinzelte Übergriffe, die für kurzzeitige Empörung sorgten, ist es seit einigen Monaten vor allem die Häufigkeit, die die Aktivisten aufschreckt. „Eine Frau zu vergewaltigen ist fast zum Trend geworden“, sagt Salma Eltarzi. „Heute kann man nicht mehr sagen, zu welcher Gruppe die Täter gehören. Es gibt mittlerweile zu viele Trittbrettfahrer.“

„Die Lage ist unübersichtlicher geworden. Das macht es für uns schwerer“, sagt Mohammed nun und lässt den Blick durch den Raum schweifen. Eine junge Frau, kurze Haare, Kapuzenpulli, hebt den Arm. „Wie gehen wir jetzt vor?“, fragt sie. „Wir müssen noch präsenter sein“, sagt Mohammed. „Ab jetzt werden wir jeden Tag vor Ort sein.“

Aktivisten patrouillieren zum Schutz der Frauen

Bislang haben die Aktivisten an einzelnen Tagen auf dem Tahrir-Platz patrouilliert, um Frauen zu warnen, aus der Gefahr zu befreien, sie in Sicherheit zu bringen, zumeist an Freitagen, nach dem Mittagsgebet. Denn dann sind die Proteste am schlimmsten, die Lage am schwersten zu kontrollieren.

Aufgeteilt in Gruppen mit bis zu 15 Personen warten dann rund 100 Aktivisten von Operation Anti-Sexual Harassment, aber auch von anderen Organisationen, der Gruppe Tahrir Bodyguard etwa oder der Egyptian Initiative for Personal Rights meistens an der Kreuzung der Qasr-Al-Ainy und Mohammed Mahmoud Straße.

Sie stehen an den Orten, an denen sich die meisten Krawallmacher herumtreiben und von denen ein Netz aus schmalen, dunklen Seitengassen abgeht. Wenn sie sehen, dass eine Frau eingekreist wird, versuchen sie sie rechtzeitig rauszuziehen, meistens aber, so sagen sie, da bleibe ihnen nicht viel mehr, als die schon splitternackte Frau in ein Schutzzelt zu bringen, ihr Kleidung und Tee zu geben und sie dann in ein Krankenhaus zu fahren. Oft, sagen sie, gerieten sie selbst in Gefahr, würden angegriffen, manchmal bis nach Hause verfolgt.

„Übergriffe haben längst politische Dimension“

„Mit der Bedrohung müssen wir leben“, sagt Sharif. „Die Polizei hilft uns nicht.“ Sharif hockt mit anderen Aktivisten auf dem Treppenabsatz vor dem Hauseingang, es ist dunkel geworden, ein kühler Januarwind weht. Er hat nur eine kurze Pause, dann geht es für ihn und die anderen weiter.

In kleinen Gruppen werden sie die Details ihrer weiteren Arbeit besprechen, die Einrichtung einer Telefonhotline für Betroffene etwa, die Frage, an welche Therapeuten sie die misshandelten Frauen vermitteln wollen und wie sie an Spenden kommen.

„Die Übergriffe“, sagt Sharif, „haben längst eine politische Dimension erreicht. Es geht um die Stellung der Frau im öffentlichen Raum.“ Sharifs Freund Ahmed nickt. „Es geht hier um einen fundamentalen Wandel. Welche Rolle werden die Frauen künftig in der ägyptischen Öffentlichkeit spielen?“

Übergriffe längst lästiger Alltag

Tatsächlich sind Pfiffe, Grapschereien und andere Formen von sexueller Belästigung für viele Ägypterinnen lästiger Teil des Alltags. Einer Studie der Universität Kairo zufolge sind 75 Prozent der ägyptischen Frauen schon einmal sexuell belästigt worden – egal ob sie verschleiert sind oder nicht. Auch Vergewaltigungen sind keine Seltenheit.

Über 20.000 Fälle pro Jahr dokumentiert der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen. Vor allem an Feiertagen häufen sich die Übergriffe, weil etliche junge Männer dann Zeit haben und in den Straßen herumlungern. Viele junge Frauen gehen an diesen Tagen nicht vor die Tür, zu hoch scheint das Risiko. Auch weil sie wissen, dass die Polizei in der Regel wegschaut.

„Mursis Leute haben uns den Tahrir genommen“

Doch der Widerstand in der Bevölkerung wächst. Aus Protest gegen die anhaltenden Belästigungen und Übergriffe sind etliche Ägypterinnen bereits mehrfach auf die Straße gegangen, haben Menschenketten organisiert, diverse Online-Kampagnen gestartet.

Unter #EndSH werden Übergriffe auf Twitter diskutiert. Auf der Internetseite harassmap.org können Frauen im ganzen Land per SMS, Mail oder Tweet melden, wo sie belästigt werden. Für den Großraum Alexandria wurden bislang 51 Fälle gemeldet. Für das Stadtzentrum von Kairo 769 Übergriffe. In den letzten Tagen kommen fast alle Meldungen vom Tahrir-Platz.

Sharif steht in einer Ecke, zieht an seiner Zigarette, bläst den Rauch in die Luft. Immer mehr Leute strömen an ihm vorbei in die Dunkelheit, das Treffen ist für heute vorbei. „Wir wollen wenigstens ein paar Frauen helfen“, sagt er. „Auch wenn wir wissen, dass wir nicht alle retten können.“ Eine junge Frau mit Kopftuch neben ihm nickt, ihre Augen werden schmal. „Mursis Leute haben uns den Tahrir-Platz genommen“, sagt sie. „Unsere Würde nehmen sie uns nicht.“

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema